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Türkeiexperte - „Es findet keine demokratische Debatte statt“

Yaşar Aydın ist Türkeiforscher an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er beobachtet seit Langem die politischen Entwicklungen in der Türkei. Mit Cicero Online sprach der Sozialwissenschaftler über die dortige Protestbewegung seit Anfang Juni und deren Auslöser

Autoreninfo

Bigna Fink hat Soziologie und Philosophie studiert. Sie lebt und schreibt u.a. in Berlin.

So erreichen Sie Bigna Fink:

Wie gelangen Sie zu glaubwürdigen Informationen über die aktuellen Ausschreitungen in Ihrem Geburtsland?
Über viele Bekannte in der Türkei bekomme ich wichtige Informationen, auch über die sozialen Medien. Augenzeugen berichteten mir vom gewalttätigen Vorgehen der Polizisten gegen die Demonstranten. Ein Freund in Ankara, ein ehemaliger Diplomat, sprach gar von einer sehr repressiven, beinah faschistoiden Atmosphäre seitens der Polizisten. Und der geht mit solchen Begriffen nicht leichtfertig um. Wochenlang standen Barrikaden der Demonstranten in den schmalen Gassen der Istanbuler Altstadt rund um den Taksim-Platz, wo es zu vielen Zusammenstößen mit der Polizei kam.

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Welche politische Richtung vertreten denn die Demonstranten?
Die Protestbewegung ist sehr heterogen – Menschen verschiedener kultureller Hintergründe und politischer Einstellungen gehen auf die Straße. Aleviten, Sunniten, Frauen mit Kopftuch, Säkulare - Konservative wie Liberale. Die größte Oppositionspartei, die CHP, ist vertreten, da diese Partei mehrheitlich von urbanen, säkularen Schichten getragen wird. Ich schätze, die Mehrheit der Demonstranten sind potenzielle CHP-Wähler aus der linken Mittelschicht. Eine Ad-hoc-Befragung von Wissenschaftlerinnen der Universität Istanbul unter 3000 Protestierenden hat ergeben, dass die Leute überwiegend jung sind und viele zum ersten Mal demonstrieren gehen. Die meisten von ihnen fühlen sich auch nicht in erster Linie einer Partei zugehörig. Sie bezeichnen sich als „Libertäre“  – die mehr Freiheit, mehr Demokratie fordern. Und das nicht nur in Istanbul, sondern türkeiweit. Viele empfinden sich durch Erdoğans Politik an den Rand gedrängt, weil die Regierungspartei AKP eindeutig eine religiös-konservative Lebenshaltung fördert. Die Demonstranten sehen schlicht ihre individuelle Lebensweise bedroht.

Kurzfristig fordern sie, dass die Bauarbeiten am Gezi-Park eingestellt werden und der Park ihnen als eine der letzten Grünflächen in Istanbul erhalten bleibt. Und sie fordern die Absetzung der Gouverneure, die für die brutalen Ausschreitungen während der Proteste verantwortlich sind.

In Deutschland haben Bauprojekte wie Stuttgart 21 ebenfalls für große Proteste gesorgt. Sind die beiden Fälle vergleichbar?
Auslöser der Massenproteste ist die geplante Abholzung der Bäume im Istanbuler Gezi-Park. Natürlich spielt da auch die Gentrifizierung der Stadt, die derzeitige Stadtentwicklungspolitik eine Rolle. Aber daraus ist ein Protest gegen Erdoğan geworden - in Stuttgart blieb der Protest ja bekanntlich lokal.

Und bei den Protesten in der Türkei geht es nun um den ganzen Staat?
Um Erdoğan selbst. Um seinen Politikstil und seine polarisierende Art. Erdoğans Habitus – sein autoritäres, undemokratisches Auftreten -  provoziert die Menschen. Der Premier hat in den letzten Monaten vor allem gegen säkulare Gruppen stark polemisiert.

Erdoğan spricht oft von der „Modernisierung der Türkei“ durch die AKP – trifft dies also nicht zu?
Die aktuelle Situation in der Türkei verdeutlicht Erdoğans Politik als zwei Seiten einer Medaille: Auf der einen Seite hat er die Modernisierung der Türkei in einigen Aspekten durchaus vorangebracht. Zum Beispiel konnte Erdoğan beim Ausländerrecht fortschrittlichere Gesetzgebungen durchsetzen. Auch bei der Kurden-Frage brachte er eine Teildemokratisierung auf den Weg. Die Türkei erlebt heute eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung; Export und Handel wachsen, immer mehr Menschen studieren im Ausland oder machen dort Urlaub. Ein höherer Lebensstandard weckt jedoch auch das Bedürfnis nach mehr Freiheit und Demokratie.

Gleichzeitig merken die Leute, deren Freiheitsbedürfnis wächst, dass Erdoğans Politikstil eindeutig autoritärer wird. Der Demokratisierungsprozess kam vor etwa zwei Jahren ins Stocken. Er hat sich mit einigen Journalisten angelegt, die dann ihren Job verloren haben. Diese repressiven, rückschrittlichen Tendenzen des türkischen Premiers kommen immer stärker an die Oberfläche.

[video:Revolte in Istanbul: Die Proteste gegen Erdogan]

Das, was die Demonstrierenden in der Türkei vor allem stört, ist also Erdoğans autoritärer Politikstil. Gibt es konkrete Beispiele, die die Wut der Menschen gegen ihren Regierungschef haben zusammenbrauen lassen?
Dass sein Regieren zwiespältig ist, sieht man sehr gut an Erdoğans großen Bauprojekten, die er in der Pipeline hat und die er sehr autoritär forciert: Zum Beispiel die dritte Bosporus-Brücke, deren Fertigstellung bis 2015 geplant ist – die Stadt wird nach Norden weiter wachsen und natürlich geht das auf Kosten der Wälder, der Grünflächen. Also unter Umweltkriterien ist es nicht sehr klug, was er da macht. Die Meinungen von Betroffenen und Experten werden nicht mit einbezogen. Kurz, es findet überhaupt keine demokratische Debatte statt. Das ist das Problem.

Zudem sollte diese Brücke den Namen eines Sultans bekommen, der im 16. Jahrhundert brutal gegen die Vorfahren der Aleviten vorgegangen war. Der Anteil der Aleviten macht heute ungefähr 20% der türkischen Bevölkerung aus. Die Aleviten machen sich große Sorgen und empfinden das als neue Kampfansage.

Gibt es weitere Auslöser?
Zwei Tage vor den Protestaktionen machte er während der AKP-Fraktionssitzung eine beleidigende Anspielung an den vor allem bei der urbanen Mittelschicht sehr beliebten Republikgründer Kemal Atatürk und seinen Weggefährten İsmet İnönü. Erdoğan spielte auf die Leidenschaft der beiden an, Rakı zu trinken, als er sagte: „Das Gesetz Gottes verbietet den Alkoholkonsum, und warum haltet Ihr das Gesetz Gottes für nichtiger als Gesetze, die von zwei Betrunkenen erlassen worden sind?“

Und einen Tag vor den Demonstrationen meinte er in Bezug auf den Gezi-Park: „Wir werden das Einkaufszentrum bauen, egal wer dagegen demonstriert.“ All das zeigt, dass Erdoğan politisch äußerst unsensibel und unvorsichtig regiert.

Die Lage in der Türkei ist außerdem angespannt wegen der nicht sehr erfolgreichen Syrien-Politik von Erdoğan. Druck von Russland wird befürchtet und die verfahrene Situation im Syrien-Krieg macht die Leute nervös. 

Welche Rolle spielen die Medien? In der Türkei ist die Regulierungsbehörde für Radio und Fernsehen sehr mächtig und aktiv. Kontrolliert der Staat auch den Zugang zum Internet?
Ja, teilweise machen sich die staatlichen Eingriffe auf das Internet schon bemerkbar. Als ich letztes Jahr in der Türkei war, konnte ich beispielsweise einige Youtube-Seiten nicht aufrufen. Es gibt da durchaus Beschränkungen, die in Deutschland oder Frankreich nicht denkbar wären.

In der Türkei geht die Polizei ziemlich hart gegen Demonstranten vor und sitzen so viele Journalisten wie nirgendwo sonst in Gefängnissen. Hat Erdoğan Angst vor Meinungsfreiheit und Demokratie?
Dass viele Journalisten in der Türkei in Haft sind, ist ein Problem. Es gibt Bereiche, wo die Meinungsfreiheit wächst, und dann gibt es Bereiche, wo sie wieder beschränkt wird – das ist sehr ambivalent. Die Medien haben Angst vor dem Zorn der Regierung und Angst um ihren Arbeitsplatz.

Aber dass sich Erdoğan vor anderen Meinungen und der Demokratie ängstigt, kann man so nicht sagen. Immerhin gewann er bei den Wahlen vor eineinhalb Jahren fast 50 Prozent der Stimmen. Und diesen Rückhalt bekommt er laut Wahlumfragen noch vom Volk – zumindest bis vor kurzem. Wie sich allerdings die aktuellen Ereignisse auf diesen Rückhalt auswirken, da muss man abwarten.

Trotzdem ist er noch immer von seiner Macht sehr überzeugt. Um noch mächtiger zu werden, möchte er auch das Präsidialsystem einführen, anstelle des parlamentarischen Systems. So könnte Erdoğan nach seiner abgelaufenen Zeit als Ministerpräsident 2015 als Staatspräsident weiterhin Macht ausüben. Und dazu braucht er per Referendum mindestens die Hälfte der Stimmen. Das wird knapp, denn momentan kommt ein solches Präsidialsystem für die Mehrheit der Türken nicht in Frage. Aber Sie müssen wissen, die Opposition in der Türkei ist sehr schwach. Die AKP regiert momentan eigentlich alternativlos.

Das heißt, dass Erdoğan eigentlich demokratischer vorgehen und etwas entspannter sein könnte?
Klar, er könnte entspannter sein. Die Türkei gilt als Stern der arabischen Welt. Eigentlich gibt es für Erdoğan keinen Grund zur Panik. Vielleicht hat er sich mit seinem Machtgehabe überschätzt.

Das Interview führte Bigna Fink

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