Frau in Istanbul / dpa

Frauenrechte in der Türkei - „Brot ist wichtiger als Konservatismus“

Bei den Kommunalwahlen in der Türkei wurden viele Frauen in Bürgermeisterämter gewählt. Im Interview erklärt die Frauenrechtlerin Canan Güllü, wie die Erfolge der Oppositionsparteien die politische Zukunft des Landes und seiner Frauen verändern könnten.

Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

So erreichen Sie Ilgin Seren Evisen:

Die 1962 geborene Canan Güllü, Präsidentin der Föderation der Frauenverbände der Türkei (TKDF –Türkiye Kadin Dernekleri Federasyonu), setzt sich seit vielen Jahrzehnten für die Rechte türkischer Frauen ein. Güllü beobachtet mit großer Sorge den Aufstieg salafistischer Bewegungen und die Rücknahme von bisher erkämpften Rechten türkischer Frauen. Von europäischen Staaten fordert sie mehr Solidarität mit türkischen Frauen und ein Ende des Stimmrechts von Auslandstürken bei Wahlen in der Türkei.

Frau Güllü, während der Regierungszeit der AKP hat sich die Türkei von der Istanbul-Konvention verabschiedet und verzeichnet einen rasanten Anstieg der Femizide. Wie erleben Sie als Aktivistin für Frauenrechte die Regierungszeit der AKP?

Die AKP, die 2002 an die Macht kam, arbeitete bis etwa 2011 eng mit Frauen-NGOs zusammen, um Veränderungen anzustoßen. Insbesondere im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses war diese Zusammenarbeit eng. Aber ab dieser Zeit trat der Begriff „Familie“ anstelle von „Frau“ immer stärker in unseren Diskurs ein, schließlich wurde dann das Ministerium für Frauen in Ministerium für Familie umbenannt. Ab 2011 wurden viele Errungenschaften der Republik, insbesondere Frauenrechte, in Frage gestellt. In dieser Zeit führten zunehmende Geschlechterungleichheit und wirtschaftliche Not zu einem Anstieg der Gewalt gegen Frauen, zu einem Anstieg von Fällen von Kindesmissbrauch und zu einem Anstieg der Femizide. Zusätzlich führte der Rückzug aus der Istanbul-Konvention dazu, dass Frauen als Bürger zweiter Klasse betrachtet wurden, denen das Recht auf Leben genommen wurde. Derzeit werden Änderungen im Zivilgesetzbuch erwartet, und wir rechnen damit, dass queere Menschen in der Türkei existenziellen Bedrohungen ausgesetzt sein werden. 

Die Türkei verzeichnet neben dem Anstieg an Femiziden auch einen Anstieg an Gewalttaten gegenüber Frauen. Sie berichten oft darüber. Worauf führen Sie den Anstieg dieser Taten zurück? 

Canan Güllü / privat

Als TKDF („Föderation der Frauenverbände der Türkei“) verfolgen wir den Anstieg der häuslichen Gewalt in der Türkei seit 2007 durch unseren Notrufservice für häusliche Gewalt, der Opfern in der Türkei und in 40 anderen Ländern hilft. Wir sagen immer wieder, dass einer der Gründe für diesen Anstieg die vorherrschende und politisch geförderte Geschlechterungleichheit zwischen Männern und Frauen ist.

Und genau diese Geschlechterungleichheit ist Teil des politischen Programms einiger politischer Parteien. So zum Beispiel der Yeni-Refah-Partei. Bei den Kommunalwahlen am 31. März gewann die islamische Yeni-Refah-Partei die Städte Yozgat und Şanlıurfa. Was heißt der Sieg einer Partei, die die Kinderehe legitimieren will, für die politische Zukunft der türkischen Frau?

Die letzten Kommunalwahlen haben uns nicht sehr besorgt, auch die Wahlerfolge der Yeni-Refah-Partei in diesen beiden Städten nicht. Denn dort sind Frauen schon länger marginalisiert. Die AKP nimmt seit langer Zeit gerade in Städten, in denen die Geschlechterungleichheit derart ausgeprägt ist, über islamische Bruderschaften und Sekten politisch Einfluss. Aus diesem Grund bereitet uns der Sieg der Yeni-Refah-Partei, die sich eigentlich kaum von der AKP unterscheidet, keine Sorgen. 

Einige Politikwissenschaftler prognostizieren, dass es einen inneren Machtkampf zwischen der AKP und der Yeni-Refah-Partei geben wird. Glauben Sie, dass dieser Machtkampf dazu führen könnte, dass die Yeni-Refah-Partei noch erfolgreicher und das Land noch konservativer wird?

Ein innerer Machtkampf wird sicherlich stattfinden. Dies ist eine Auseinandersetzung, die aus der Zeit von Necmettin Erbakan stammt (Anmerkung der Redaktion: Erbakan gehört zu den Vordenkern und Gründern der Vorgängerpartei Refah-Partei und ist der Vater des jetzigen Parteivorsitzenden Fatih Erbakan). Außerdem ist die Regierungspartei AKP nach 20 Jahren Regierungszeit müde. Daher wird die Yeni-Refah-Partei von vielen Konservativen als „frisches Blut“ bevorzugt werden. In Bezug auf Konservatismus glaube ich nicht, dass die Gesellschaft in Zukunft verstärkt durch religiöse Motive manipuliert werden wird und dass der Konservatismus weiter zunehmen wird. Insbesondere angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen in Nachbarländern wie dem Iran und Afghanistan glaube ich nicht, dass eine weitere Verschärfung der konservativen Tendenzen zu erwarten ist.

In vielen Städten haben sich bei den Kommunalwahlen Oppositionsparteien wie die CHP durchgesetzt. Wie interpretieren Sie diese Erfolge der CHP?

Die Ergebnisse der letzten Kommunalwahlen zeigten, dass die sozialen Dynamiken der Gesellschaft sehr vielfältig sind. Wir haben Wahlergebnisse gesehen, die kein Wissenschaftler vorausgesagt hat. Diese unerwarteten Ergebnisse zeigen uns: Die Bürger und Bürgerinnen des Landes sind sich der Entwicklung des Landes und der vorhandenen Probleme durchaus bewusst. Sprich, wenn die Gesellschaft wirtschaftliche Sorgen hat, ist Brot wichtiger als Konservatismus. 

Die sozialdemokratische Oppositionspartei – CHP – hat in vielen Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir und Bursa die Wahlen gewonnen. Können die Erfolge der CHP die Politik der Regierung und des Landes dauerhaft verbessern?

Die CHP wird nun Städte und Regionen verwalten, die 80 Prozent der wirtschaftlichen Kraft des Landes ausmachen. Die Verwaltung von 15 Großstädten wird von der CHP übernommen. Diese neue Verwaltung wird sich von der bisherigen in AKP-regierten Städten regierenden Kultur des Gehorsams unterscheiden. Ich glaube daran, dass die CHP einen politischen Kurs verfolgen wird, der sich stärker auf Frauenrechte konzentriert und dass dieser Ansatz sich auch im gesamten Land durchsetzen wird. 

Wie reagieren die Frauen dieses Landes auf die Erfolge der CHP? Können Frauen und die Jugend auf eine liberalere Türkei hoffen?

Bei diesen Wahlen wurde ein besorgniserregendes Muster vergangener Wahlen aufgebrochen: Es wurden sehr viele Politikerinnen gewählt. In vielen Städten wurden Politikerinnen zu Bürgermeisterinnen gewählt. Die Gesellschaft betrachtet diese Errungenschaften sehr positiv. Insbesondere angesichts einer Regierung, die kurz davor war, den Konservatismus als Peitsche zu verwenden, ist eine Verwaltung, in der Frauen als Bürgermeisterinnen agieren und auf den Straßen tanzen, für alle eine Erleichterung.

Kann der Sieg der CHP den derzeitigen Brain-Drain stoppen? 

Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Aber es ist zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung und gibt Anlass zur Hoffnung auf eine von den Frauen und der Jugend des Landes angestrebte Zukunft. Wenn dieser Prozess richtig gemanagt wird, kann er den Brain-Drain bald umkehren, was vielversprechend für die von uns erhoffte Zukunft ist.

Sie haben intensive Beziehungen zu NGOs, die sich für Frauenrechte einsetzen. Welche Türkei und welche politische Zukunft wünschen sich die Frauen dieses Landes?

Wir Frauen sind die Enkel derjenigen, die vor der Gründung der Republik Türkei für dieses Land gekämpft haben und die die Republik gegründet haben. Daher ist unser Anspruch und unser Kampf für ein Land, das von einem laizistischen, demokratischen, modernen Rechtsstaat regiert wird, in dem Gleichheit in der Verfassung verankert ist. Wir wollen ein Land, in dem wissenschaftlicher Verstand, Bildung und Demokratie herrschen, nicht die Mullahs und Führer von Sekten. Wir werden weiter für unsere Forderungen kämpfen und uns für die Aufrechterhaltung der Türkei als laizistische Republik einsetzen. Wir wissen, dass schöne Tage kommen werden, und wir kämpfen für diese laizistische Türkei. 

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.

Ernst-Günther Konrad | Di., 7. Mai 2024 - 09:52

"Ich glaube daran, dass die CHP einen politischen Kurs verfolgen wird, der sich stärker auf Frauenrechte konzentriert und dass dieser Ansatz sich auch im gesamten Land durchsetzen wird." Sind Muslime in der AKP oder CHP auch religiös inhaltlich anders aufgestellt? Sie hoffen auf die CHP, wissen es aber nicht. Was sagt die CHP denn zum Thema Frauenrechte, da lese ich leider nichts darüber? Und lockt die CHP am Ende die Frauen nur mit Versprechen und ist letztlich genauso frauenfeindlich wie die AKP? Das Problem mit den Frauen hat Euer Glaube und nicht nur eine Partei. Dennoch wünsche ich natürlich alles Gute und das es so kommt, wie sie es sich wünschen.