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(2011 Landesarchiv Berlin, Schirmer/Mosel) Rosenthals geheime Fotografie von Robert Musil im Gericht

Leo Rosenthal - Ein früher Paparazzo auf der Weltbühne

Leo Rosenthal, der lettische Jurist und Gerichtsreporter, war ein früher Paparazzo auf der Weltbühne. Seine eher zufälligen Schnappschüsse sind wichtige Zeitdokumente der Weimarer Republik. Über ein unbekanntes Bildnis Robert Musils, aufgefunden im Archiv Leo Rosenthals

Das Verbrechen war in den Goldenen Zwanzigern allgegenwärtig, ein beliebter und gesuchter Sonderfall, der zweierlei illustrierte: dass die Zivilgesellschaft dabei war, eine zu werden, und dass es einen maroden Urgrund gab, gegen den sie sich absetzen musste. Nur so kann man erklären, dass Bildende Künstler von großem Renommee und unzweifelhafter Progressivität in ihren Wilmersdorfer Ateliers «Frauenmörder» nachspielten, in Schnappschüssen und Gemälden, und sich gar nicht genug darüber amüsieren konnten, ihre Musen mit ihnen.

Der Verbrecher war der Freak. Vor dem Richter kniend und nicht stehend, weil von den Knien abwärts amputiert, wurde einer gefragt: «Wie konnten Sie das Auto stehlen?» Antwort: «Weshalb sollte ich denn nicht gekonnt haben? War ja ganz einfach.» So hat es Leo Rosenthal auf der Rückseite eines Fotos notiert, ein lettischer Jurist, der 1920 als Gerichtsreporter in Berlin Fuß gefasst hatte und 1969 in New York starb, nachdem er den Transfer von 3000 Negativen ins Landesarchiv der Stadt West-Berlin bewerkstelligt hatte. Rosenthal, einsamer überlebender Spross seiner Familie, wusste, dass er ein Zeuge war.

Dass Rosenthal Zeugen vor Gericht fotografierte, war eher unwahrscheinlich, weil im Gerichtssaal zu fotografieren eine auf allen Ebenen – politisch, juridisch, medial – hoch umstrittene Angelegenheit war, und der Konsens lautete, dass die Totale als Geschichtsbild vielleicht durchgehe, das Porträt jedoch gewiss unter das Persönlichkeitsrecht falle. Rosenthal fotografierte – als Zeugen – Albert Einstein und auch Adolf Hitler.

Noch unwahrscheinlicher war eine Porträtstudie von Zuschauern, wie sie aus dem Archiv Rosenthals, mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod, aufgetaucht ist: Robert Musil in der Mitte zweier Ladies, die seine Zurückhaltung demonstrieren. Die Damen amüsieren sich offenkundig über das, was vor Gericht verhandelt wird. Ein dynamisches Querformat.

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Es stimmt, dass fähige Fotografen nicht durch den Sucher gucken müssen, um ihr Bild zu finden, aber die geheime Kamera unterliegt nochmals anderen Regeln. Sie wird hinter Büchern oder unter Hüten versteckt oder sie lugt wie ein falscher Knopf durch die Öffnung eines Mantels. Deshalb gelingt ihr keine objektive Beschreibung eines Raums. Man sieht dem Bild seine Heimlichkeit an. Mit ein bisschen Routine wird auch dies wiederum instrumentalisiert. Natürlich war Rosenthal bewusst, dass eine liegende Kamera den unmittelbaren Vordergrund wiedergibt wie eine Bühne; die Zuschauer vor Gericht werden allein dadurch zu Zuschauern eines Spektakels.

Nicht, dass ein Dreifachporträt aus großer Nähe nicht noch präziser hätte gebaut werden können, wenn es nicht heimlich hätte gemacht werden müssen. Dennoch zeigt das Bild Musils im Gericht einige formale Glücksfälle: auf seiner Augenhöhe liegt die Hell-Dunkel-Trennung des Saals. Die heitere Matrone leuchtet kräftig gegen die dunkle Türfassung im Hintergrund. Und das moderne Fräulein ist gegen eine hölzerne Balustrade so gesetzt, dass es wirkt, als sei sie im letzten Moment dazu gekommen. Es wäre, ohne intime Kenntnis der Zeit und Umstände, völlig unmöglich zu sagen, ob die drei Figuren zusammengehören. Suggeriert wird es. Das noch gebremste und schon offen gezeigte Amüsement der Ladies überträgt man mühelos auf den Dichter in der Mitte, der nicht Partei nimmt, aber sich seinen Teil denkt; und was er denkt, meinen wir in den Gesichtern der Figuren links und rechts zu erkennen.

Obwohl das Bild laut Rosenthals Beschriftung 1932 entstanden ist, hatte der Fotograf merkwürdigerweise keine Leica. Vielleicht konnte er sich keine leisten, oder seine Abnehmer dachten, dass man von einem kleinen Negativformat nicht drucken könne. Jedenfalls sind seine Aufnahmen auf Glasplatten von Zigarettenschachtelgröße entstanden, und man fragt sich, ob er – wie der berühmte Kollege Erich Salomon – nach jeder Aufnahme den Saal verlassen musste, um die Platte zu wechseln. Jedenfalls hatte Fotografie damals mit dem heute üblichen trial and error nichts zu tun. Es ging immer um eine Verdichtung von Entscheidungen.

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Rosenthal, der Jurist, der jahrelang über Strafprozesse schreibend berichtete, bevor er zu fotografieren begann, war ein typischer Vertreter jenes Exilanten, in dessen beruflichem Lebensweg sich Kenntnis, Not und Chance amalgamieren – vielleicht sollte man für diese Karrieren den Begriff «displaced professions» einführen.

Der Schein trügt: Niemand würde darauf kommen, dass hier ein Dichter saß, der über der Entstehung seines Hauptwerks «Der Mann ohne Eigenschaften» in größte Geldnot gekommen war, abhängig von einem finanziell strauchelnden Verleger. Das Deutsche Reich war kurz davor, sich in ein Justizmonster zu verwandeln. Groteskerweise ging dieser Prozess um einen Beitrag in einer Zeitschrift, die «Unser Kampf» hieß. Ein persischer Student hatte darin den Schah von Persien beleidigt, einen Despoten, den Vater Reza Pahlavis. Man sieht in den Reaktionen noch den Geist der Weimarer Republik, eine gewisse Weltläufigkeit und Aufsässigkeit.

Das Bild gibt eine Vorahnung späterer Grinseprozesse, gegen Aktivisten der Kommune I in Berlin und gegen Ensslin und Baader in Frankfurt am Main. Unklar ist, was Robert Musil bewog, sich dieses Verfahren anzusehen. Der Prozess und der Name des angeklagten Studenten, Martesa Alawi, kommen in Karl Corinos Musil-Biografie nicht vor. Fest steht, dass Musil in diesem Jahr viele Monate in Berlin war und dass er wie der Fotograf später im Exil leben und sterben würde.
Rosenthal schaffte es über Casablanca nach New York. Dass kiloweise Glasplatten dort mit ihm ankamen, zeigt, dass ihm der Wert des Materials bewusst war.

In New York brachte er es zum offiziellen Porträtfotografen der Vereinigten Nationen. In Berlin wiederum vergingen vierzig Jahre, bis die Aufarbeitung seines Archivs begann, deren Querschnitt nun ein Bildband wiedergibt – siebzig Jahre nach Musils Tod. Der Schriftsteller hat das Bild natürlich nie gesehen, aber er wird auch nicht gemerkt haben, dass er fotografiert wurde. Die stillen Paparazzi sind eben die besten

Dieser Text ist eine Buchbesprechung zu
Leo Rosenthal: Ein Chronist der Weimarer Republik. Fotografien 1926-1933, Verlag Schirmer/Mosel, München 2011. 159 S., 29,80€

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