- Bald eine braune EP-Fraktion?
Eurokrise, Sparkurs und Jugendarbeitslosigkeit bescheren den Rechtsextremen in vielen EU-Ländern Zulauf. Im Europäischen Parlament versuchen die Radikalen seit langem, eine gemeinsame Fraktion zu gründen. Martin Langebach und Andreas Speit beschreiben diese Versuche in ihrem neuen Buch „Europas radikale Rechte”. Ein Vorabdruck
Gleich nach der Europawahl gründeten die UK Independence Party (UKIP) und die Lega Nord die Fraktion Europa der Freiheit und der Demokratie (EFD). Der Name der Fraktion mag irritieren, doch in der radikalen Rechten werden Begriffe gern mit ganz anderen Inhalten neu aufgeladen. „Die Europa-Feinde inszenieren sich als (…) Widerstandskämpfer gegen den ›totalitären Superstaat‹ EU“, schreibt Schulz 2009 im Sammelband Strategien der extremen Rechten, herausgegeben von Stephan Braun, Alexander Geisler und Martin Gerster. Und der Präsident des Europäischen Parlaments führt weiter aus, dass dem vermeintlichen „Völkergefängnis EU“ ein „Europa der Vaterländer”, ein „Europa der Völker“ entgegengestellt wird. In einer Plenarrede habe Jean-Marie Le Pen diese Idee weiter erklärt. „Der nationale Widerstand wird damit legitim, er ist für die Bürger ein Recht, für die Patrioten ein Pflicht“, so Le Pen. Demokratie bedeutet für Nigel Farage, Parteivorsitzender der UKIP und Vorsitzender der Fraktion, auch frei von Entscheidungen des Europäischen Parlaments zu sein. Denn die „Euro-Idiotie“ führe zu einem „Europa der Uniformität“. Seine Forderung: sofortige Auflösung der EU und, falls diese nicht erfolgt, der Austritt Großbritanniens.
Die Forderung nach dem Ende der EU teilen die Abgeordneten der EFD, die aus radikalrechten und euroskeptischen Parteien wie der SNS, den Wahren Finnen oder der Solidarna Polska kommen. „Es ist grotesk: Diese Personen sitzen in einem Parlament, das sie am liebsten abschaffen wollen“, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Rebecca Harms, in der deutschen tageszeitung (taz). Mit der Fraktionsgründung haben die Abgeordneten an Einfluss im Parlament gewonnen: Sie erhalten mehr Redezeit bei den Debatten, mehr Posten bei den Ausschüssen und mehr Geld. Das Budget wird nach der Größe der Fraktion, ihrer Mitgliederzahl, errechnet: Die EFD hatte 2012 33 Abgeordnete und erhielt ein Budget von 2,451 Millionen Euro. Im März 2012 bildeten 34 Abgeordnete die Fraktion, sodass der Betrag auf 2,579 Millionen Euro im Jahr anwuchs. Die politischen Chancen im Parlament wurden aber kaum genutzt, denkt Harms: „Für die meisten Mitglieder dieser Fraktion steht die Souveränität ihrer Staaten an oberster Stelle.“
[gallery:Europas Populisten]
Die österreichische FPÖ wollte sich der Fraktion anschließen, räumte 2009 Mölzer gegenüber der österreichischen Zeitung Der Standard ein. Ein oder zwei Parteien der EFD lehnten den Beitritt allerdings ab. „Sie kennen die FPÖ nicht und glauben, was die politisch korrekten Medien schreiben“, sagt Mölzer im Gespräch in seinem Büro. Die NS-Belastung, die der FPÖ zugeschrieben werde, halte „nationale Parteien“ auf Distanz, meinte er. Weit kann Mölzer aus dem Fenster seines Büros sehen. In der radikalen Rechten gilt er als „Motor der eurorechten Idee“. Die Erfahrung mit der Fraktion hat Mölzer nicht nachhaltig enttäuscht; er weiß, um Ziele zu erreichen, bedarf es Zeit. Seine Hoffnung auf eine Dachorganisation der „rechtspatriotischen Parteien“, wie er sie nennt, gibt er nicht auf. Gelassen sitzt er, der sich europaweit um Allianzen bemüht, hinter dem Schreibtisch des nüchtern eingerichteten Büros. „Ich bin kein Europakritiker, sondern ein EU-Kritiker“, sagt er, der zusammen mit Frank Obermayer für die FPÖ im Europäischen Parlament sitzt. „Das zentrale Problem ist, dass die Eliten im Zentralismus das Wohl sehen. Das hat uns in Teufels Küche gebracht – der vorzeitige Euro ist so ein Auswuchs“, versucht er zu erklären. Sterbe der Euro, sterbe Europa, sei das Gerede der Eliten, so Mölzer, doch Europa sei „mehr als bloß Wirtschaft. Europa hat eine hundertjährige Kultur- und Geistesgeschichte.“
Seine Europa-Vorstellungen hat er bereits 2005 in einer kleinen Schrift dargelegt: Europa unser. Für ein Europa der freien Völker und der kulturellen Vielfalt. Keine der radikal rechten Parteien in Europa, die seit der Krise einzelner Staaten nicht versucht hat, die Bedenken und Sorgen der Menschen bezüglich des Euro und der Rettungsschirme anzusprechen. Ihre Kritik an der Währungsunion, der mangelnden Besteuerung und der fehlenden Regulierung des Geldverkehrs könnte von linken Parteien und Initiativen kommen. Doch diese fordern eines nicht: die Abschaffung des Euro. Stattdessen plädieren sie für mehr soziale Gerechtigkeit und marktpolitische Kontrolle. „Wer Europa liebt, muss gegen den Euro sein“, sagt hingegen Mölzer deutlich. In seiner Kolumne Brief aus Brüssel, die regelmäßig in der von ihm mitherausgegebenen rechten österreichischen Wochenzeit Zur Zeit erscheint, greift er solche und andere Themen auf.
Mölzer erlangte bereits 2004 ein Europamandat. 2009 konnte die FPÖ mit 13,1 Prozent ihren früheren Stimmenanteil mehr als verdoppeln. Schon in seiner ersten Wahlperiode versuchte Mölzer, im Europäischen Parlament eine Fraktion „rechtspatriotischer Parteien“ zu bilden. Am 1. Januar 2007 initiierte er die Gründung der Fraktion Identität, Tradition, Souveränität (IST) entscheidend mit. Ihre Bildung war nach der EU-Osterweiterung durch Abgeordnete der radikalen Rechten aus Bulgarien und Rumänien möglich geworden. Doch bereits wenige Monate später, am 12. November 2007, brach die Fraktion mit 23 Abgeordneten wegen vieler Streitereien auseinander. Den letzten Anlass zur Trennung lieferte Alessandra Mussolini, 1962 geborene Enkelin des ›Duce‹. Die italienische Abgeordnete der Alternativa sociale: Lista Mussolini hatte die sofortige Abschiebung rumänischer Roma aus Italien gefordert. Die fünf Abgeordneten der rumänischen PRM waren verstimmt, dass ihre Fraktionskollegin nicht zwischen Roma und Rumänen unterschied – sie gingen.
2012 spielt Mölzer das Scheitern der Fraktion herunter: „Eine Fraktion: mehr Handlungsspielraum? Nein, das kann man so nicht sagen“, sagt er. Vielmehr werde eine Zusammenarbeit durch die „rechtspatriotischen Identitäten, die sich nicht so schnell ändern werden“, erschwert. Subkutan wirken da auch die siebzig Jahre zurückliegenden historischen Ereignisse nach, meint Mölzer weiter. Er selbst scheint nicht alle radikal rechten Parteien in Europa zu schätzen: „Im Osten sind schon auch Obskuranten und Narren bei den verschiedenen nationalen Bewegungen dabei.“ Anhänger von Jobbik, so Mölzer, seien „wirkliche Antieuropäer“. An seinem Siegelring spielend, schiebt er nach: „Eine große Fraktion der rechtspatriotischen Parteien sehe ich noch nicht“, und lässt unerwähnt, dass bereits eine Europapartei besteht, in der die FPÖ mitwirkt: die Europäische Allianz für Freiheit (EAF).
[gallery:Der Vertrag von Lissabon]
Im Februar 2011 hat der Vorstand des Europäischen Parlaments die EAF offiziell anerkannt. Zum Vorsitz der 2010 in Malta gegründeten Partei wählten die Mitglieder Godfrey Bloom von der UKIP; Mölzer und Claeys bestimmten sie neben anderen für den Vorstand. „Die Mitglieder der Allianz“, heißt es in der Eurobilanz 2011 der FPÖ-Delegation, „sind davon überzeugt, dass es notwendig ist, grenzüberschreitende Probleme wie Massenzuwanderung aus Afrika und den in der Folge auftretenden Asylmissbrauch durch gemeinsame Initiativen zu lösen.“ Die vierzehn Mitglieder der Europapartei gehören, außer der UKIP und der FPÖ, dem Vlaams Belang, den Sverigedemokraterna, der litauischen Partei Tvarka ir teisingumas (Ordnung und Gerechtigkeit) und den deutschen Bürgern in Wut (BIW) an. Dass die BIW um Jan Timke gar nicht dem Europaparlament angehört, stört nicht. In der Eurobilanz 2011, einer Art populistischem Rechenschaftsbericht der FPÖ-Abgeordneten im Europäischen Parlament, wird diese Zusammenarbeit jenseits des Parlaments offen betont: Die EAF soll „zukünftig als Kontaktplattform auf europäischer Ebene dienen. (…) hier haben wir auch die Möglichkeit, Parteien, die noch nicht im EU-Parlament vertreten sind, in unsere Arbeit einzubeziehen“. Die Gründung der EAF war formal unkompliziert.
„Die Voraussetzungen, um als Europapartei anerkannt zu werden, sind vergleichsweise gering“, sagt Peter. Aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen Abgeordnete aus regionalen oder nationalen Parlamenten vertreten seien, oder es muss mindestens einer im Europäischen Parlament sitzen. Der Autor der Studie der Grünen befürchtet, dass nun auch andere Rechtsparteien außerhalb des Parlaments EU-Mittel beziehen könnten – nicht ohne Grund.
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Bereits im Jahr 2011 erhielt die EAF 372 753 Euro aus EU-Mitteln. Der Rechenschaftsbericht des Europäischen Parlaments weist zudem aus, dass 2012 360 455 Euro in die Kassen der EU-Gegner flossen, die damit ein offenes, modernes Europa bekämpfen. Das Geld nehmen sie dennoch gerne. Im Februar 2012 hat das Europäische Parlament die Europäische Allianz nationaler Bewegungen (AENM) als weitere Europapartei anerkannt. Sie besteht schon seit 2009; der Franzose Gollnisch steht ihr vor. Die Partei, in Budapest gegründet, vereint Abgeordnete des FN, von Jobbik, der BNP und elf weiterer Parteien der radikalen Rechten. Der Rechenschaftsbericht zeigt: 2012 erhielt die AENM 289 266 Euro vom Europaparlament. Tatsächlich können Europaparteien schon seit Juli 2004 vom Parlament eine jährliche Finanzhilfe in Form eines Betriebskostenzuschusses beziehen, der bis zu 85 Prozent der Ausgaben einer solchen Partei betragen kann, erklärt Constanze Beckerhoff vom Pressedienst des Europäischen Parlaments. Die restliche Summe soll mit Eigenmitteln wie Mitgliedsbeiträgen und Spenden gedeckt werden.
Doch auch ohne Fraktionsstatus oder Europapartei können die radikal rechten Parlamentarier Geld für ihre Hetze gegen den „EU-Zentralismus“ und die „Islamisierung Europas“ beziehen: Neben der monatlichen Entschädigung als Europaparlamentarier von 7960 Euro stehen jedem Abgeordneten monatlich über 21 200 Euro für die Personalausstattung zu. Ein Taggeld erhalten die Mandatsträger, wenn sie die offizielle Anwesenheitsliste unterzeichnet haben.
[gallery:Europäische Einigung]
In den 27 Mitgliedstaaten bestimmen sehr unterschiedliche Gesetze die Finanzierung einer Kandidatur zur Europawahl. Eine grobe Unterscheidung lässt sich zwischen Ländern, in der die Wahl nicht staatlich gefördert wird, und Ländern, in der sie unterstützt wird, treffen. Die erste Form wird in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Litauen, Lettland, den Niederlanden, Österreich, Ungarn, Malta, Großbritannien, Schweden, der Slowakei und Zypern praktiziert, die zweite in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien, Spanien und Tschechien. In den Ländern, in denen Subventionen ausgezahlt werden, bestimmen die Wahlerfolge über die Ausschüttung; eine Vollfinanzierung ist nicht vorgesehen. In Deutschland beispielsweise ist die Europawahl in die Parteienfinanzierung eingebunden. Erreicht eine Partei 0,5 Prozent, kann sie Gelder beanspruchen – seit Jahren ein Grund für Parteien der radikalen Rechten in Deutschland, auch ohne Aussicht auf Mandate eine Kandidatur anzustreben. Um kleinere Parteien zu stärken, werden die ersten vier Millionen Stimmen mit 0,85 Euro und die weiteren mit 0,70 Euro vergütet. Spenden von Bürgern werden zudem mit 0,38 Euro für jeden Euro aufgestockt, Spenden von Firmen nicht.
„Durch die Gründung politischer Parteien auf europäischer Ebene versuchen sich die rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien zu koordinieren und zu finanzieren“, sagt Albrecht in seinem Büro. „Bisher“, sagt er, führten sie aber „selten gemeinsame Projekte oder Aktionen durch“. Die Fraktion EFD schätzt er daher auch als „Zweckgemeinschaft“ ein. Pascal Delwit, Politikwissenschaftler an der Freien Universität in Brüssel, ist gleicher Ansicht: „Es sind sehr nationalistische Parteien. Ihre Interessen gehen zu weit auseinander. Deutsche, Österreicher und Italiener sind sich noch nicht einmal über das Territorium Österreichs einig“, sagte Delwit der taz. Der Politologe betont, die beiden Parteien EAF und AENM hätten „kaum ein gemeinsames Programm. Sie schließen sich zusammen, um Gelder zu bekommen.“ Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass sie dennoch Konferenzen und Meetings ausrichten. Eine Vernetzung der Parteien und ein Austausch der Positionen fänden ebenfalls längst statt, sagt Albrecht. „Die Kommunikation“, schreibt Schulz in Strategien der extremen Rechten, „ist ohne Zweifel gewachsen, aber sie ist größtenteils weiterhin unverbindlich. „ Programmatisch gebe es allerdings genügend Übereinstimmungen, um eine koordinierte Zusammenarbeit zu verfolgen, so Schulz: das Nein zu Europa, zu Einwanderung, Multikulturalismus und Globalisierung.
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Die persönlichen Führungsstreitigkeiten und nationalen Sichtweisen in der radikalen Rechten seien bisher auch im Parlamentsalltag in Straßburg und Brüssel einer pragmatischen Kooperation eher hinderlich. „Nein, ein geschlossenes Auftreten ist kaum zu beobachten“, sagt Zimmermann. Die Europaabgeordnete der Partei Die Linke hebt in der Kantine für Parlamentarier und Presse auch gleich hervor: „Selbst die Mitglieder der EFD stimmen nicht immer als Fraktion geschlossen ab.“ Die einzelnen Abgeordneten scheinen ihr „die europäische Bühne vor allem für sich zu nutzen“. In den Ausschüssen des Parlaments würden die rechten Abgeordneten sehr unterschiedlich mitarbeiten. „Einige bringen sich ein, andere machen gar nichts“, sagt sie. In ihrer Eurobilanz 2012 behauptet die FPÖ-Delegation, dass Mölzer in der aktuellen Legislaturperiode in Straßburg „Österreichs aktivster Abgeordneter“ sei: 237 Reden habe er seit 2009 gehalten, 501 Anfragen gestellt und 865 Abänderungsanträge in Ausschüssen eingebracht. Auch sei er zu 98,35 Prozent im Plenum anwesend gewesen. Die Statistik sollte indes nicht über die tatsächliche politische Bedeutung hinwegtäuschen.
Zimmermann und Albrecht sagen unisono: Die Diskussionen und Debatten werden im Europäischen Parlament nicht von der radikalen Rechten bestimmt. Entscheidungen und Beschlüsse werden – wie in allen demokratischen Parlamenten – in den Ausschüssen und Gremien des Europäischen Parlaments entwickelt. Hier seien jene radikal rechten Abgeordneten, die im Plenum lautstark präsent seien, oft leiser. Die Chance, in diesem Rahmen durch Provokationen mediale Aufmerksamkeit zu erzielen, ist gering, denn die intensive Arbeit der Abgeordneten findet in Räumen ohne Publikumsverkehr statt.
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Überrascht schauen die Besucher der Sitzung vom 1. bis 5. Juli 2012 in den Plenarsaal hinunter. Denn auf den blauen Sesseln sitzen nicht bei jedem Tagungsordnungspunkt alle 754 Parlamentarier. Der Raum wirkt gar fast leer; nur einzelne Abgeordnete hören Berichten zu oder halten Redebeiträge. „Bitte lassen Sie sich nicht täuschen. Die Abgeordneten, die jetzt nicht im Plenarsaal sind, sitzen in Ausschüssen, haben Fraktionstreffen oder führen Expertengespräche“, erklären Mitarbeiter einzelner Abgeordneter den Besuchergruppen immer wieder. Kopfhörer bei den Besucherplätzen bieten Interessierten die Möglichkeit, die Reden in der eigenen Landessprache zu verfolgen. Bei der Abstimmung zum „Europäischen Patent“ am Mittwoch, dem 4. Juli, sind aber beinahe alle Abgeordnetenplätze belegt. Seit Monaten wurde in der europäischen Öffentlichkeit massiv über das Anti-Counterfeiting Trade Agreement – Abkommen zum Schutz des Urheberrechts, kurz ACTA, diskutiert – und protestiert. Albrecht, der auch rechtspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament ist, fasst die Kritik am Entwurf der Europäischen Kommission zusammen: „Das Abkommen verfolgt die schrittweise Privatisierung der Rechtsdurchsetzung im Internet. Damit besteht die Gefahr, dass die Freiheit des Netzes und die Grundrechte der Nutzerinnen und Nutzer auf der Strecke bleiben.“ In ihrer Rede von 2,12 Minuten warnt auch Marine Le Pen vor ACTA, das die Freiheit des Netzes zugunsten einiger Privilegierter massiv beschränke. Mit Zetteln in der Hand steht die Vorsitzende des FN, in diskreter schwarz-grau-weißer Jacke, die blonden Haare zum Dutt gesteckt, vor ihrem Platz 616, spricht ins Mikrofon, betont den repressiven Charakter der Vorlage. Am Ende der Debatte scheitert ACTA.
Das Nein des FN hat Albrecht erwartet. „In der Auseinandersetzung ist es umso wichtiger, sehr genau die inhaltlichen Unterschiede herauszuarbeiten“, sagt er in seinem Büro, in dem wegen des Stopps von ACTA das Telefon pausenlos klingelt und Abgeordnete und Mitarbeiter der Grünen durch die offene Tür gratulieren. Im Parlament fehle ihm diese inhaltliche Auseinandersetzung öfters – auch wenn er „denen nicht zu viel Raum geben möchte“. Leicht nachdenklich sagt er vorsichtig: „Es ist überraschend, wie wenig manche Abgeordnete wissen, was diese Leute so denken und machen.“ Das seien „nette Kollegen“, wird prompt gedacht; man unterhält sich nicht bloß zwischen den Plenarpausen, da wird dann auch mal zusammen Kaffee getrunken. „So versuchen die, sich Freunde zu machen“, meint Albrecht. Dass diese persönliche Akzeptanzgewinnung gelinge, habe seine Ursache auch darin, dass die Abgeordneten gar nicht so sehr verfolgen, was die „netten Kollegen“ in ihrem eigenen Land sagen und anstreben. Denn nicht alle radikal rechten Abgeordneten suchen im Plenum die Provokation.
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Eine gemeinsame Strategie des Umganges mit der extremen Rechten haben die anderen Parteien im Europäischen Parlament nicht vereinbart. Zimmermann sagt: „Wenn wir klare Abgrenzungen vorschlagen, heißt es schnell, wir deutschen Linken seien da sehr sensibel, aber …“ In den einzelnen Parteien bestimmen sehr unterschiedliche Demokratievorstellungen, geprägt von den historischen Erfahrungen des Herkunftslandes, das direkte Verhalten. „Wir treffen uns deswegen auch vermehrt, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln“, sagt Albrecht. 2011 haben die Grünen im Parlament zur Information Fotos der Abgeordneten der radikalen Rechten mit Namen und Zitaten aufgehängt. „Mit dieser Aktion wollten wir unsere Kollegen aufrütteln, denn, wie gesagt, die Mehrzahl weiß zwar, dass es Rechtsextremisten im Parlament gibt, aber nicht, wer sie eigentlich sind.“ Nicht alle radikalen Rechten würden den Kontakt zu den anderen Abgeordneten suchen. „Das sind ja auch persönlich schwierige Köpfe. Mölzer und Marine Le Pen tun sich schon schwer, miteinander zu reden“, sagt Albrecht.
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Dass andere Abgeordnete die Damen und Herren von ganz rechts nicht auf die gleiche Weise wahrnehmen, spiegelt auch deren eigene Gewichtung ihrer Politik wieder. „Sie nehmen ihr Mandat als ein privat-politisches wahr, ihre Parteien wollen vor allem das Geld“, sagt Albrecht. Die Parteien erwarten also gar nicht, dass ihre Mandatsträger sich in Brüssel und Straßburg stark engagieren. In ihren Ländern agieren die Europaabgeordneten allerdings sehr massiv. Ihre Auftritte im Parlament sollen denn auch, so wie bei Messerschmitt, vor allem im eigenen Land nachhaltig wahrgenommen werden. Ganz bewusst würden sie „unter dem Label Europaabgeordnete auftreten, um seriöser, gar staatstragender zu erscheinen“, beobachtet Albrecht. Auch Delwit nimmt wahr, dass die radikale Rechte ihren Einfluss nicht alleine im Parlament zu erhöhen versucht, sondern ihre Wirkungsmacht auch in ihren Heimatländern ausbauen will. „Sie bringen überall die gleichen Themen auf die politische Agenda: Einwanderung, Wahlrecht für Migranten, Anspruch von Zuwanderern auf Sozialleistungen“, sagt er der taz, „und das beeinflusst dann die Politik – auch in Europa.“ Seine Sorge: „Diese Themen werden in der Folge von anderen Parteien aufgegriffen, weil sie sich unter Druck fühlen.“
Im Europäischen Parlament fällt auch auf, dass sich nicht bloß die radikalen Rechten verstärkt gegen die Europäische Union und die Zuwanderung äußern. In seinem Büro sagt Mölzer zuversichtlich: „Ich kenne im Europäischen Parlament an die hundert Abgeordnete, die so denken wie wir.“ Ihn sorgt nicht, worüber sich andere sorgen: 2014, bei der Europawahl, könnte die radikale Rechte mehr Mandate als 2009 erhalten. Die ›gesellschaftliche Mitte‹, stellen Studien zu Ressentiments und Diskriminierung fest, wird zunehmend nervöser: aus Sorge um den Euro, Furcht vor dem Sozialabstieg, Bedenken beim Sozialabbau, Angst vor Islamismus, Befürchtungen wegen der Zuwanderung und Verunsicherung bei den Wertvorstellungen – reale Sorgen und gefühlte Ängste, die die radikalen Rechten bei der Wahl hoffen lässt. „Ich befürchte, sie werden nicht enttäuscht werden“, sagt Albrecht.
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