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Yuri Kochetkov/dpa

Ukraine-Krise - Was die Russlandversteher nicht verstehen

Die Deutschen projizieren ihre Kriegsschuld immer nur auf die Russen, sagt der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel. Das hat Folgen für die Wahrnehmung der Ukrainekrise. In dem Gesprächsband „Der Russland-Reflex“ seziert er das Verhältnis der Deutschen zu Russland. Ein Buchauszug

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Scherbakowa, Irina

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Karl Schlögel: In Deutschland gab es bis vor kurzem kein Bewusstsein davon, dass die Ukraine überhaupt existiert. Wenn es ein bleibendes Ergebnis der Ereignisse des Jahres 2014 gibt, dann ist es das Wissen, das Fuß gefasst hat, dass es einen Staat, eine Nation namens Ukraine gibt, die nicht eine Provinz Russlands ist. Vor einem Jahr konnte man in Talkshows unwidersprochen behaupten, „die Russen“ in der Ukraine würden unterdrückt. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass es russischsprachige Ukrainer gibt, dass die Ukraine ein zweisprachiges Land ist und von einer Diskriminierung des Russischen nicht die Rede sein kann.

Hierzulande wird ständig betont, dass wir Deutsche so viele Verbrechen gegenüber „den“ Russen begangen haben. Das ist wahr und das ist tief in unserem Bewusstsein verankert. Aber verschwiegen wird, dass diese Verbrechen an Sowjetbürgern, an den Völkern der Sowjetunion, also auch an Ukrainern, Weißrussen, vor allem aber auch an den sowjetischen Juden begangen wurden. Die sogenannten Russlandversteher verstehen das Einfachste nicht: dass die Sowjetunion nicht nur aus Russland bestand und dass „die Russen“ nicht die einzigen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen gewesen sind. Wir müssen diese Mental Map, die in den deutschen Köpfen existiert, auflösen, sie ist überholt. Russland ist nicht identisch mit der Sowjetunion. Und auch hier spielt die Kriegserfahrung wieder eine Rolle. Die Kriegsschuld der Deutschen wird hierzulande aus Unwissenheit immer nur auf die Russen projiziert.

Dabei wird übersehen, dass die Ukraine neben Weißrussland der Hauptschauplatz des deutsch-sowjetischen Krieges war, die Ukraine war komplett von Deutschen besetzt und ausgebeutet. Dort waren die größten Lager für sowjetische Kriegsgefangene, die man zu Hunderttausenden hat verhungern lassen; von dort stammte die Masse der ins Deutsche Reich deportierten Ostarbeiter; dort waren an Orten wie Babij Jar die Hauptschauplätze der Ausrottung der osteuropäischen Juden.

Ich schreibe gerade einen Essay über Kiew, vor dem Krieg eine Millionenstadt. Dort lebten im Herbst 1943 nur noch 180.000 Menschen, das muss man sich mal vorstellen. Wir wissen sehr viel über die Hungerblockade Leningrads, aber kaum etwas über die Situation in Kiew, Charkiw oder Stalino, das heutige Donezk. Die flächendeckende Zerstörung der Industrie im Donbass – übrigens an denselben Orten, die von den Separatisten verwüstet werden –, die Sprengung der Staudämme und Kraftwerke, die Entvölkerung der Krim, die nach Kriegsende und nach Stalins Deportation der Krimtataren praktisch neu besiedelt werden musste – all das kommt im deutschen Narrativ vom „Krieg gegen Russland“ gar nicht vor. Und wer interessiert sich in Deutschland schon für den Terror und die Katastrophe, die die Ukraine vor dem Krieg erleiden musste: die Hungersnot 1932/33 im Zuge der Kollektivierung, die mehr als drei Millionen Tote gefordert hat, oder wer spricht von den Stalin‘schen Säuberungen, in denen die nationale Elite vernichtet wurde?

Es waren nicht nur „die Russen“, die gegen Hitler gekämpft haben, und es waren nicht nur „russische Soldaten“, die in den ostdeutschen Kasernen stationiert waren. Das alte Sowjetreich existiert nicht mehr. Aus seiner Auflösung sind souveräne Staaten hervorgegangen, neben der Russländischen Föderation auch die Ukraine. Putin tut sich schwer mit dem Verlust, viele tun sich schwer damit, was ich sehr gut verstehe. Dass die Auflösung eines Imperiums besonders schwierig und schmerzhaft ist, das ist für jeden einsichtig. Ich kann sogar die Aussage Putins über das Ende der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ in einem gewissen Sinne nachvollziehen. Ich kann nachvollziehen, was damit gemeint ist.

Man muss sich das vorstellen: Nach dem Ende der Sowjetunion fanden sich mehr als 25 Millionen ethnische Russen außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation wieder. Das war für manche – vor allem im Baltikum – ein Gewinn, für noch mehr aber eine traumatische Erfahrung. Sie mussten ihr Leben gänzlich neu einrichten, sie verloren ihren Status, waren auf einmal Bürger zweiter Klasse, diskriminiert und zu Hunderttausenden aus ihrer Heimat – dem Kaukasus, den zentralasiatischen Staaten – vertrieben, während der russische Staat darauf nicht vorbereitet war. Dieser oft von Pogromen begleitete Prozess einer „wilden Vertreibung“ wurde im Westen in den 1990er Jahren kaum wahrgenommen.

Und dennoch: Wir müssen uns gedanklich und politisch endlich auf dieses Ende eines Imperiums einstellen. Es ist vorbei, und die Frage ist, was die russische Führung getan hat und was sie tut, um das Land in den postimperialen Status zu überführen und mit den postimperialen Phantomschmerzen fertigzuwerden.

Es gibt noch einen wichtigen Punkt, wenn man die deutsche Stimmung bezüglich Russland verstehen will: Die Menschen wollen in Ruhe gelassen werden. Wir alle. Auch ich will in Ruhe gelassen werden. Ich habe eine Menge Arbeit, schreibe an einem großen Buch über die Wolga. Putin hat dafür gesorgt, dass ich diese Arbeit im letzten Jahr unterbrach, weil ich jetzt nicht in Ruhe über die Wolga arbeiten kann, obwohl ich mich eigentlich darauf eingestellt hatte, das zum Abschluss zu ringen. Ich musste mich mit der Ukraine beschäftigen. Deshalb muss ich noch mal die Schulbank drücken und Andreas Kappeler und die Arbeiten anderer Ukraine-Spezialisten lesen, ich muss noch mal in die Schule, um zu verstehen, was das eigentlich für ein Land ist, die Ukraine.

Ich meine das in einem ganz buchstäblichen Sinne: ein Nachholen und Lernen. Ich beobachte das bei vielen Leuten in der ja nicht so großen, aber miteinander recht vertrauten Community der Osteuropa-Interessieren, speziell in der Russian Community, die seit einem Jahr mit nichts anderem beschäftigt sind, als 24 Stunden online zu sein: Sie lesen in Blogs, Zeitungen, in der „Ukrainskaja Pravda“, hören „Echo Moskwy“ und hoffen darauf, dass der Spuk morgen endlich ein Ende hat und wir wieder zur Tagesordnung übergehen können.

Es gibt eine große Sehnsucht danach, dass alles doch noch gut endet. Aber so sieht es nicht aus. Und die Geschäfts- und Unternehmenswelt scharrt nervös mit den Hufen, sie kann es gar nicht erwarten, wieder zum business as usual zurückzukehren. Aber es wird keine Rückkehr zum Status quo ante geben, solange die russische Aggression anhält oder gar weitergeht.

Wir reden immer von der Destabilisierung Europas. Die Destabilisierung aber zielt auch auf jeden Einzelnen von uns. Wir werden ja pausenlos von irgendwelchen neuen Nachrichten gejagt. Herta Müller hat zugegeben, dass Putin sie krank mache. Ja, so geht es vielen, auch mir. Man hat ein Gefühl der Ohnmacht, dass man an die Wand gespielt wird und eigentlich angesichts seines virtuosen Spiels nichts machen kann. Eigentlich bewundere ich jemanden wie den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, dass er noch nicht durchgedreht ist. Diese Situation zu managen, ist enorm schwierig. Und dabei rede ich noch nicht einmal von den Familien, die ihre Söhne oder Ehemänner an die Front schicken, sondern ich rede von uns, die weitab vom Schuss sind und die alle damit beschäftigt sind, intellektuell „nachzurüsten“, sich kundig zu machen, um in einem professionell geführten Informationskrieg bestehen zu können, standfest zu bleiben gegen die Shitstorms und Hasskampagnen, die „Putins Trolle“ instrumentieren und lancieren.

Ich halte es für notwendig, dass Leute, denen daran gelegen ist, verstehen, was vor sich geht, wenigstens einmal in die Ukraine fahren und sich umsehen. Ich finde es skandalös, dass Leute über die Ukraine reden, ohne je oder auch in letzter Zeit dort gewesen zu sein. Wer würde sich als Frankreich-Experte befragen lassen, ohne dass er die Sprache des Landes versteht oder ohne dort gewesen zu sein? Es geht nicht ohne Anschauung, wenn man sich ein Urteil bilden will.

Ich bin seit dem Frühjahr 2014 nicht in Russland gewesen, weil ich mich vor allem in der Ukraine umgesehen habe, aber auch, weil ich gar nicht wusste, was ich in Russland sagen soll. Es heißt immer, dass man Russland nicht genügend ernst nehme, dass man Russland auf Augenhöhe begegnen soll. Ich verstehe nicht, was damit gemeint ist: Eine große Nation wie die Russen ernst zu nehmen, heißt auch, sie nicht herablassend wie ein kleines Kind oder einen therapeutischen Fall zu behandeln, dem man Streicheleinheiten zukommen lässt.

Russland und „die Russen“ „auf Augenhöhe“ anzuerkennen, heißt auch anzuerkennen, dass sie eine Verantwortung haben für das, was sie tun oder was in ihrem Namen geschieht. Aber vielleicht ist das Bild selbst schon schief: Mit jemandem, der einen mit der Pistole bedroht, lässt sich schlecht der „herrschaftsfreie Diskurs“ führen, der in Deutschland zum Inbegriff einer idealen politischen Kultur geworden ist.

Irina Scherbakowa und Karl Schlögel: Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise, edition Körber-Stiftung 2015, 144 Seiten, 17 Euro.

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