Ministerpräsident Netanjahu bei einer Gedenkveranstaltung für Zeev Jabotinsky im Juli 2023 / dpa

Israels Sicherheitsdoktrin - Eiserne Mauern

Das militärische Vorgehen Israels seit dem 7. Oktober zeigt, dass die Phase beendet ist, da man Hamas und Hisbollah lediglich als Ärgernis ansah. Es bedeutet eine Rückkehr zu den Prinzipien des Zionisten Zeev Jabotinsky und des Staatsgründers David Ben-Gurion: Frühwarnung, Abschreckung und Entschlossenheit.

Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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Zeev Jabotinsky war als Mitbegründer des Jüdischen Nationalfonds und der Jüdischen Legion sowie als jemand, der im Ersten Weltkrieg beim britischen Militär diente, eine äußerst einflussreiche Persönlichkeit der israelischen Geschichte. Er spielte eine entscheidende Rolle, als es darum ging, Großbritannien davon zu überzeugen, die Balfour-Erklärung zu verabschieden, um in Palästina eine nationale Heimstätte für die Juden zu schaffen, die seiner Meinung nach beide Ufer des Jordan umfassen sollte. Einer von Jabotinskys wichtigsten Beiträgen zur israelischen Sicherheitspolitik war die Eiserne-Mauer-Doktrin, die davon ausging, dass die Palästinenser einen mehrheitlich jüdischen Staat im historischen Palästina nicht akzeptieren würden und dass die Errichtung eines jüdischen Staates in erster Linie von einem Bündnis zwischen der zionistischen Bewegung und einer Weltmacht abhinge.

Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober vorigen Jahres zogen einige arabische Analysten fälschlicherweise den Schluss, der Angriff bedeute den Fall der „eisernen Mauer“, die den Gazastreifen von Israel trennt, und verglichen sie mit der französischen Maginot-Linie, die Deutschland im Zweiten Weltkrieg nicht davon abhalten konnte, Frankreich zu besetzen. Diese Analysten scheinen sich des Einflusses von Jabotinskys Ideen, einschließlich der Doktrin der „Eisernen Mauer“, auf die heutige israelische Militärstrategie und Politik nicht bewusst zu sein.

Jabotinsky war der erste zionistische Führer, der anerkannte, dass die Palästinenser ein Volk waren und dass sie ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht freiwillig aufgeben würden. Er war der Ansicht, dass die Araber in Palästina keine wirtschaftlichen Anreize akzeptieren würden, wenn sie im Gegenzug den Juden gestatteten, einen Staat zu gründen und in dem Land, das sie als ihr Heimatland betrachteten, die Bevölkerungsmehrheit zu bilden. Jabotinsky bezeichnete die Vorstellung, dass die Araber den Zionismus und die jüdische Besiedlung akzeptieren würden, als eine Illusion. Er glaubte, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben würden, Palästina von der jüdischen Bevölkerung zu befreien – trotz der Versprechungen, dass sie mit Würde behandelt werden würden, da kein lebendes Volk Zugeständnisse in einer so prinzipiellen Angelegenheit akzeptieren könne. Aus diesem Grund hielt er es für sinnlos, in der Anfangsphase des zionistischen Projekts einen Dialog mit ihnen aufzunehmen.

Der Likud trat das Erbe von Jabotinskys Eiserne-Mauer-Doktrin an

Jabotinskys Vision war, dass das zionistische Projekt hinter einer eisernen Mauer verwirklicht werden müsse, die von der lokalen arabischen Bevölkerung nicht niedergerissen werden könnte. Sein Modell sprach sich jedoch nicht gegen die Aufnahme eines Dialogs mit den Palästinensern in späteren Phasen aus. Im Gegenteil: Er ging davon aus, dass die Palästinenser schließlich ihre Schwäche eingestehen würden. Dann wäre der Zeitpunkt gekommen, um Verhandlungen über ihren Status und ihre nationalen Rechte in Palästina aufzunehmen.

Nach der Gründung Israels im Jahr 1948 und dem Aufstieg der Arbeitspartei an die Macht trat die wichtigste Oppositionspartei Herut, aus der später die Likud-Partei hervorging, das Erbe von Jabotinskys Eiserne-Mauer-Doktrin an. 1977 wurde Menachem Begin Ministerpräsident und unterzeichnete ein Jahr später mit dem ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat das Camp-David-Abkommen, in dem die palästinensische Staatlichkeit nicht erwähnt wurde. Begin blieb Jabotinskys Lehre treu, dass nur ein jüdischer Staat im historischen Palästina existieren könne, ebenso wie Benjamin Netanjahu, der 1993 den Vorsitz des Likud übernahm.

Die aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen führten das Erbe Jabotinskys fort, obwohl sie zeitweise den Anschein erweckten, der palästinensischen Staatlichkeit gegenüber aufgeschlossen zu sein. Nachdem Israel 1967 das Westjordanland erobert hatte, begann es sofort mit einer ehrgeizigen Siedlungsbaupolitik. Im Jahr 1983 ordnete das Militär die Errichtung eines Straßennetzes an, das das Westjordanland teilen sollte, um die Sicherheitskontrolle über alle palästinensischen Gemeinden dort zu gewährleisten. Trotz der Gespräche mit den Palästinensern während der Regierungen von Yitzhak Rabin und Shimon Peres zwischen 1992 und 1996 und darüber hinaus wurde der Ausbau der Siedlungen fortgesetzt. Die aufeinanderfolgenden Regierungen errichteten Tausende von Wohneinheiten und begründeten dies mit der Notwendigkeit, die Siedlerbevölkerung zu vergrößern, die sich zwischen 1993 und 2000 verdoppelte. Die palästinensische Eigenstaatlichkeit wurde im Rahmen der Osloer Abkommen, die von Rabin unterzeichnet wurden (der gesagt haben soll, es gebe keinen Platz für einen palästinensischen Staat), nie zugesagt.

Barak bot den Palästinensern 96 Prozent des Westjordanlandes an

Ehud Barak vertrat ebenfalls eine harte Linie gegen die palästinensische Staatlichkeit, obwohl er einen anderen Ton anschlug, bevor er 1999 Premierminister wurde. Als er 1993 Stabschef war, lehnte er das Oslo-I-Abkommen ab, in dem die allgemeinen Grundsätze des Friedens zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) erklärt wurden. Er enthielt sich auch bei der Abstimmung über das Oslo-II-Abkommen von 1995, das einen Zeitrahmen von fünf Jahren für die Lösung der Fragen des endgültigen Status wie den Status von Jerusalem, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, die Grenzen und die Gründung eines palästinensischen Staates vorsah. Barak begründete seine Vorbehalte damit, dass eine sofortige Aufnahme von Verhandlungen über eine dauerhafte Lösung für die noch offenen Probleme das Abkommen untergraben würde. Seine Position zu den Grenzen eines palästinensischen Staates schwankte jedoch erheblich. Nachdem er Premierminister geworden war, beschwerte er sich darüber, dass der PLO-Vorsitzende Jassir Arafat einen Vorschlag zur Gründung eines palästinensischen Staates auf 96 Prozent des Westjordanlandes abgelehnt hatte. Bei einer anderen Gelegenheit erklärte er gegenüber US-Präsident Bill Clinton, dass er einem palästinensischen Staat zustimmen würde, der 45 bis 50 Prozent des Westjordanlandes umfassen würde.

 

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Während der Gespräche in Eilat im Mai 2000 wies Barak einen hochrangigen israelischen Unterhändler an, den Palästinensern 80 Prozent des Westjordanlandes anzubieten – 66 Prozent sofort und weitere 14 Prozent einige Jahre später. Das Scheitern einer Einigung und der Beginn der zweiten Intifada im September 2000 veranlassten die israelische Führung, einschließlich Barak, die Besiedlung des Westjordanlandes zu beschleunigen und die Palästinenser in unzusammenhängende Enklaven auf engstem Raum zu zwängen. Als Barak Premierminister wurde, beschleunigte sich der Bau neuer und die Ausweitung bestehender Siedlungen. Im ersten Jahr seiner zweijährigen Amtszeit wurden 5760 Wohneinheiten gebaut, und im ersten Quartal 2000 stieg der Siedlungsbau um 80 Prozent. Obwohl Barak öffentlich der Gründung eines palästinensischen Staates zustimmte, war er nicht bereit, dessen Souveränität zu akzeptieren, da ihm die Sicherheit sehr am Herzen lag. Die Kontrollmatrix machte die Idee eines palästinensischen Staates aufgrund des Ausbaus der Infrastruktur, einschließlich des Trans-Israel-Highway, der das Westjordanland mit zahlreichen Umgehungsstraßen und Sicherheitskontrollen durchquerte, praktisch unmöglich.

Bis in die 1980er Jahre stützte sich die israelische Militärdoktrin auf drei Säulen, die David Ben-Gurion während seiner Amtszeit als Ministerpräsident und Verteidigungsminister entwickelt hatte. Diese Säulen waren Frühwarnung, Abschreckung und Entschlossenheit. Obwohl Ben-Gurion ein Gegner Jabotinskys war, glaubte auch er, dass überwältigende Gewalt die einzige Sprache ist, die die Araber verstehen. Diese Politik, die es Israel ermöglichte, 1948, 1956, 1967 und 1982 überzeugende Siege gegen arabische Gegner zu erringen, brachte den israelischen Verteidigungsstreitkräften den Ruf einer „unbesiegbaren“ Armee ein.

Der Angriff vom 7. Oktober erforderte eine sofortige Reaktion

Das Auftauchen der Hisbollah im Jahr 1985 und ihr asymmetrischer Kriegsansatz inspirierten jedoch die Gründung der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad. Nachdem Israel konventionelle arabische Armeen gründlich besiegt hatte, nahm es die Hisbollah und die Hamas nicht ernst und betrachtete sie eher als Ärgernis denn als Bedrohung, sodass es schließlich seine Sicherheitsmaßnahmen lockerte. Der Aufstieg bewaffneter nichtstaatlicher Akteure führte zu einer Verschlechterung der israelischen Abschreckung und Entschlossenheit, auch wenn sich die neuen Akteure selbst als unfähig erwiesen, eine der beiden Säulen darzustellen. Für sie war bloße Standhaftigkeit ausreichend. Die Propaganda der Hisbollah stellte den israelischen Rückzug aus dem Südlibanon im Jahr 2000 als eine Niederlage für die israelischen Streitkräfte dar. Sie überzeugte auch viele Araber, einschließlich der Hamas, dass sie im Krieg von 2006 einen göttlichen Sieg errungen hatte, in dem Israel nicht so entschlossen kämpfte, wie es hätte sein können. Es wollte lediglich die Hisbollah bestrafen und einige Gefangene zurückholen, von denen sich später herausstellte, dass sie getötet worden waren. Angesichts seines begrenzten Engagements gegen die Hamas und die Hisbollah hat Israel nicht überzeugend gewonnen, was es seinen arabischen Gegnern ermöglichte, seine Siege als Niederlagen zu interpretieren.

Der Angriff der Hamas am 7. Oktober war eine noch nie dagewesene Verletzung der israelischen Sicherheit, die auf der Doktrin der überwältigenden Macht beruhte. Der Angriff erforderte eine sofortige Reaktion, um sicherzustellen, dass er sich nicht wiederholen würde. Dies erklärt Israels verheerende Vergeltung und seine Entschlossenheit, die Hamas zu vernichten, ungeachtet des internationalen Drucks, einen Waffenstillstand zu akzeptieren.

Israel betrachtet auch die Eröffnung einer Solidaritätsfront mit der Hamas durch die Hisbollah als eine weitere unerträgliche Herausforderung für seine nationale Sicherheit. Die israelischen Angriffe haben der Hisbollah einen hohen Tribut abverlangt, indem sie die meisten ihrer Stützpunkte und militärischen Infrastrukturen im Südlibanon zerstörten und Hunderte ihrer Kämpfer, darunter viele hochrangige Kommandeure, töteten. Die israelische Regierung hat bereits angekündigt, dass sie die militärische Bedrohung durch den Libanon ein für alle Mal beseitigen wird.

Benzion Netanjahu, der Vater des jetzigen Premierministers und persönlicher Sekretär Jabotinskys, prägte die Ansichten seines Sohnes über Israels regionale Feinde, die er als konfliktfreudig, kompromissunfähig und ständig auf Krieg lauernd ansah. Angesichts des militärischen Verhaltens Israels seit vorigem Oktober scheint Benjamin Netanjahu entschlossen zu sein, den Grundstein für die Art von regionalem Frieden zu legen, die Jabotinsky sich erhoffte.

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Wilhelm Keyser | So., 28. April 2024 - 08:24

...wechseln die Israelis tatsächlich in eine härtere Gangart, verabschieden sich zumindest intern von der 2-Staaten-Lösung. Da die Hamas nur Terror kennt und keinen Frieden möchte, sichert das langfristig die eigene Existenz und letztlich auch den Frieden. (Haupt-) Problem dürfte sein, in der Anfangsphase und evt. noch mittelfristig das Volk dahinter zu vereinen. Kurzfristig müsste ganz Gaza infiltriert werden um die verbliebenen Geiseln endlich den Hamas-Terroristen zu entreißen und der Terrorfürsten habhaft zu werden, tot oder lebendig. Dabei muss nicht zuletzt auf die voreingenommene (intern.) Presse geachtet werden. Zumindest mittelfristig müssen die eigenen militär. Fähigkeiten weiter ausgebaut werden, insb. um iran. Atomanlagen auch ohne Mithilfe der USA angreifen zu können. Das alles ist ein schwieriges Unterfangen.

Das klingt alles sehr nach eine potentiellen Eskalationsspirale.
Was wäre denn die Alternative zu einer 2-Staaten-Lösung? Ein Staat, in dem die Palästinenser vollwertige Staatbürger werden? Da felhlt mit die Fantasie, wie das funktionieren sollte.
Was die momentane Situation zeigt:
1) Die Palästinensischen Zivilisten sind den meisten arabischen Staaten herzlich egal. Sie nutzen den Konflikt aber gerne für Ihrer eigene innen- und aussenpolitische Agenda aus.
2) Nethanjahus Strategie der letzten Jahre, den Konflikt mit den Palästinensern zu "managen" anstatt auf eine Lösung hinzuarbeiten ist gescheitert
3) Die meisten internationalen Verbündeten Israels sind nicht bereit, Israel einen Freibrief auszustellen. Die Duldung der illegalen Siedleraktivitäten seitens Israel hat keinen internationalen Rückhalt.

Gerhard Hellriegel | So., 28. April 2024 - 08:58

Die einzige Lösung, die wirklich lebensfähig wäre und die Frieden bringen könnte, wäre ein einziger Staat für ganz Palästina. Das aber können die Juden nicht zulassen, weil es muslimische Mehrheit bedeuten würde und für ihr Trauma inakzeptabel ist. Also wird das Thema durch Gewalt entschieden. Die Israelis werden immer "palästinensischer": "from the river to the sea, Israel will be free". Bleibt die Frage: was tun mit den palästinensischen Eindringlingen? Bürger Israels können sie nicht werden. Homelands? Vertreibung?

Karl-Heinz Weiß | So., 28. April 2024 - 10:05

Die Rückgängigmachung der 2000 Jahre zurückliegenden Vertreibung setzt die Vertreibung anderer Volksgruppen voraus und wird von den Ultraorthodoxen mit dem AT gerechtfertigt. Der Diplomatie werden ihre Grenzen aufgezeigt.

Heidemarie Heim | So., 28. April 2024 - 11:43

In Israel ein schwieriges Unternehmen, da man die Lehren/Erkenntnisse/Überzeugungen Jabotinskys und der endlosen Geschichte der Auseinandersetzungen hat schleifen lassen oder als bisher überlegener Sieger mit einiger Arroganz den Aufwuchs des Gegners Hamas, Dschihadisten und Hisbollah nur als lästiges Übel einordnete. Und nun eines Besseren blutig belehrt der einerseits tief traumatisierten aber andererseits auch sicherheits-und außenpolitisch liberaler eingestellten Gesellschaft die nun sich daraus ergebene Kompromisslosigkeit im Kampf gegen den Terror erklären müssen. Oder eine Stufe unterhalb der Doktrin als Staatsräson (Interessen des Staates)durchzusetzen bereit ist vor allen anderen (individuellen) Interessen.
Dies beinhaltet naturgemäß ordentlich Sprengstoff für eine so diverse/heterogene u. demokratisch verfasste Gemeinschaft wie in Israel, die gegenüber dem Feind, dessen Verbündeten wie z.B. dem Iran durch innere Zerrissenheit in die Hände spielt wenn man das Ziel verfehlt. FG

Hans Süßenguth-Großmann | So., 28. April 2024 - 14:01

der Wahrheit bleiben. Israel ist ein koloniales Projekt und die Palästineser, (die Mehrheit) die keine Staatsbürger Israels sind werden unterdrückt. Wenn ma

Hans Süßenguth-Großmann | So., 28. April 2024 - 14:08

Wenn die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, dann muss man sich zu diesen Tatsachen bekennen und sie nicht wegleugnen. In die Zukunft gedacht, bin ich aber nicht optimistisch für Israel, weil die Feinde auch stärker werden und die Verbündeten im Engagement nachlassen werden.