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Brüder im „Islamischen Staat“ - Blutsverwandte, die das Blut anderer vergießen

Zwei der Attentäter des schwarzen Freitags in Paris waren Geschwister. Auch der Anschlag auf die Satire-Redaktion Charlie Hebdo im Januar wurde von Brüdern geplant. Zahlreiche Beispiele zeigen: Die Familie spielt bei der Radikalisierung eine wichtige Rolle – insbesondere die Beziehung unter Brüdern

Autoreninfo

Laetitia Grevers hat Geschichte in London studiert. Ihre Texte sind unter anderem im Magazin der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

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Brahim Abdeslam setzte sich am Freitag, den 13. November, auf die Terrasse der Brasserie Comptoir Voltaire in Paris. Er bestellte, die Kellnerin ging zurück ins Restaurant. Dann sprengte er sich in die Luft. Tische und Stühle flogen umher. Blut schoss über den Boden. Fetzen seiner Jacke blieben an Tellern und Besteck kleben. Fünfzehn Menschen wurden dabei schwer verletzt. Darunter auch Kellnerin Catherine, an Brustkorb und Unterleib.

In dieser Zeit fuhr der Bruder des Kamikaze, Salah Abdeslam, als Attentäter durch den Osten von Paris. Er schoss willkürlich auf Restaurants und Bars. Ein dritter Bruder, Mohammed, wurde am Montag in Brüssel für einige Stunden festgehalten. Nach seiner Freilassung beteuerte er sein Unwissen: „Meine Eltern und ich sind entsetzt über diese Tragödie. Meine Brüder haben sich immer normal verhalten, niemand konnte so eine Tat voraussehen.“

Familiäre Bindung und Terror


Häufig wird angenommen, dass junge Männer von extremistischen Imams oder Knastbrüdern radikalisiert werden und sich anschließend im Mittleren Osten ausbilden lassen. Doch zahlreiche Beispiele in Frankreich zeigen: Die Familie spielt bei der Radikalisierung eine wichtige Rolle – insbesondere die Beziehung unter Brüdern. 

Abdelhamid Abaaoud, der Drahtzieher des Pariser Anschlags, rekrutierte 2014 seinen dreizehnjährigen Bruder für den Dschihad. Auch Said und Cherif Kouachi, die im Januar Mitarbeiter der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo erschossen haben, waren Geschwister. Der Bruder von Mohammed Merah, der 2012 in Toulouse jüdische Schüler ermordete, sitzt heute noch im Gefängnis.

[[{"fid":"67548","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":490,"width":750,"style":"width: 250px; height: 163px; margin: 3px 5px; float: right;","title":"Cherif und Said Kouachi, die Attentäter von Charlie Hebdo","class":"media-element file-full"}}]]Nach einer Studie des Think Tank New America sind mehr als ein Viertel der westlichen Mitglieder des Islamischen Staates über eine familiäre Bindung in den Mittleren Osten gezogen. „Die einsamen, psychologisch Schwachen radikalisieren sich am häufigsten“, sagt der Dschihadismus-Experte Farhad Khosrokhavar. „Einige von ihnen werden übers Netz rekrutiert. Andere durch soziale Abschottung in der eigenen Familie. Unter Brüdern schaukeln sie sich in ihrer Radikalität hoch.“ Der Attentäter Cherif Kouachi, der im Gefängnis mit dem radikalen Islam vertraut wurde, teilte seine Begeisterung mit seinem Bruder Said. Er überzeugte ihn, in den Yemen zu ziehen, zu Al Qaida auf der arabischen Halbinsel.

Viele Männer werden Terroristen, weil Menschen, die ihnen nahe stehen – Brüder oder Freunde –  extremistische Ideen mit ihnen teilen und sie davon überzeugen. Freundschaft und Nähe spielen bei der Rekrutierung oft eine wichtigere Rolle als Religion. Viele Jugendliche, die zu Islamisten werden, wachsen ganz ohne Religion auf. So der Mörder Merah, der ständig in Nachtclubs ging.

„Das religiöse Erwachen, das ich ‚born again‘ nenne, ist für die Männer eine Möglichkeit, aus ihrem inneren Unwohlsein herauszukommen“, sagt Khosrokhavar. „Sie realisieren dann, dass die Gesellschaft, von der sie sich ausgeschlossen fühlen, andersgläubig ist. Darin sehen sie mehr Legitimität, gegen diese Gesellschaft zu kämpfen.“

Der fehlende Vater


Brüder, die ohne Vaterfigur aufwachsen, radikalisieren sich häufig schneller. „Die Väter vieler dieser Männer sind entweder tot, in ihr Land zurückgekehrt, oder gesellschaftlich ausgegrenzt. Sie können ihre Kinder nicht zurechtweisen, wenn diese kleinkriminell oder gewalttätig sind. Gleichzeitig fühlen sich die jungen Männer in den Vororten Frankreichs, den Banlieues, von der Gesellschaft ausgeschlossen. Der Dealer von der Ecke, der viel Geld verdient, wird zum größten Vorbild“, sagt Khosrokhavar.  

Sowohl Mohammed Merah und sein Bruder als auch die Kouachi-Brüder wuchsen ohne Vaterfigur in gesellschaftlich schwachen Verhältnissen auf. Die Merahs mit alleinerziehender Mutter in einem Vorort von Toulouse, die Kouachis in einem Waisenhaus in Rennes. Mohammed Merah und Cherif Kouachi saßen wegen kleinkrimineller Delikte im Gefängnis. „Dort legten sie sich das Geschehene dann so zurecht: ‚Der Staat ist Schuld, dass ich im Gefängnis sitze. Er hat mich so weit getrieben‘“, erklärt Koshrokhavar.

„Die Islamisierung, die im Mittleren Osten erfolgt und junge Männer zu extremen Gewaltakten ermutigt, gibt ihnen das Gefühl, der Verachtung, die ihnen in der Gesellschaft entgegengebracht wird, etwas entgegenzusetzen,“ sagt Khoshrokhavar. „‚Wenn wir Dschihadisten werden, haben die Leute Angst vor uns‘, erzählte ihm ein islamistischer Gefängnisinsasse, ‚Sobald sie Angst vor Dir haben, verachten sie dich nicht mehr.‘“ Dies würde die Männer schließlich auch dazu bringen, junge Unschuldige zu ermorden.

Das Ringen um den Platz des Anti-Helden


Brüder schaukeln sich gegenseitig auch in ihrer Begeisterung für den „Islamischen Staat“ hoch. Der Drahtzieher des letzten Anschlags in Paris, Abdelhamid Abaaoud, gab der IS-Zeitung „Dabiq“ im Januar ein Interview. Darin brüstete er sich, unter der Nase der Belgier seelenruhig ein Attentat geplant zu haben. In der Propaganda-Presse des „Islamischen Staates“ werden diese Männer zu weltweiten „Stars“. Auch in der westlichen Presse rücken sie in die Medienöffentlichkeit. Dort ringen die Jungen untereinander um den Platz des Anti-Helden.

„Bruder“. So nennen sich viele Anhänger des Islamischen Staates. Das liegt daran, dass sie ein gemeinsames Ziel verbindet. Viele Kämpfer meinen den Ausdruck aber auch wortwörtlich. Sie sind Kinder der gleichen Eltern. Blutsverwandte. Die gemeinsam das Blut anderer vergießen.

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