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(Picture Alliance) Für das Judentum und den Islam gehört das Ritual zur Kernidentität ihres Glaubens

Ethikprofessor - „Beschneidung ist keine Verstümmelung“

Im Kölner Landesgericht ist ein wegweisendes Urteil für religiös motivierte Beschneidungen gefallen: Das Recht eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit übertrifft die Religionsfreiheit und Erziehungsrechte der Eltern. Kein gutes Urteil, meint Ethikprofessor Michael Bongardt

Herr Professor Bongardt, was haben Sie gedacht, als Sie von dem Urteil aus Köln gehört haben?
Ich halte dieses Urteil für sehr diskussionswürdig, in meinem Verständnis von Religionen in säkularen Staaten sogar für problematisch. Da wurde nach meinem Eindruck nicht ganz richtig abgewogen.

Wie hätten Sie abgewogen?
Bei der Beschneidung von Jungen – Beschneidungen von Mädchen sind etwas völlig anderes und ein Straftatbestand, den ich überhaupt nicht anzweifle – halte ich es für völlig überzogen, von einer Verstümmelung zu reden. Es ist natürlich ein Eingriff, der nur extrem schwer rückgängig zu machen ist – nämlich mit einer Transplantation eigener Haut – und meines Wissens nur ganz selten rückgängig gemacht wird. Er ist aber nicht so gravierend, dass ich das Wort Verstümmelung in irgendeiner Weise für angemessen hielte.

In dieser Frage und damit auch im Urteil müssen verschiedene Güter gegeneinander abgewogen werden: Auf der einen Seite steht das Wohl des jeweils betroffenen Kindes – ein hohes Gut, das man nicht einfach zur Seite schieben kann. Auf der anderen Seite steht die Pluralität der Kulturen und Traditionen. Der Staat hat die Möglichkeit und in einem gewissen Rahmen sogar die Pflicht, auch die Pluralität von Traditionen, die man vielleicht als Außenstehender nicht versteht, anzuerkennen. Dabei geht es nicht nur um Religionsfreiheit, sondern im weiteren Sinne um die Freiheit jeder und jedes Einzelnen, darüber zu entscheiden, was man für ein gutes und richtiges Leben hält. Diese Freiheit muss berücksichtigt werden.
Es muss also die Gesundheit des Kindes gegen das Recht, zu entscheiden, was man für ein gutes und richtiges Leben hält, abgewogen werden. Die Abwägung des Gerichts in dieser Frage ist sehr definitiv und eindeutig gefallen. Ich hätte mir mehr Differenzierung gewünscht.

Das Gericht sagt nun aber, dass die Entscheidung dafür, was ein gutes Leben ist, in diesem Fall nicht von den Eltern für das Kind getroffen werden darf
Gut, auf den ersten Blick mag da viel dran sein. Auf den zweiten Blick ist es aber realitätsfern: Eltern treffen als Erziehungsberechtigte zwangsläufig eine unendliche Fülle von Entscheidungen, die den weiteren Lebensweg des Kindes erheblich prägen. Darunter sind auch auf nicht körperlicher Ebene viele Entscheidungen, die nicht mehr zu revidieren sind. Man muss sich also vor der Vorstellung hüten, es gäbe eine 18-jährige Neutralität in der Erziehung eines Kindes und nach seinem 18. Geburtstag entscheide das erwachsen gewordene Kind über sein Leben völlig freiwillig und unabhängig von dem, was zuvor passiert oder nicht passiert ist.

In diese vielen Entscheidungen reiht sich die Entscheidung, eine Beschneidung durchführen zu lassen, also ein?
Für mich schon, weil ich eine solche Beschneidung für keinen schwerwiegenden Eingriff halte. Es gibt derzeit eine in einem ähnlichen Bereich angesiedelte Diskussion um Kinder, deren Geschlecht nicht eindeutig zu bestimmen ist und die Frage, ob Eltern das Recht haben, das Geschlecht zu einem sehr frühen Zeitpunkt durch einen medizinischen Eingriff festzulegen zu lassen. Ein solcher Eingriff hat eine völlig andere Massivität als eine Beschneidung! Da sage ich sofort: Wenn nicht zwingend medizinische Gründe dafür sprechen, sollte er verboten werden. Denn das ist eine Festlegung, die das Kind in einer nicht mehr zu rechtfertigen Weise in seiner weiteren Entwicklung beeinflusst.

Was bedeutet das Kölner Urteil Ihrer Meinung nach gesellschaftlich?
Es geht um Toleranz. Unsere Gesellschaft ist in all ihrer Unterschiedlichkeit auf ein hohes Maß an Toleranz ihrer Mitglieder angewiesen. In einem strikt philosophischen Sinne heißt Toleranz: Ich dulde etwas, was ich aus meiner eigenen Perspektive mit guten Gründen für falsch halte. Das heißt, auch Menschen, die den Ritus der Beschneidung für falsch oder rückständig halten, müssen sich fragen, ob ihre Gründe so schwerwiegend sind, dass sie es nicht dulden können, wenn andere Leute bei diesen Bräuchen bleiben. Niemand verlangt von jemandem, der Beschneidung nicht gut findet, seine Meinung zu ändern. Es geht nur um die Frage der Duldung.

Das Kölner Urteil antwortet sehr deutlich: Nein, man kann Beschneidung nicht dulden! Denn wenn man etwas unter Strafe stellt, heißt das, dass die Gesellschaft diese Tat nicht duldet. Ich denke jedoch, dass die Duldung solcher Traditionen in den Toleranzbereich fällt, ohne den unsere Gesellschaft nicht leben kann.

Was genau soll da toleriert werden? Was steckt hinter dem Ritual der Beschneidung?
Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Es ist klar, dass es die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, das sich religiös definiert – dem Judentum oder der Umma des Islam – anzeigen soll. Ob es medizinischen Gründe gegeben hat, ausgerechnet dieses Zeichen zu nehmen oder ob andere Vorstellungen eine Rolle spielten, ist religionsgeschichtlich nicht aufzuklären. Es ist aber bekannt, dass es diese Tradition bereits sehr lange gibt – im Judentum noch  fester vorgeschrieben als im Islam.

Beide Religionen berufen sich in der Tradition der Beschneidung auf die Abrahamsgeschichte. Nach der religiösen Tradition entstammen aber alle drei großen monotheistischen Religionen dem Abrahamsgeschlecht. Warum gibt es die Beschneidung dann nicht im Christentum?
Diese Diskussion wurde schon um 50 nach Christus geführt: Muss man erst Jude werden, um Christ werden zu können? Die ersten Christen waren ja Juden. Doch als auch Menschen Christen werden wollten, die keine Juden waren, stellte sich die Frage nach der Beschneidung. Damals wurde entschieden: Bestimmte Gebote, die das Judentum kennt, gelten im Christentum weiter, aber die Beschneidung hat man ausdrücklich ausgenommen, um der Überzeugung Ausdruck zu verleihen: Man muss nicht erst Jude werden, um dann Christ werden zu können.

Es handelt sich bei der Beschneidung im Judentum und Islam also nicht um einen veralteten Ritus?
Es ist eine schwierige Frage, wann ein Ritus veraltet ist. Es gibt viele Riten, die sich auf alte Gebräuche berufen oder durch Geschichten legitimiert werden. Von manchen Bräuchen haben sich Religionen im Laufe ihrer Geschichte aber auch verabschiedet, weil sie diese aus ethischen oder anderen Gründen nicht mehr für vertretbar oder sinnvoll halten. Man könnte also fragen, ob es solche Gründe gibt, die Beschneidung als Zugehörigkeitszeichen abzuschaffen. Diese Diskussion gibt es sowohl im Judentum als auch im Islam. Aber in der breiten Mehrheitsströmung beider Religionen wird die Beschneidung als Zugehörigkeitszeichen weiterhin für angemessen und mit der Zeit vereinbar gehalten.

Der Zentralratspräsident der Juden, Dieter Graumann meint, die Rechtsprechung von Köln sei ein „unerhörter und unsensibler Akt“ . Ali Demir, Vorsitzender der Religionsgemeinschaft des Islam empfindet das Urteil als „integrationsfeindlich und diskriminierend für die Betroffenen“. Was halten Sie von diesen Einschätzungen?
Ich halte sie für sehr gut nachvollziehbar und würde, wäre ich in ähnlicher Weise von einer solchen Entscheidung betroffen, sehr ähnlich reagieren.

Sowohl der Zentralrat der Muslime in Deutschland als auch der Zentralrat der Juden in Deutschland halten das Urteil für einen „Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“. Sehen sie das auch so?
Das Selbstbestimmungsrecht von Religionen ist kein Wert an sich. Es ist auch kein Menschenrecht. Im Grundgesetz steht aber: Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht und religiöse Menschen haben das Recht, sich zu weltanschaulichen Gemeinschaften zusammenzutun und sich zu organisieren. Das tun Religionen. Aber ihr Recht, zu bestimmen, was sie für das gute und richtige Leben halten, kann in einem säkularen Staat von einem Gericht eingeschränkt werden. Das wird es ja bereits an vielen Stellen! Es ist zum Beispiel verboten, gewaltsam zu missionieren.
Doch wenn der Staat das Recht, nach einer religiösen Tradition zu leben, einschränkt, muss er dafür gewichtige Gründe haben. In der aktuellen Urteilsbegründung aus Köln sind diese Gründe für mich jedoch nicht einleuchtend.

Bleibt es auch langfristig bei dem Urteil aus Köln – was würde das für die freie Religionsausübung von Juden und Muslimen in Deutschland bedeuten? Welche Auswirkungen hat es auf die Integration in Deutschland?
Die Auswirkungen sind problematisch: Wenn Ärzte diesen Eingriff offiziell nicht mehr vornehmen dürfen, kommt es zu einem altbekannten Problem: Die Gefahr ist groß, dass medizinisch unverantwortliche Ersatzlösungen gesucht werden. Diese sehr direkte Gefahr ist mit gesundheitlichen Risiken verbunden, die bei einem fachmännischen Eingriff  erheblich geringer wären.
Außerdem beobachte ich – vor allem, wenn ich mir verschiedene Blogs zu dem Thema angucke –, dass antireligiöse Klischees seitens der nicht Betroffenen sich durch dieses Urteil in  einer Form bestärkt fühlen, die ich für hochproblematisch halte. Es kann als Ausdruck von Feindlichkeit gegenüber Religionen insgesamt oder gegenüber diesen speziellen Religionen gewertet werden. Für einzelne Muslime und Juden führt das zwangsläufig dazu, dass sie gegenüber einer Gesellschaft, die eigentlich viel von ihrer Toleranz hält, zurückhaltender und skeptischer werden.

Was sagt eine solche Richtungsentscheidung über das Verhältnis von Staat und Religion aus?
Sie besagt zunächst einmal, dass in Deutschland das Feld der Fragen von Staat, Gesetz und Religion schon von unserer Verfassung her ein Feld der Abwägung und Aushandlungen ist. Wir haben weder einen Staat, in dem eine bestimmte Religion ihre Gesetze staatlich proklamiert, noch haben wir einen Staat, der Religionen ablehnt oder als irrelevant betrachtet. Die deutsche Verfassung wird in dieser Hinsicht immer als Mischform charakterisiert. Denn es gibt ja beispielsweise in der finanziellen Förderung von Religionsgemeinschaften, es gibt schulischen Religionsunterricht usw., also durchaus Verbindungen von Staat und Religion.
Es geht deshalb vor allem darum, dass das Verhältnis von Staat und Religion in jedem Einzelfall neu austariert werden muss.

Sie sind kein Jurist, aber mit problematischen Grenzfragen des Glaubens vertraut. Denken Sie, dass es bei diesem Urteil langfristig bleiben wird?
Es gab in den vergangenen Jahren einige Konfliktfälle und Urteile, die das Selbstbestimmungsrecht von Menschen gegenüber staatlichen Eingriffen sehr hoch einschätzten. Verbunden mit dem Erziehungsrecht von Eltern würde ich zu der Prognose tendieren, dass dieses Urteil in höheren Instanzen kein Bestand haben wird. Aber sicher weiß ich das natürlich nicht.

Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff hat gesagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Der amtierende Bundespräsident Joachim Gauck hat diese Aussage für sich differenziert.

Nach dem Urteil aus Köln stellt sich die Frage: Gehören Judentum und Islam mit diesen Beschneidungsriten also nicht zu Deutschland?
Die Betroffenen werden das so empfinden, wenn man ihnen nicht deutlicher als es durch das Urteil  einschließlich Begründung bis jetzt passiert ist, aufzeigen kann, warum man sie in ihrem religiösen Selbstverständnis derart massiv einschränkt. Reicht die Begründung nicht aus, wird die Entscheidung als willkürliche Ausgrenzung und als Signal verstanden, dass man eben doch nicht wirklich zu Deutschland gehört.

Täglich kommen in Deutschland jüdische und muslimische Kinder auf die Welt. Was machen die Familien jetzt aus dieser Verunsicherung?
Vermutlich werden Muslime und Juden mit dieser Verunsicherung umgehen, indem sie das Urteil anfechten. Das ist der politische Aspekt. Persönlich werden die Reaktionen sehr unterschiedlich sein, abhängig davon, wie wichtig das Symbol der Beschneidung den einzelnen Muslimen und Juden ist. Bei Menschen, für die die Beschneidung ein zentraler Inhalt ihres Glaubens ist, wird das zu ernsthaften Gewissenskonflikten führen.

Professor Dr. Michael Bongardt ist Theologe, Philosoph und seit 2010 Vizepräsident der Freien Universität Berlin. Dort leitet er zudem das von ihm gegründete Institut für Vergleichende Ethik.

Das Gespräch führte Karoline Kuhla

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