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Pariser Polizei-Erlebnisse - Zum Glück rief er nicht „Allahu Akbar!“

Draußen marschierten Angela Merkel, François Hollande und Millionen Trauernde für die Charlie-Hebdo-Opfer. Drinnen wollte Carlos Widmann einfach nur Geld abheben. Da näherte sich ihm ein Jugendlicher – und machte etwas Kurioses mit dem mehrfach ausgezeichneten Reporter

Autoreninfo

Carlos Widmann ist in Buenos Aires geboren, und war jahrelang Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und des Spiegel. Seine Reportagen wurden unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Journalist in Paris und Umbrien

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Ich, ein friedfertiger Rentner im dritten Arrondissement, wollte an diesem sonnigen Sonntagmorgen nur das Brot holen. Unsere Wohnung liegt vierzig Meter vom Cirque d'Hiver entfernt, dem prächtigen, 150 Jahre alten Winterzirkus, wo sich am Mittag die „Reporter ohne Grenzen“ versammeln wollten, um später mit François Hollande, Angela Merkel, David Cameron, Benjamin Netanjahu und einer Million Parisern für die Pressefreiheit und gegen den Terror zu marschieren. Noch aber waren alle Straßen wunderbar leer, und auf dem Weg zum Bäcker in der Rue de Bretagne wollte ich mir an der Ecke noch etwas Geld holen.

Im Bankraum mit den automatischen Schaltern lag eine schlafende Gestalt auf dem Fußboden; das kann in Paris vorkommen. Als ich indessen die Bankkarte eingeschoben und meinen Code eingetippt hatte, stand der Schlafende auf einmal neben mir und war hellwach.

Es handelte sich um einen Jugendlichen weißer Hautfarbe, der ebenfalls Bargeld benötigte, aber anscheinend keine Bankkarte besaß. Er schob sich geschmeidig zwischen den Geldautomaten und mich, wobei es ihm gelang, auf den roten Knopf mit der Beschriftung „Annuler“ zu drücken. Ich war schon erleichtert, dass er nicht „Allahu Akbar!“ gerufen hatte, und es gelang mir, die nun wieder herauskommende Bankkarte selber zu ergreifen und in die Hosentasche zu stecken. Nachdem ich den Jugendlichen weggestoßen und in französischer Sprache beschimpft hatte, entfernte ich mich zügig in Richtung Bäckerei.

Schon nach wenigen Schritten fiel mir aber ein, dass ich für meinen Einkauf Bargeld benötigte, also kehrte ich um und ging zur Bank zurück. Dort stand inzwischen eine halbe Hundertschaft nervöser, dunkelblau uniformierter, mit schusssicheren Westen, Maschinenpistolen und schwarzen Knüppeln ausgerüsteter Mitglieder der Police Nationale. Weder dem Jugendlichen noch mir war vorher aufgefallen, dass in einer Seitenstraße mehrere blau gestrichene Busse und Panzerfahrzeuge geparkt waren – Sicherheitskräfte, die das Geschehen im Umkreis der nahe gelegenen Place de la République zu überwachen hatten. Dort lief allmählich die größte Menschenversammlung zusammen, die Paris seit der Befreiung durch die Alliierten im August 1944 erlebt hat.

Dann rief die Polizei bei mir an


Ein Sicherheitsmann dürfte durch die gläserne Schiebetür die Szene vor dem Geldautomaten beobachtet haben, worauf den Fahrzeugen die geballte, zur Terrorabwehr entschlossene Staatsmacht entströmt war. An die dreißig Uniformierte sprinteten in die Rue de Turenne, um den Jugendlichen zu verfolgen.

Nach ein paar Minuten hatten sie ihn gefasst – und beide wurden wir mit heulenden Sirenen auf das nächste Polizeirevier gebracht. Dort stellte ich klar, dass der etwa Sechzehnjährige keine Gewalt angewendet und mir (wie ich meinte) auch nichts gestohlen hatte. Nach kurzer Hinterzimmer-Vernehmung wurde er auf die Straße geworfen; ich hingegen empfing einen solidarischen Händedruck.

„The rest is history“, hätte ich nun schreiben können. Tatsächlich: nach dem Kauf der jetzt nicht mehr so frischen Frühstücks-Croissants begegnete ich auf dem Boulevard Beaumarchais einer gefühlten Million Menschen, und an der nahen U-Bahn-Station Oberkampf fuhr der Bus mit Angela Merkel und vierzig anderen Staatschefs vorbei, die alsbald untergehakt und mit betretenen Gesichtern durch eine Sperrzone in Paris gegen den Terror marschieren würden.

Das war‘s, sagte ich mir. Doch zwei Tage später klingelte das Telefon, und es meldete sich Monsieur Renaudot, Polizeirevier Beaubourg. Ich möge bitte einen Blick in mein Konto werfen.

Dort fehlten 300 Euro, abgehoben in Paris an jenem historischen Sonntagmorgen. Kaum hatte ich vor ihm Platz genommen und ihm meinen Kontoauszug gezeigt, blätterte Monsieur Renaudot feierlich zwanzig Geldscheine auf den Schreibtisch: zehn blaue Zwanziger, zehn rote Zehner.

„Die haben wir dem Jungen am Sonntag bei der Leibesvisitation abgenommen. Verhaften konnten wir ihn nicht: Er ist ein Profi, aber minderjährig. Bitte bedienen Sie sich.“

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