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(picture alliance) Die Zukunfts Chinas: Zwei Mädchen feiern den Nationalfeiertag auf dem Platz des Himmlischen Friedens

Neue Weltordnung - Die USA sind tot, es lebe China

Mit dem 20. Jahrhundert endete auch die unangefochtene Vormachtstellung der Vereinigten Staaten. Im neuen Jahrhundert wird es eine deutliche Machtverschiebung Richtung China und Indien geben. Joseph Nye, Dambisa Moyo und Kishore Mahbubani streiten über die Konturen einer neuen Weltordnung

Sie scheinen sich weitgehend einig, dass sich in der Welt gerade eine massive Machtverschiebung vollzieht und die USA nicht mehr der bestimmende Akteur sind. Frau Moyo, was bedeutet das für die anderen?
Wenn Ihre Frage darauf abzielt, ob es für andere Länder und Regionen besser ist, eine größere Rolle in der Weltpolitik und in wirtschaftlichen und sozialen Prozessen zu spielen, dann lautet die Antwort ganz kurz: Ja. Seit Jahrzehnten klopft jeder, der Geld für Entwicklungsprogramme benötigt, bei den USA und den europäischen Ländern an. Der Westen gibt vor, wie in den jeweiligen Ländern eine Wirtschafts- und Sozialpolitik aussehen sollte. Oft hat das funktioniert, aber in vielen Ländern – zum Beispiel in meiner Heimat, in Afrika – ist dieser Ansatz gescheitert. Demografischen Hochrechnungen zufolge werden in den nächsten 30, 40 Jahren neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, und wir sind darauf ungenügend vorbereitet. China und viele andere Ballungsräume sind Energiefresser. Wir sind dafür nicht gerüstet, und wenn wir nicht in schwere Konflikte geraten wollen, muss etwas geschehen. Der Westen wird Zugeständnisse machen müssen.

Herr Mahbubani, Sie scheinen eine Angleichung zwischen Ost und West zu begrüßen. Erleben wir gerade eine solche Angleichung?
Ich glaube, den USA geht es weiterhin gut, und die Welt hat ein Interesse daran, dass es ihnen gut geht. Doch die konkurrenzlose Vorherrschaft, die die USA und der Westen in den vergangenen 200 Jahren erlebt haben, war aus historischer Perspektive ein außerordentlich künstlicher Moment. Während 1800 der vergangenen 2000 Jahre waren die zwei größten Wirtschaftsmächte durchweg China und Indien. Und im Jahr 2050 wird die wirtschaftliche Nummer eins wieder China sein, die Nummer zwei Indien, die USA werden an dritter Stelle stehen. Das ist die normale Ordnung. Im Großen und Ganzen ist das großartig, denn erstens werden Milliarden Menschen aus der Armut befreit, und zweitens gibt es gewissermaßen eine Rückkehr zum Normalzustand. Wenn man wie China und Indien in den vergangenen zwei Jahrhunderten im Vergleich mit der restlichen Welt ständig unterdurchschnittlich abschneidet, verliert man sein Selbstvertrauen. Deshalb konnten 100000 Briten mühelos über 300 Millionen Inder herrschen. Die Renaissance der asiatischen Kultur wird die größte und prägendste Entwicklung des 21.Jahrhunderts sein, und ich glaube, die neue Weltordnung wird aufregend und besser für uns alle sein.

Joseph Nye: Es wird in diesem Jahrhundert zwei große Machtverschiebungen geben. Eine vollzieht sich von West nach Ost, da gebe ich Kishore recht. Vor der industriellen Revolution lebte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Asien, mehr als die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung war asiatisch. Mitte des 21.Jahrhunderts wird Asien also zu „normalen Verhältnissen“ zurückkehren.

Die zweite Machtverschiebung ist anderer Art, und wir haben uns bisher noch nicht genügend mit ihr befasst. Mit der Informationsrevolution verschiebt sich die Macht von den Regierungen zu nichtstaatlichen Akteuren. Wenn ich mir diese neue Machtverteilung vorstelle, fällt mir ein dreidimensionales Schachbrett ein: Das oberste Brett steht für militärische Macht. In dieser Hinsicht sind die Amerikaner die einzige globale Supermacht, und so wird es wohl in den nächsten Jahrzehnten bleiben. Sieht man sich das zweite Schachbrett an, das für die Wirtschaftsmacht von Staaten steht, dann ist die Welt multipolar. Auf dem untersten Schachbrett – das die transnationalen Beziehungen darstellt, also alles, was sich der Kontrolle von Staaten entzieht – ist die Macht chaotisch verteilt, eher im Stil einer Machtdiffusion.

Da gäbe es die internationalen Finanzströme, die größer sind als die Budgets der meisten Staaten. Da hätten wir nicht nur Terroristen, sondern auch Cyberterroristen, die sich nicht mehr physisch über Grenzen hinweg bewegen, sondern nur ein paar Daten schicken müssen, die man nicht zurückverfolgen kann. Da gäbe es den Klimawandel. Pandemien. In all diesen Bereichen spielen Osten und Westen keine Rolle. Solange der Osten, der Westen und auch der Süden nicht zusammenarbeiten, kann man diesen Herausforderungen nicht begegnen. Man muss Soft Power, aber auch harte, militärische Macht einsetzen, um die notwendigen Netzwerke und Institutionen zu schaffen. Und wenn Sie mich fragen, welches Land in der besten Position ist, dies zu tun: Es sind weiterhin die USA. Amerika ist immer noch die mächtigste Nation, aber es handelt sich um eine andere Art von Macht.

Dambisa Moyo: Ich glaube, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, wenn ich das mal so phrasenhaft sagen darf. Wir wissen noch nicht, ob die internationale Gemeinschaft die Institutionen zu schätzen weiß, mit denen die USA in den vergangenen Jahrzehnten die Weltpolitik bestimmt haben. Institutionen wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds werden nicht mehr unbedingt das gleiche Gewicht haben wie früher. Und ich glaube auch nicht, dass die Entwicklungsländer weiterhin den USA derart nacheifern werden, wie sie es zu der Zeit getan haben, als ich in Sambia aufgewachsen bin.

Ich denke, der Westen hat eine wichtige Entwicklung verschlafen. Er hat – vor allem in Afrika und in vielen der ärmeren Schwellenländer – die Haltung eingenommen: „Tut, was wir euch sagen, und nicht, was wir selber tun.“ Die ganze Idee der Anreize, die doch das Rückgrat des wirtschaftlichen Erfolgs des Westens war, wurde in Afrika nicht angewendet. Der wirtschaftspolitische Ansatz in Afrika war stets auf Entwicklungshilfe beschränkt. Er förderte etwas, das man „gelernte Hilflosigkeit“ nennen könnte. Das hinterlässt einen ziemlich bitteren Nachgeschmack. Viele dieser Länder wenden sich jetzt ökonomisch an China – nicht nur afrikanische Länder, sondern auch Staaten wie Brasilien oder Chile. Die Chinesen ermöglichen ihnen, ihre Agrarprodukte zu verkaufen, die der Westen durch seine Subventionierungsprogramme systematisch von seinen Märkten ausgeschlossen hat. Afrika kann endlich Handel treiben, ein zentraler Baustein jeder wirtschaftlichen Entwicklung. Es kann doch nicht sein, dass auf einem Kontinent, auf dem eine Milliarde der Weltbevölkerung lebt, nur 2 Prozent des globalen Handels stattfinden.

Die westliche Presse wird sagen: „Oh Gott, China überfällt Afrika. Das ist Kolonialismus. Die Afrikaner werden missbraucht.“ Aber die Wirklichkeit ist komplexer. Die Afrikaner glauben nicht mehr daran, dass die USA über ein paar Charitykonzerte und Hilfslieferungen hinaus wirklich am Wohlergehen des Kontinents interessiert sind. Sie glauben nicht mehr, dass die Amerikaner Interesse daran haben, in Afrika Jobs und langfristiges, nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen.

Kishore Mahbubani: Was die USA angeht, bin ich ganz anderer Ansicht als Joe. Noch einmal: Ich betone immer, dass die Vereinigten Staaten mehr Gutes als Schlechtes getan haben. Und doch müssen wir erkennen, dass die amerikanische Soft Power rapide schrumpft. Sie ist Produkt eines künstlichen welthistorischen Moments der westlichen Dominanz über den Rest, doch diese Sonderstellung relativiert sich zusehends. Wenn wir etwa nach Menschenrechten fragen, dann sprechen wir nicht mehr nur über sowjetische Gulags, sondern auch von Guantánamo. Wir haben erlebt, wie die USA geschwiegen haben angesichts der schrecklichen Menschenrechtsverletzungen in Gaza. Und wenn der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore vor Emissionen warnt, beeindruckt er damit vielleicht den Rest der Welt, nicht aber seine eigene Bevölkerung.

Wenn sich der Wirbel legt und China zur größten und Indien zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht aufgestiegen sind, dann werden sich diese Staaten nicht einfach zurücklehnen und die Regeln akzeptieren, die Amerika der Welt diktiert. Paradoxerweise ist der Rest der Welt offener für eine von den Amerikanern vorangetriebene Globalisierung als die Amerikaner selbst.

Joseph Nye: Wir sind uns einig, was einige der Tendenzen anbelangt, aber ich bin überzeugt, dass Kishore den Niedergang der amerikanischen Soft Power maßlos übertreibt. Die Zahlen belegen das Gegenteil. Sehen Sie sich etwa die jüngste Umfrage der BBC zur Attraktivität verschiedener Länder an. Dort liegen die USA weit vor China. Hu Jintao selbst hat 2007 auf dem 17. Parteikongress gesagt, dass China mehr in seine Soft Power investieren müsse. Daraufhin steckten die Chinesen Milliarden in ihre Konfuzius-Institute und in ein chinesisches Al Dschasira. Das Problem ist bloß, dass ein Großteil der chinesischen Soft Power aus der Zivilgesellschaft kommt, nicht von der Regierung. Und die Regierung kann die Zivilgesellschaft nicht unkontrolliert gewähren lassen. Warum exportiert denn Indien so viele Bollywoodfilme, China aber nicht? Das liegt nicht daran, dass indische Schauspieler und Regisseure besser sind, sondern daran, dass in China zensiert wird. China hat in Schanghai eine tolle Expo veranstaltet. Doch dann sperrt das Land Liu Xiaobo ein und untergräbt seine eigene Soft Power. Sieht man sich die Umfragen des Chicago Council on Global Affairs an oder eben besagte BBCUmfrage, dann erkennt man, dass die Soft Power der Chinesen nicht gewachsen ist, die der Amerikaner aber schon.

In einem Punkt stimme ich Kishore allerdings zu: Die Amerikaner müssen ihre Haltung in der Klimafrage ändern. Doch die Polkappen schmelzen nicht nur wegen dem, was vor hundert Jahren war; sie schmelzen vor allem wegen der Treibhausgase, die heute in die Erdatmosphäre geblasen werden, und da hat China die USA längst eingeholt. Wir – also China, die USA, Indien und andere Staaten – müssen unseren Kohlenstoffdioxidausstoß verringern. Und zwar gemeinsam, nicht gegeneinander.

Kishore Mahbubani: Es ist paradox: Wenn man die Menschen fragt, wohin sie ihre Kinder zum Studieren schicken, dann ist die Antwort stets Amerika – das gilt auch für meine eigenen Kinder. In China haben die meisten Bürgermeister oder sonstige Funktionsträger ihren Abschluss an einer amerikanischen Universität gemacht. Auf der ganzen Welt gilt interessanterweise: Die größten Kritiker der amerikanischen Politik und der doppelten Standards der USA sind fast immer in Amerika ausgebildete Asiaten oder Afrikaner…

Dambisa Moyo: Ich liebe Amerika, nur dass Sie mich nicht falsch verstehen.

Kishore Mahbubani: Ich auch, aber ich meine die amerikanische Politik. Das Paradox besteht darin, dass die Amerikaner verlernt haben, aufmerksam zuzuhören und die massiven Veränderungen zu begreifen, die sich vollziehen. Sie denken, dass sie die Chinesen weiterhin belehren können. Die USA fordern: „Seid ein verantwortlicher Akteur der Weltpolitik“ – in der Annahme, dass sie selbst ein verantwortlicher Akteur sind. Doch die anderen können selber sehen, was die USA für sie tun, und was etwa die Chinesen für sie tun – und ob ihnen das schadet oder nützt.

Was Demokratie angeht, so bin ich überzeugt, dass China langfristig eine Demokratie werden muss. Es gibt keine Alternative. Dort entsteht die größte Mittelschicht der Welt, und sie kann nicht ausschließlich von der Kommunistischen Partei regiert werden, das kann nicht gut gehen. Die Frage ist also nicht, ob es eine Demokratie geben wird, sondern wann. Wir sollten nicht vergessen, dass es aus chinesischer Sicht eine explosionsartige Ausweitung der persönlichen Freiheiten gegeben hat. Vor 30 Jahren konnte ein Chinese nicht einfach ausreisen. Heute reisen jährlich 40 Millionen Chinesen ins Ausland. Und 40 Millionen Chinesen kehren jedes Jahr freiwillig in ihr Land zurück.

Joseph Nye: Ich gebe Kishore recht: China wird sich verändern, auch wenn es noch eine ganze Weile dauern wird. J.Stapleton Roy, ehemals amerikanischer Botschafter in China, sagte einmal: „Es gibt heute mehr freie Chinesen als je zuvor in der chinesischen Geschichte, aber China ist kein freies Land.“ Ein Land, das den Menschenrechtler Liu Xiaobo oder den Künstler Ai Weiwei einsperrt, ist kein freies Land. Die Frage ist bloß, wie die Veränderungen aussehen werden. Je mehr sich China verändert, desto besser kann es seine Zivilgesellschaft nutzen und Soft Power einsetzen.

Doch wir dürfen auch nicht vergessen, dass China vor großen Problemen steht. Erstens demografische Probleme: Die Ein-Kind-Politik führt ab 2015 zu einer umgekehrten Alterspyramide, was vor allem für die, die in den Jobmarkt eintreten, eine Belastung sein wird. Oder wie die Chinesen sagen: „Sie werden alt, bevor sie reich werden.“ Das Land muss auch das Problem in den Griff bekommen, dass die Wachstumsrate eines Staates sinkt, wenn sein Pro-Kopf-Einkommen steigt. China hat auch das Problem der mangelnden politischen Partizipation noch nicht gelöst. Es gibt also noch etliche Fallstricke.

Aber lassen Sie mich noch einmal auf die chinesische Außenpolitik zurückkommen und ein wichtiges Argument von Dambisa aufgreifen: Ja, wir sollten begrüßen, dass China in Afrika Geschäfte macht. Wenn dies das Einkommen der Afrikaner erhöht, ist das eine gute Sache. Doch wir machen uns aus einem ganz anderen Grund Sorgen. Wenn ein Weltbank-Mitarbeiter oder ein EU-Beamter sagt, „nein, wir bauen dieses Stadion nicht, es ist wichtiger, dass ihr dieses Geld zur Bekämpfung der Armut einsetzt“, und das afrikanische Land sagt, „vielen Dank, aber die Chinesen haben uns sowohl das Stadion als auch ein Bankkonto in der Schweiz für den Präsidenten angeboten“, dann hat das verheerende Konsequenzen. Dann wird der Aufbau von funktionierenden Institutionen untergraben, obwohl Afrika genau diese dringend braucht. Ich mache mir Sorgen wegen des Umgangs der Chinesen mit der Korruption – und nicht über ihre Geschäfte in Afrika.

Dambisa Moyo: Es gibt eine Umfrage des Pew Center von 2007, die mich ziemlich überrascht hat. Das Pew Center ist in zehn afrikanische Länder gegangen und hat die Menschen gefragt: „Was haltet ihr von den Chinesen? Sind sie besser oder schlimmer als die Amerikaner? Mögt ihr sie? Findet ihr, dass sie gute Arbeit leisten?“ Und überall auf dem Kontinent hat eine große Mehrheit der Afrikaner gesagt: „Wir lieben die Chinesen. Sie leisten gute Arbeit. Sie sind nicht perfekt. Aber sie sind besser als die Amerikaner. Sie stehen zu dem, was sie versprechen.“

Natürlich haben Sie recht, wenn Sie sagen: Niemand sollte ein Bauvorhaben unterstützen, bei dem Korruption im Spiel ist und Institutionen unterminiert werden. Aber ich finde, wir sollten uns nicht mehr darauf verlassen, dass die klassischen Entwicklungs- und Hilfsorganisationen die afrikanischen Länder mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen versorgen. Denn genau das ist es, was Afrika bisher von einer wirtschaftlichen Entwicklung abgehalten hat.
Das amerikanische beziehungsweise westliche Modell erlaubt den afrikanischen Regierungen, ihre Verantwortung abzugeben. Natürlich ist es essenziell, dass wir die Korruption in den Griff bekommen. Aber letztlich sind die afrikanischen Regierungen selbst dafür verantwortlich, dass Arbeitsgesetze beachtet werden, die Umwelt geschützt und die Korruption bekämpft wird. Ohne eine Mittelschicht, die ihre eigene Regierung zur Rechenschaft zieht, werden wir die Korruption in Afrika nicht besiegen. Es ist das alte Henne-und-Ei-Problem.

Das Vorgehen der Chinesen ist nicht ideal. Aber es ist sicherlich besser als das der traditionellen Hilfsorganisationen, vor allem im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ich verstehe, dass es Menschen wütend macht, wenn jemand wie Liu Xiaobo ins Gefängnis gesteckt wird. Aber wir sollten auch verständnisvoller sein, denn der Kontext in China ist ein ganz anderer als in der restlichen Welt.

Kishore Mahbubani: Am konsequentesten wäre es, wenn sich die größte Weltmacht auf das größte Schwellenland konzentrieren würde. Die USA sollten 90 Prozent ihrer Ressourcen und ihrer Zeit für China aufwenden. Stattdessen wenden sie 90 Prozent ihrer Zeit für die islamische Welt auf und das, was dort passiert. Der Tenor der westlichen Berichterstattung über den arabischen Frühling lautete: „Ist das nicht toll, jetzt gibt es Demokratie!“ Kaum jemandem ist aufgefallen, dass sich die beiden gestürzten Machthaber, Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten, deswegen 30 Jahre im Amt behaupten konnten, weil sie vom Westen unterstützt wurden. In Wirklichkeit hat der Sturz dieser beiden mit dem Phänomen zu tun, das ich angesprochen habe: mit dem Niedergang der westlichen Vorherrschaft. Wir wissen nicht, was der arabische Frühling langfristig bringt. Aber wie auch immer die neuen Regierungen in Tunesien und Ägypten aussehen werden – sie werden bestimmt nicht mehr so prowestlich wie Ben Ali und Mubarak sein. Das ist jetzt nicht mehr möglich.

Joseph Nye: Wenn wir von einer asiatischen Renaissance sprechen, dann dürfen wir Asien nicht als einen Block begreifen. In Indien und Japan ist die Furcht vor China groß. Warum will denn Indien bessere Beziehungen zu den USA? Weil das Land besorgt ist über die Art und Weise, wie China aufrüstet und seinen Aufstieg betreibt, ohne für ausgleichende Soft Power zu sorgen. Doch zurück zum arabischen Frühling. Ich glaube nicht, dass er den Chinesen zu mehr Einfluss verhilft, auch nicht den Amerikanern – wenn überhaupt, geht der amerikanische Einfluss zurück. Der arabische Frühling wird vielmehr die arabischen Länder stärken, und das führt uns zu dem zurück, was Dambisa gesagt hat: Die Afrikaner und Nordafrikaner wollen es selber schaffen, und das ist wahrscheinlich eine gesunde Entwicklung.

Kishore Mahbubani: Ich habe einmal beschrieben, dass 2010 für die chinesische Diplomatie das schlechteste Jahr war. Sie hatten Ärger mit Japan wegen des Fischerbootzwischenfalls. Sie haben Südkorea verprellt, nachdem Nordkorea die südkoreanische Insel Yeonpyeong bombardiert hatte – und so weiter und so fort. Ich habe mit einem ehemaligen chinesischen Diplomaten zu Mittag gegessen und gefragt: „Was ist eigentlich los mit euch? Warum geht bei euch alles so furchtbar schief?“ Wissen Sie, was er gesagt hat? „Kishore, schreiben Sie das. Kritisieren Sie China.“ Für mich war das ein ganz erstaunlicher Moment: Ein ehemaliger chinesischer Diplomat bittet mich, China zu kritisieren! Das zeigt, dass sich auch innerhalb des Landes die Dinge ändern.

Joseph Nye: Aber er konnte es nicht selbst tun.

Kishore Mahbubani: Natürlich. Aber dass er mich ermutigt hat, es zu tun, zeigt doch, dass sich die Dinge verändert haben.

In welche Richtung entwickeln sich die Dinge?
Dambisa Moyo: Als ich klein war, konnten wir nur zwischen fünf und elf Uhr abends, also in einem Zeitfenster von sechs Stunden, fernsehen. Wir waren von der westlichen Kultur völlig gefesselt, vor allem von der amerikanischen. Wir wollten alle nach Amerika reisen, Amerika erleben. Heute, 20 Jahre später, sind viele Fragen zu dem, was in Amerika geschieht, offen. Das bedeutet aber nicht, dass die Psychologie nicht verfangen hat – nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen Afrikanern. Mobiltelefone verbreiten sich rapide, die Rate liegt inzwischen bei rund 30 Prozent. Vor uns liegt zwar noch ein weiter Weg. Doch wir haben etliche Entwicklungen, wie Festnetztelefon und Banken, einfach übersprungen. Heute benutzen die Menschen ihre Handys, um Geschäfte abzuwickeln oder um zu sehen, wann der Arzt in ihr Dorf kommt. Ich bin deshalb optimistisch, was die Wirkung der Informationstechnologie angeht: Ich glaube, sie wird unsere Vorstellungen von Politik und Wirtschaft grundlegend verändern.

Kishore Mahbubani: Ich bin absolut optimistisch, was die Zukunft angeht. Das liegt auch an meiner Biografie: Ich bin in einem Ein-Zimmer-Haus aufgewachsen, mit einer Toilette ohne Spülung, mit sechs Jahren war ich unterernährt und musste an einem speziellen Ernährungsprogramm teilnehmen. Ich wuchs also in einem typischen Dritte-Welt-Land auf. Inzwischen ist das Pro-Kopf-Einkommen in Singapur höher als das in Großbritannien, soweit ich weiß. Und Millionen Menschen folgen mir auf diesem Weg. Mit einer doppelt so großen Mittelschicht entsteht auf der Welt eine Gruppe von Menschen, die eins gemeinsam haben: Sie wollen eine friedliche, stabile Weltordnung, genauso wie die Europäer und Amerikaner. Das ist eine einzigartige Bewegung in der Geschichte der Menschheit, und sie geht in die richtige Richtung. Wir müssen uns jetzt überlegen, wie wir helfen und Hindernisse auf diesem Weg beseitigen können. Die Welt wird in zehn, zwanzig Jahren ein besserer Ort sein als heute.

Joseph Nye: Was die Verschieung der Machtverhältnisse zwischen Staaten angeht, bin ich optimistisch. Ich glaube nicht, dass die USA einen absoluten Niedergang erleben – höchstens einen relativen, der sich aus dem Wiederaufstieg Asiens ergibt und den wir bewältigen können. Über die zweite Machtverschiebung, also Machtdiffusion durch Informationstechnologie, wissen wir bislang herzlich wenig. Wir kennen die Gefahren nicht, die uns drohen. Wir fangen gerade erst an, über Cybersicherheit und Cyberbedrohungen nachzudenken. Sicher, einiges, etwa die Tahrir-Generation, wird positiv sein. Aber vieles wird gefährlich sein: wenn etwa eine Organisation vom Schlage Al Qaidas grenzübergreifend Cyberangriffe ausführt, ohne selbst jemals das pakistanische oder sonst irgendein Staatsgebiet verlassen zu müssen. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickeln werden, und wir kennen die Auswirkungen dieser Veränderungen auf unsere Gesellschaft nicht. Was die erste Machtverschiebung angeht, bin ich also optimistisch. Was allerdings die zweite angeht, da ist, um Dambisa zu zitieren, das letzte Wort noch nicht gesprochen.

 

Kishore Mahbubani war UN-Botschafter Singapurs und leitet heute die Lee Kuan Yew School of Public Policy an der National University of Singapur.

Dambisa Moyo hat an den Eliteuniversitäten Harvard und Oxford studiert und zwei Jahre für die Weltbank gearbeitet.

Joseph Nye war Vorsitzender des National Intelligence Council und stellvertretender Verteidungsminister in der Clinton-Regierung. Zurzeit ist er Dekan an der Kennedy School of Government an der Harvard University

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