- Europa ist unregierbar geworden
Kisslers Konter: Nicolas Sarkozy warnt vor einem Zerbrechen Europas. Die EU mische sich in zu viele Bereiche ein. Die Gleichstellungspolitik und der „Noichl-Bericht“ belegen diese Tendenz drastisch
Nicolas Sarkozy befindet sich auch außerhalb Frankreichs im Wahlkampfmodus. Der Vorsitzende der Partei „Les Républicains“ möchte werden, was er einmal war: Staatspräsident seiner Republik. Insofern dürften die kämpferischen Töne, die er nun in Berlin anschlug, auch eine Botschaft an die Wähler in der Heimat gewesen sein. In einem möglichen Stichentscheid gegen Marine Le Pen könnte er mit seiner Aussage punkten, das Schengener Abkommen und damit die prinzipielle Freizügigkeit seien gescheitert.
Interessanter war, was Sarkozy auf Einladung der „Stiftung Familienunternehmen“ zur Institutionenkrise der Europäischen Union zu sagen hatte: Europa lähme sich selbst, es sei unfähig geworden, Entscheidungen zu treffen. „Aber in unserer Zeit“, fuhr er fort, „muss man manchmal in einer Nanosekunde entscheiden.“ Woran liegt diese laut Sarkozy „kafkaeske Situation“? Zwei Gründe nannte der Gast aus Paris. Eine aus mittlerweile 28 Staaten bestehende Union sei schlicht zu groß, als dass sie immer und in jedem Fall alle Mitglieder konsultieren könne, ehe Entscheidungen getroffen werden. Hinzu komme die anmaßende, lähmungsverstärkende „Zuständigkeit für alle Themen. Unter dieser Last kann Europa zerbrechen.“
Frauen als Humankapital
Als eher burleske Beispiele für diesen Allzuständigkeitswahn fiel Sarkozy die Brüsseler Oberhoheit über Gurken und Eier ein. Nur zwischen den Silben eines gut gelaunten Politikprofis schimmerte durch, dass die Geschlechterpolitik der EU aufgrund ihres fundamentalen Querschnittscharakters die These besser illustriert. In derselben Woche, da Sarkozy seine Berliner Rede hielt, votierten 341 von 703 Parlamentariern bei 81 Enthaltungen für eine nach dem Namen der Berichterstatterin, einer SPD-Abgeordneten aus dem bayerischen Rosenheim, „Noichl-Bericht“ genannte Handlungsaufforderung an die Kommission. Das Votum hat noch keine rechtlich bindende Kraft, könnte diese aber bald entfalten.
Nominell soll mit dem Strategiepapier die „Gleichstellung von Frauen und Männern“ auf allen Feldern des politischen Handelns vollendet werden. Tatsächlich spricht der „Noichl-Bericht“ offen aus, was Gender-Kritiker bisher mithilfe einer Hermeneutik des Verdachts behaupteten: Dass Gender angewandter Feminismus ist mit latent androphoben Zügen. Dass durch Gender Mainstreaming sämtliche, auch private Bereiche des Zusammenlebens reorganisiert werden sollen. Und dass drittens das behauptete Ziel – die „vollständige Gleichstellung der Geschlechter“ – aus wirtschaftlichen Erwägungen in den Rang einer Schicksalsfrage erhoben wird. Letztlich ist Gender das effektivste Mittel, „das Wirtschaftspotenzial der EU deutlich zu stärken“.
Der Bericht scheut sich nicht, Frauen als „Humankapital“ zu bezeichnen, dessen „umfassende Nutzung“ geboten sei. Frauen, heißt das, sollen nicht länger Minderleister, pardon: „Zweitverdienerinnen“ sein, weil nur so „das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit in der EU“ zu neuen Höhen geführt werden können. Frauen dürfen nicht, nein, sie müssen „alle Talente in den Produktionsapparat“ einbringen, müssen beitragen zu „Arbeitsmarkteffizienz und –fluidität“, damit die Rendite stimmt, die Firma brummt. Kein Hedgefond, kein Industrietycoon, kein Ultrakapitalist spräche kälter von Männern und Frauen, als es im vermeintlichen Kampf für mehr Frauenrechte der „Noichl-Bericht“ tut. Schleierhaft und mysteriös, wie eine parlamentarische Mehrheit zu dieser Selbstpreisgabe des Menschlichen auf dem Altar der wirtschaftlichen Ausbeutung je ihr Ja geben konnte.
Der Mensch im Noichl-Bericht: ein Datenkranz
Der Mann übrigens kommt nur als Täter vor, der die Frau entweder misshandelt oder sie durch Klüngeleien vom wirtschaftlichen Aufstieg abhält. Alles wird in Zahlen gemessen, der Mensch zum Datenkranz herabgestuft, und jede Statistik, der zufolge nicht exakt gleich viele Frauen wie Männer in der Landwirtschaft oder den Parlamenten oder den Firmenspitzen vertreten sind, als Beleg für Diskriminierung und Viktimisierung herangezogen. Das Humankapital verzinst sich erst dann, wenn „Pflichtquoten“ jedem Mann eine Frau gegenüberstellen. Ein manichäischer Kapitalismus erhebt seine Fratze hinter der Fassade von Gleichberechtigung und Teilhabe.
Die Tarifautonomie zieht der „Noichl-Bericht“ ebenso in Zweifel wie die Autonomie der Länder und Kommunen. „In allen Punkten“ sollen die Sozialpartner diese Prinzipien künftig befolgen, auch in „Gemeinde- und Stadträten“ ist die geschlechtsparitätische Besetzung das Ziel – ohne Eingriffe in das Wahlrecht lässt sich das nicht machen. Männer sollen „stärker in Betreuungs- und Haushaltsarbeiten eingebunden werden“ und Kinder schon in jüngsten Jahren in der Schule den Abschied lernen von den „traditionellen unterschiedlichen Rollen, die Mädchen und Jungen zugeschrieben werden,“ und in den Genuss kommen von „Sexualerziehungsprogrammen“. Will Brüssel also die Lehrpläne an sächsischen Grundschulen festlegen? Natürlich sollen auch weitere „Lehrstühle für Geschlechterstudien und feministische Forschung“ eingerichtet werden. Über all dies, beschloss das Europäische Parlament, möge die Europäische Kommission mit einer „Gleichstellungskontrolle“ und jährlichen Fortschrittsberichten wachen.
Der Mensch ist keine Gurke und kein Ei, doch der Drang der Profi-Europäer nach Kontrolle, Überwachung, Gesetzestext eint den Apparat. Wenn Sarkozy also in Berlin anmahnte, die innere Überdehnung der EU – diesen imperial overstretch ganz eigener Art – zu beenden, damit Europa nicht zerbricht, dann wird der Ausgang des Gleichstellungsprojekts spannend sein und hochsymptomatisch. Sein Sieg wäre der Triumph des Kapitals über den Menschen.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.