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Platz 5 der meistgelesenen Artikel 2014 - Auf den Westen ist kein Verlass

Putin hat Schuld. So der Tenor in westlichen Medien. Doch der Westen hat gehörigen Anteil an der Zuspitzung der Krise in der Ukraine. Gerade die EU hat es versäumt, die Russen mit ins Boot zu holen

Autoreninfo

Gabriele Krone-Schmalz ist deutsche Fernsehjournalistin und Autorin. Seit Dez. 2000 ist sie u.a. Mitglied des Lenkungsausschusses im "Petersburger Dialog". Zurzeit hat sie eine Professur für TV und Medienwissenschaften an der Business and Information Technology School (BiTS) in Iserlohn.

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Es ist mal wieder soweit. Die Russen sind schuld. Wenn ein Dritter Weltkrieg droht, dann nur, weil die Russen, allen voran Putin, ihre imperialen Machtgelüste nicht in den Griff kriegen und ihre Einflusssphäre weiter nach Westen ausdehnen wollen. Von „Putins Psychokrieg“ ist in einschlägigen Sondersendungen die Rede und davon, dass der Kreml versucht, einseitig Grenzen zu verschieben. „Putin rudert zurück“, heißt es, weil Moskau jetzt Gesprächen zustimmt. Die Frage ist nur, wer denn da wirklich zurückrudert? Russland hat schon vor Monaten Gespräche zwischen Brüssel, Kiew und Moskau angeboten, die damals von EU-Seite schroff als völlig absurd zurückgewiesen wurden. Nach dem Motto: was hat Moskau damit zu tun, wenn die EU mit der Ukraine ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet. – Eben doch eine ganze Menge.

Russland außen vor
 

Aber der Reihe nach. Fakt ist, dass dieses Abkommen – bewusst oder fahrlässig – die Ukraine in einigen Punkten vor die Alternative stellte: entweder EU oder Russland. Ein unwürdiges Gezerre von beiden Seiten war die Folge. Ein solches wäre zu vermeiden gewesen, wenn Brüssel, Kiew und Moskau rechtzeitig darüber beraten hätten, welche praktischen Konsequenzen damit verbunden sind, wie die Kosten aufgefangen werden, wie man eine Kooperation so gestalten kann, dass alle Seiten etwas davon haben. Aber – wie üblich – dachte man in westlichen Hauptstädten, die Russen außen vor lassen zu können. Wir bringen schließlich die Werte.

Dann der Aufstand in Kiew. Eine detaillierte Analyse der Vorgänge auf dem Maidan würde helfen, die Eskalation zu erklären. Bei aller Trauer und jedem Mitgefühl beschreibt es nur eine Seite, wenn der Fokus stets auf den Scharfschützen der Sondereinheit Berkut liegt, die friedliche Demonstranten über den Haufen geschossen haben. Was ist mit den Scharfschützen von der anderen Seite? Was ist mit den braunen Straßenkämpfern, die sich der vereinbarten Entwaffnung durch die Übergangsregierung widersetzen?

Fakt ist, dass aus unterschiedlichen und in unterschiedliche Richtungen geschossen wurde, aber über Details keine abschließenden Untersuchungsergebnisse vorliegen. Was sich in den Tagen und Wochen vor den tödlichen Schüssen abgespielt hat, scheint ausgeblendet. Offen gestanden,  es schockiert mich zutiefst, wenn in Redaktionen über Attacken von Demonstranten mit Molotowcocktails und von brennenden Polizisten zwar geredet, aber nicht davon berichtet wird. Ist die Angst davor, als „Russlandversteher“ zu gelten mittlerweile so groß?

Verstehen hat nichts mit Blauäugigkeit zu tun.  Ich rede von Verständnis im Sinne von Begreifen was Sache ist. Um die heutige Situation zu begreifen, muss man sich der Mühe unterziehen, historisch zu denken.

Versprechen gebrochen
 

Als die Sowjetunion zerfiel und sich der Warschauer Pakt – das bisherige Gegengewicht zur NATO – auflöste, gab es nicht wenige westliche Stimmen, die sich für eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung der Russen stark machten. Die Struktur der NATO tauge nicht zur Bewältigung von Regionalkonflikten, die nach der Auflösung der Ost-West-Konfrontation die neue Herausforderung werden würde. Aber diese Stimmen konnten sich nicht durchsetzen, die NATO blieb im Prinzip wie sie ist. Das einzige Zugeständnis an Russland war der NATO-Russlandrat, der gleich bei seiner ersten Bewährungsprobe (Georgien-Krieg) von westlicher Seite ausgehebelt wurde, statt diesen als Dialogplattform zu nutzen.

Als es bei der deutschen Vereinigung darum ging, ob das gewachsene Deutschland weiterhin Mitglied in der NATO bleiben dürfe – ein für Russland schwer zu verdauender Brocken – gab es die westliche Garantie, dass sich die NATO nicht weiter nach Osten ausdehnen werde. Wie wir alle wissen, hat man sich daran nicht gehalten. Unmittelbare Nachbarn Russlands sind heute Mitglied der NATO. Die Dramatik der damaligen Auseinandersetzung ist im Westen vergessen, in Russland jedoch immer noch mit einem Wortbruch verbunden. Und die Gedankenspiele, Georgien oder gar die Ukraine als NATO-Mitglied gewinnen zu können, gießen Öl ins Feuer.

Außenpolitisch mussten die Russen in den letzten Jahren immer wieder die Erfahrung machen, dass sie den Kürzeren ziehen, sobald sie sich auf westliche Spielregeln einlassen. Sowohl in Jugoslawien als auch in Libyen wurde Russland ins Abseits verbannt.

Europäisch denkende Demokraten in der Minderheit
 

Doch zurück zur Ukraine und zur Krim. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war eines der heikelsten Probleme, was mit der Schwarzmeerflotte geschieht. In schwierigen Verhandlungen wurde ein langfristiger Pachtvertrag ausgehandelt.

Wenn Nikita Chruschtschow geahnt hätte, was er damit auslöst, als er 1954 die Krim der Ukraine „schenkte“, hätte er es vielleicht doch gelassen.

Die Zusammensetzung der Bevölkerung auf der Krim stellt ein weiteres Problem dar: 60 % Russen, 23 % Ukrainer und 12 % Krimtataren. Letztere sind wegen der Deportationen durch Stalin nicht gut auf Russland zu sprechen. Da es sich um Muslime handelt, erwecken sie bereits das Interesse fundamentalistischer Glaubensbrüder, die meinen, gegebenenfalls zu Hilfe eilen zu müssen.

Bei all den russischen bzw. EU/NATO-Interessen, geraten die inneren Widersprüche der ukrainischen Gesellschaft fast völlig in den Hintergrund.

Die überzeugten, europäisch orientierten Demokraten bilden nur eine Minderheit. Stattdessen gibt es starke rechtspopulistische Kräfte und gerade die Deutschen sollten wissen, was daraus entstehen kann, wenn man nicht richtig hinsieht. Und natürlich gibt es in der Ukraine auch einflussreiche faschistische Gruppen. Die allukrainische Swoboda-Partei unterhält (sogar) freundschaftliche Kontakte zur NPD in Deutschland, sitzt jetzt in Kiew in der Übergangsregierung und stellt dort mehrere Minister. Die russische Minderheit in der Ukraine hingegen, die immerhin fast ein Drittel der Bevölkerung des Landes ausmacht, ist dort nicht vertreten.

Es greift  viel zu kurz, das Land in einen EU-verliebten Westen und einen russlandhörigen Osten zu unterteilen. Der Aufstand gegen Janukowitsch ist in erster Linie Ausdruck einer abgrundtiefen landesweiten Unzufriedenheit mit einer durch und durch korrupten Führung. Wie gefährlich es sein kann, solche Situationen geopolitisch zu instrumentalisieren und die einen gegen die anderen ausspielen zu wollen, sehen wir gerade.

Besonnenheit statt Kraftmeierei
 

Wie muss es zudem auf Menschen in Ländern wie der Ukraine oder auch Russland wirken, wenn sie sehen, wie schnell und wie stark sich der Westen auf eine Seite schlägt – Demokratie hin oder her – sobald die Chance besteht, das eigene System zu exportieren bzw. den eigenen Einfluss zu erweitern? Denn Fakt ist eben auch, dass zur Zeit eine sehr aktive, aber wahrlich nicht repräsentative geschweige denn demokratisch legitimierte Minderheit auf dem Maidan die Geschicke eines Landes bestimmt, das bis vor kurzem noch einen gewählten Präsidenten hatte.

Was jetzt gebraucht wird, ist Besonnenheit auf allen Seiten, keine Kraftmeierei, weder in Washington noch in Moskau, Verständnis als Gegenstück zu ideologischer Borniertheit und so schnell wie möglich Wahlen.

Das war auch ein Ziel des Abkommens, das in Kiew sowohl von den Außenministern Deutschlands, Polens und Frankreichs als auch von Janukowitsch und den Oppositionsführern unterzeichnet wurde. Im Mai sollen Wahlen stattfinden, und zwar Parlaments- UND Präsidentschaftswahlen, was Janukowitsch bis zuletzt verhindern wollte. Warum war dieses Abkommen am nächsten Tag Makulatur? Weil nicht so genau vorherzusagen war, wie diese Wahl ausgehen wird, wenn Ruhe einkehrt?

Die drei westlichen Außenminister waren keine Zaungäste sondern Garanten, dass sich beide Seiten – Janukowitsch und die Opposition – an dieses Abkommen halten. Doch alle Beteiligten müssen sich Fragen, was Garantien der EU denn auf anderen politischen Feldern noch wert sind, wenn ein solches Abkommen den nächsten Tag nicht übersteht.

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