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World Wide Web - Wahnsinnig schlau oder restlos doof?

Brutstätte des Shitstorms auf der einen Seite, Hort der Schwarmintelligenz auf der anderen Seite: Immer wieder werden dem Internet Dinge nachgesagt, für die es eigentlich nichts kann. Es ist an der Zeit, das WWW zu entmystifizieren und zu entdämonisieren

Autoreninfo

Christian Jakubetz, Jahrgang 1965. Stationen u.a. beim ZDF, N 24, ProSiebenSAT1 sowie bei diversen Tageszeitungen. Dozent u.a. an der Deutschen Journalistenschule in München und Lehrbeauftragter an der Universität Passau. Herausgeber des Buchs “Universalcode” (Euryclia, 2011). Seit 2006 freiberuflich tätig u.a. für das ZDF, die FAZ und die deutsche Ausgabe von “WIRED”. Blogger mit “jakblog.de”.

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Nehmen wir an, wir haben ein Problem, Sie und ich. Und wir kommen einfach nicht dahinter, wie die Lösung dieses Problems aussehen könnte. Deshalb ziehen wir Leute zu Rate, hundert an der Zahl. Mit sehr, sehr viel Glück bekommen wir von hundert Leuten die richtige Antwort. Mit sehr viel Pech bekommen wir hundert falsche Antworten. Die Statistiker unter Ihnen werden beide Möglichkeiten als hochgradig unwahrscheinlich bezeichnen und darauf verweisen, dass es eine relativ hohe Chance gibt, dass die Antworten zu einem bestimmten Teil richtig und zu einem anderen bestimmten Teil falsch sein werden. Vielleicht werden diese Anteile von Tag zu Tag, je nach dem, wie sich diese hundert Leute zusammensetzen, mal nach oben und mal nach unten ausschlagen, über einen längeren Zeitpunkt hinweg dürften sich aber die Anteile der richtigen und der falschen Antworten stabilisieren. Statistiker nennen das eine Regression zur Mitte.

Man kann aus diesem simplen Beispiel auch etwas Anderes folgern: Intelligenz, das ist keine Sache, die sich beliebig steigern und abrufen lässt. Intelligenz ist einfach da, in mehr oder minder großen Mengen. Wenn man also von einer Schwarmintelligenz im Netz spricht, dann ist das erst einmal ein irreführender Begriff. Weil er suggeriert, dass sich Intelligenz erhöht, wenn sich Menschen im Netz treffen. Erst einmal ist das Netz nur eine Möglichkeit, Intelligenz zu mobilisieren und zu kanalisieren. Man könnte auch sagen: Es ist einfacher, hundert Leute im Netz zur Lösung einer Frage zusammenzubringen als jeden einzelnen dieser hundert anzurufen.

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Das Netz ist kein Hort der per se höheren Intelligenz. Wer wollte das bestreiten, wer schon mal auch die dunklen Seiten von Schwärmen kennengelernt hat, die dann durchs Netz shitstormen, sich dort auskotzen und sich benehmen, als habe es eine menschliche Zivilisation nie gegeben? Nebenbei bemerkt: Daraus zu schlussfolgern, wie es von Netzgegnern immer wieder gerne getan wird, dass das Netz vor allem Dummheit, Aggression, Demenz und Hemmungslosigkeit fördere ist trotzdem so falsch, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Das Großartige an diesem Internet ist also nicht, dass es als Intelligenzverstärker auftritt. Es ist nur die beste und zukunftsträchtigste Form der Kollaboration, Kommunikation und Interaktion von Menschen, die man sich prinzipiell denken kann.

Warum das so ist, zeigt ein Beispiel, das auf den ersten Blick nichts mit dem Netz und seiner mutmaßlichen Intelligenz zu tun hat: Laut aktueller Shell-Studie bezeichnet sich ein ganz beträchtlicher Teil junger Menschen in Deutschland als interessiert und gesellschaftlich engagiert. Trotzdem sind Veranstaltungen von noch so wohlmeinenden Parteien oder Organisationen leer. Vermutlich deshalb, weil sie schlichtweg eine antiquierte Form des Zusammenkommens sind. Die analoge Versammlung an einem Biertisch mit ein paar mehr oder weniger langweiligen Rednern und Vorträgen hat sich überlebt.

Warum dieses Beispiel? Das Netz ist die neue Versammlung, um Ideen entstehen zu lassen, um gesellschaftliches Engagement zuzulassen. Möglicherweise ist es sogar der einzige Ort, wo solche Dinge zukünftig passieren werden. Das Netz ist also ein riesengroßer Versammlungssaal, eine gigantische Mobilisierungsmaschine,  was aber nichts über die Intelligenz derer aussagt, die sie nutzen.

 

Zu den größeren Mysterien dieses Internets gehört ja ohnehin, dass man immer wieder versucht, ihm Dinge nachzusagen, für die es eigentlich nichts kann. Und das gilt für alle Seiten, für Befürworter ebenso wie die eingefleischtesten Gegner. Es soll Menschen zu mehr Intelligenz verhelfen und zu mehr Wissen, sagen die einen. Es mache die Menschen dümmer, willfähriger, dement, zu Mündeln machtvoller Industrien und zum Opfer der NSA sowieso. Sagt die Generalversammlung der Kulturpessimisten und Digitalapokalyptiker. Es sind dieselben Mythen, die sich bisher noch um nahezu jedes neue und vor allem elektronische Medium gerankt haben; vor 30 Jahren hat es beispielsweise die eher harmlose Quatsch-Soap „Dallas“ dazu gebracht, Gegenstand einer Bundestagsdebatte zu werden – und es gab zu dieser Zeit nicht wenige, die sich für ein Verbot der Serie aussprachen. Heute würde man titeln: „Dallas macht dement!“ Dass es mit der kollektiven Intelligenz auf diesem Planeten nach „Dallas“ entscheidend abwärts gegangen ist, lässt sich nicht behaupten. Und falls doch, gibt es dafür vermutlich andere Gründe als die Abenteuer eines texanischen Öl-Clans.

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Auch in anderen Dingen unterscheiden sich das Fernsehen und das Netz eher wenig: Es kommt immer darauf an, wie man es nutzt. Unbestritten sieht man im TV unfassbar viel, was der intellektuellen Bankrotterklärung gleich kommt. Ebenso unbestritten kann man dort aber auch jeden Tag auf echte Perlen stoßen, wenn man denn weiß, wo man sie suchen kann und muss. Niemand käme allerdings wegen dieser Perlen auf den Gedanken, das TV für seinen Beitrag zum wachsenden Niveau im Lande D. zu gratulieren. Das ist im Netz das gleiche Spiel, in beide Richtungen. Es verdummt nicht, man findet dort aber auch nicht per se die Intelligenz in Schwärmen. Verfechter dieser Idee unterliegen dem Trugschluss, mögliche eigene Erfahrungen zu stark zu gewichten und sie zum Maß aller Dinge machen zu wollen.

Aber bitte, jubilieren Sie nicht, falls Sie sich jetzt gerade gedacht haben, das hätten Sie ja schon immer gewusst. Damit ist nichts anderes gesagt, als dass es an der Zeit wäre, das Netz sowohl zu entmystifizieren als auch zu entdämonisieren. Das Netz als das Kommunikationsmittel der Zukunft (nein halt, besser: der Gegenwart) zu begreifen, es sich so nutzbar zu machen, wie man es möglicherweise beim TV vergessen hat, das wäre eine lohnenswerte Aufgabe. Das Netz als gesellschaftliches und politisches Großprojekt definieren – anstatt es als Neuland zu bezeichnen oder mit Radikalpositionen in Ecken zu stellen, in die es nicht gehört: Würde man sich auf diese Idee einigen, kein Mensch müsste mehr darüber debattieren, ob das Netz wahnsinnig schlau oder einfach nur restlos doof ist.

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