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Türkei - Götterdämmerung in Istanbul

Die türkischen Bürger sind Erdogans Selbstherrlichkeit und Bevormundung leid. Eine ganze Generation begehrt gegen den islamischen Paternalismus in der Türkei auf. Eine Zwischenbilanz

Autoreninfo

Frank Nordhausen schreibt seit 20 Jahren über Sekten. Zuletzt erschien von ihm: „Scientology. Wie der Sekten­konzern die Welt erobern will“

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Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Juli-Ausgabe von Cicero. Sie können das Heft hier nachbestellen oder durch ein Abonnement keine Ausgabe mehr verpassen

 

 

 

Der Protest kam aus einer unerwarteten Richtung. Schon zweieinhalb Jahre kämpfte eine bunte Truppe von Stadtplanern, Architekten und Ökologen im Istanbuler Szene-Stadtteil Beyoglu gegen die Umwandlung ihres Kiezes in ein gesichtsloses Touristen- und Shoppingzentrum. Die Aktivisten des Netzwerks Taksim-Solidarität trafen sich einmal im Monat zu einer Demo, bei der es über den Taksim-Platz und durch die Fußgängerzone Istiklal Caddesi ging. Selten nahmen mehr als 100 Unterstützer daran teil. Bis Ende Mai hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan höchstwahrscheinlich noch nie von ihnen gehört.

Als der Regierungschef Ende vergangenen Jahres persönlich ankündigte, in dem an den Taksim-Platz angrenzenden Gezi-Park ein Einkaufszentrum im Stil einer osmanischen Kaserne zu errichten, regte das die Bürger auf. „Es ist für sich genommen schon ein Unding, dass der Premier sich in die Stadtplanung einmischt. Vor allem aber ist dieser Park für Beyoglu lebenswichtig“, sagt Cem Hüzün. Der 46 Jahre alte Architekt ist einer der Gründer des Taksim-Netzwerks. „Der Park ist einer der letzten grünen Plätze im Stadtzentrum der europäischen Seite.“
 
Am 28. Mai, einem Dienstag, erfuhr die Bürgerinitiative, dass Bagger anrückten, um im Gezi-Park Bäume zu fällen, obwohl Bebauungspläne dies nicht vorsahen und ein Gerichtsurteil es verbot. Die Parkschützer alarmierten ihre Freunde und Bekannten über Telefonketten, Facebook und Twitter, und die Bauarbeiter sahen sich von nun an rund 150 Umweltschützern, Politikern, Architekten gegenüber, die sich vor ihre Bagger setzten, an die Bäume ketteten und Sit-ins veranstalteten. Um „unser Grün zu beschützen“, wie Architekt Hüzün sagt. Am frühen Morgen des 30. Mai schickte der Istanbuler Gouverneur erstmals die Polizei, um die lästigen Baumschützer zu vertreiben. Doch sie kamen wieder. In der folgenden Nacht saßen bereits mehr als 1000 Menschen im Park und riefen: „Gezi ist unser! Taksim ist unser! Istanbul ist unser!“
 
Als die Polizei im Morgengrauen erneut und mit „exzessiver Gewalt“, wie es die amerikanische Regierung später formulieren sollte, gegen das Zeltcamp der Parkschützer vorging, als Wasserwerfer sprühten, Tränen- und Pfeffergasschwaden auf die Aktivisten niedergingen – da war dies der berühmte Tropfen, der das Fass überlaufen ließ. Bilder der Räumung verbreiteten sich rasch in den sozialen Netzwerken, und binnen weniger Stunden strömten Zehntausende meist junge Leute zum Taksim-Platz. Beißendes Tränengas hüllte sie ein, Hunderte wurden verhaftet – doch die Bürger hielten stand. Statt das Feuer zu löschen, fachte der Staat es an. In Windeseile verbreiteten sich die Proteste in der gesamten Türkei.
 
Es war Sonnabend, der 1. Juni gegen 16 Uhr, als die Polizei auf dem Taksim-Platz kapitulierte und einfach wegging. Zu diesem Zeitpunkt riefen die Demonstranten bereits: „Tayyip verschwinde!“ Sie protestierten nicht mehr nur für Bäume, sondern für die Freiheit, so zu leben, wie sie es wünschten. „Ich will nicht, dass mir der Regierungschef vorschreibt, wie ich mich anziehen, was ich essen und was ich nicht trinken soll, wie viele Kinder ich aufziehen und wie oft ich in die Moschee gehen muss“, sagt eine 28-jährige Anwältin auf dem Taksim-Platz. „Tayyip hat jeden Maßstab verloren.“
 
Vor allem seit seinem dritten, überwältigenden Wahlsieg von 2011 trifft Erdogan politische Entscheidungen immer häufiger im Alleingang und richtet sie religiös aus. Er schränkte die Möglichkeiten zu Abtreibung und Kaiserschnitt ein, ließ ein rigoroses Anti-Alkohol-Gesetz verabschieden und integrierte das Koransystem in Schulen – ein Affront gegen die Grundfesten der laizistischen Republik. Kürzlich legte er den Grundstein für einen überdimensionalen Nachbau der berühmten Blauen Moschee auf dem Istanbuler Camlica-Hügel, um die größte säkulare Stadt der Türkei optisch zu beherrschen.
 
Auf dem Taksim-Platz bekam es der megalomane Osmanen-Nostalgiker nun aber mit postmodern angehauchten Demonstranten zu tun, deren ironischem Witz er nicht ansatzweise gewachsen war. Jede Frau solle drei Kinder bekommen, hatte Erdogan gefordert. „Willst du wirklich drei von meiner Sorte?“, fragte eine Demonstrantin zurück. Erdogan beschimpfte die Protestierenden als „Marodeure“ – sie nahmen das Wort „Capulcular“ als stolze Selbstbezeichnung an und stellten auf dem besetzten Taksim-Platz „Capulcular-Bars“ auf, in denen sie Bier und Tequila ausschenkten.
 
Von da an konnte Erdogan sagen, was er wollte – in unzähligen Karikaturen wurde er zur Spottfigur und verlor den Nimbus des Unverwundbaren. Die ausländischen Medien wurden hellhörig und verglichen den Taksim- mit dem Kairoer Tahrir-Platz, dem Symbol des Aufstands gegen den ägyptischen Diktator Hosni Mubarak. Die Istanbuler Börse brach ein. Sie sollte sich später wieder erholen, aber spätestens zu diesem Zeitpunkt musste Premier Erdogan eigentlich gewarnt sein. Doch er verrannte sich in eine Krise, wie er sie in seiner zehnjährigen Regierungszeit noch nie erlebt hatte. Vier Tote, 17 Menschen, die ein Auge durch Gummigeschosse verloren, mehr als 5000 teils schwer Verletzte waren die unheilvolle Bilanz der ersten zwei Wochen des Aufstands.
 
Im Staatsfernsehen und den großen Privatsendern wurden von nun an täglich Hunderttausende Demonstranten auf ein paar Hundert kleingerechnet. „Wir waren schockiert“, sagte Nihal Dag, eine 30-jährige Jurastudentin, die im Gezi-Park zeltete. „Unsere Medien haben die Wahrheit verschwiegen und Pinguinsendungen gezeigt, als sie über Tränengasangriffe hätten berichten müssen.“ Jetzt fragten sich die jungen Leute auf Facebook: „Haben uns die Medien über den Kurdenkonflikt jemals die Wahrheit gesagt?“ Auf dem Taksim-Platz standen fortan Kemalisten neben Kurden, Nationalisten neben Anarchisten in der Opposition gegen Erdogan – früher wäre das undenkbar gewesen.
 
Es war ein Fehler des 59 Jahre alten Regierungschefs, die symbolische Bedeutung des Taksim-Platzes zu unterschätzen. Die gewaltige Freifläche ist das Herz der 16-Millionen-Megacity und mit dem Republik-Denkmal sowie dem Atatürk-Kulturhaus eine in Beton gegossene Huldigung an den Vater der säkularen, westlich ausgerichteten Republik, Mustafa Kemal Atatürk. Hier fanden die großen politischen Versammlungen statt, hier schossen am 1. Mai 1977 Unbekannte von den Dächern auf eine Gewerkschaftskundgebung und töteten 34 Menschen. Hier fuhren drei Mal die Panzer der Putschgeneräle auf. Das liberale Istanbuler Bürgertum fühlt sich mit dem Taksim emotional stark verbunden.
 
Recep Tayyip Erdogan wollte dem Platz daher schon immer seinen Stempel aufdrücken, wollte das Atatürk-Zentrum durch eine repräsentative Moschee ersetzen – der ultimative Triumph über die Säkularen. Das Vorhaben scheiterte letztlich daran, dass der forsche Ministerpräsident im letzten Moment stets davor zurückschreckte, seinen Gegnern offen den Krieg zu erklären. Doch die Zeit der Zurückhaltung endete spätestens mit der jüngsten Wahl. „Ich bestimme die Tagesordnung der Türkei“, lautet seither Erdogans Diktum. Er möchte das Land zur Präsidialdemokratie machen, das Amt mit erweiterten Vollmachten versehen und sich 2014 zum Staatspräsidenten wählen lassen.
 
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Um besser zu verstehen, was den Erfolg dieses Mannes prägt, lohnt ein Besuch im konservativen Kleineleuteviertel Kasimpasa am Goldenen Horn. Hier ist er aufgewachsen, hier begann sein Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen. Der Spross einer frommen Migrantenfamilie vom Schwarzen Meer, Absolvent einer islamischen „Imam-Hatip-Schule“, war erfolgreicher Fußballspieler, Student der Wirtschaftswissenschaften, Geschäftsmann, Politiker, Häftling, Millionär, Premierminister. In Kasimpasa, nur eine halbe Stunde zu Fuß vom Taksim entfernt, protestiert niemand gegen die Regierung. „Tayyip ist ein guter Mensch, er ist gläubig. Wo wären wir ohne ihn?“, sagt ein 50-jähriger Elektromonteur vor der Hauptmoschee.
 
Erdogan ermöglichte den einfachen Bürgern einen Lebensstandard, von dem sie früher nur träumen konnten. Neue Wohnung, Auto, Kühlschrank, Fernseher. Schöne Straßen, Wasser- und Stromleitungen, funktionierende Müllabfuhr. In Kasimpasa nimmt es dem Premier niemand übel, dass seine Familie inzwischen Milliarden Dollar besitzen soll, die laut ­Wiki­leaks-Protokollen der US-Botschaft in Ankara auf Schweizer Konten gebunkert sind.
 
Tatsächlich sitzt Erdogan so lange fest im Sattel, wie er seiner Stammklientel – Arbeiter, kleine Leute, das anatolische Bürgertum – eine stabile Wirtschaftsentwicklung und innere Sicherheit garantiert. Der Vater des türkischen Wirtschaftswunders will das Land bis zum 100. Republikgeburtstag 2023 unter die zehn führenden Wirtschaftsnationen der Welt führen. Erste Meinungsumfragen zwei Wochen nach Beginn der Massenproteste zeigten, dass die völlig auf ihn zugeschnittene AKP landesweit stabil bei 50 Prozent der Stimmen steht.
 
Seit mehr als zehn Jahren regiert Tayyip Erdogan jetzt die Türkei mit ihren 75 Millionen Einwohnern. Seine Partei gewann Ende 2002 mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise und nach Jahren der Instabilität unter den etablierten Parteien die Parlamentswahlen. Doch konnte Erdogan erst am 12. März 2003 zum Ministerpräsidenten gewählt werden, nachdem per Verfassungsänderung ein Politikbann gegen ihn aufgehoben wurde. Der charismatische Redner, der seine ersten politischen Meriten in der Wohlfahrtspartei des islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan erwarb, machte sich als Oberbürgermeister von Istanbul einen Namen, als er die marode Infrastruktur der Stadt gründlich modernisierte. Aus jener Zeit stammt auch ein Gedichtzitat, das ihm 1998 das Politikverbot eintrug und schon ahnen ließ, wes Geistes Kind er ist: „Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
 
Der begnadete Populist zerstreute Ängste vor einer „Gottesstaats-Agenda“ aber zunächst mit einer pragmatisch orientierten Reformpolitik nach dem Motto: „leben und leben lassen“, die das Land gleichwohl tiefgreifend veränderte. Er schaffte die Todesstrafe ab, ließ Polizisten psychologisch schulen und wies das putschfreudige Militär in seine Schranken. Kurden wurde Sprachunterricht, Christen der Kirchenbau, Studentinnen das Tragen des Kopftuchs erlaubt. Als Lohn für die Demokratisierungsfortschritte eröffnete die EU Ende 2005 die Beitrittsverhandlungen.
 
„Für uns hat Erdogans Politik einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung gebracht“, sagt Safak Civici, die zusammen mit ihrem Mann Ibrahim eine Möbelfirma in Kayseri in Mittelanatolien betreibt. Kayseri gehört zu jenen „anatolischen Tigerstädten“, die den wirtschaftlichen Aufschwung tragen, dem Tayyip Erdogan vor allem seine Popularität verdankt. Die AKP habe damals einen Überraschungssieg gelandet, „weil die Leute der alten Parteien überdrüssig waren“, sagt Civici. Die Inflation betrug 44 Prozent, der Staatsbankrott drohte. „Die Leute wollten frischen Wind.“ Erdogan habe vor allem ökonomisch gepunktet. „Er hat die Krise erstickt und uns Märkte geöffnet. Unsere Leute gewannen Selbstbewusstsein“, sagt Safak Civici. „Und sie trauten sich zu zeigen, dass sie konservativ und religiös sind.“
 
Erdogans Emotionalität, seine Sturheit, seine Einmischung in den Alltag kommen bei seinen wichtigen Zielgruppen ganz anders an als im aufgeklärten Istanbul. Ein Ereignis ist symbolhaft für das neue türkische Selbstbewusstsein: als Erdogan 2009 beim Weltwirtschaftsforum in Davos nach einem heftigen Disput mit dem israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres wütend das Podium verließ. „Unsere früheren Politiker waren Waschlappen. Aber Erdogan hat keine Angst vor niemand“, sagt Yunus Mert, Koch in einem Fischrestaurant in Kayseri.
 
 
Erdogan ist ein großer Reformer, dem es anfangs auch gelang, viele Liberale für sich zu gewinnen wie den Istanbuler Wirtschaftswissenschaftler Mehmet Altan, einen bekannten Zeitungskolumnisten. „Erdogan machte die Türkei freier“, sagt Altan. „Er eröffnete den Menschen, die Atatürk links liegen gelassen hatte, neue Perspektiven – den Religiösen, den Minderheiten, dem anatolischen Bürgertum.“ Während es anfangs schien, als wolle er Atatürks säkulares Erbe der neuen Zeit anpassen, fand der Premier immer mehr Gefallen am autoritären Vermächtnis des „Türkenvaters“. Den türkischen Zentralismus hat Erdogan nicht angetastet und auch das Parteiengesetz nicht, das ihm erlaubt, innerhalb seiner Partei jeden Bewerber um ein Bürgermeisteramt oder ein Parlamentsmandat persönlich auszuwählen. Altan hat sich zuletzt enttäuscht von Erdogan abgewendet. „Der Premier hört auf niemanden mehr“, sagt er. „Die Macht hat ihn vergiftet.“
 
„Es ist traurig, dass es in der Türkei keine Meinungsfreiheit mehr gibt“, sagt ein Istanbuler Bauunternehmer, der aus Angst vor der AKP seinen Namen nicht gedruckt sehen will. „Es könnte sein, dass ich dann keine Aufträge mehr bekomme“, sagt er und spricht von „rücksichtsloser Bereicherung Erdogans und seiner Clique“. Wer kein AKP-Mitglied sei, erhalte keine staatlichen Aufträge. Wer welche bekomme, der müsse zahlen. Für ihre Wahlkämpfe hat die Partei ungleich mehr Geld zur Verfügung als die Gegner. Dem Bauunternehmer macht das Angst. „Plötzlich sind überall Kopftuchfrauen. Die Kinder in den öffentlichen Schulen werden religiös indoktriniert. Und die Armee, die früher eingegriffen hat, ist völlig paralysiert“, sagt er. Spätestens seit Erdogans jüngstem Wahlsieg müsse das Land den Preis für die Alleinherrschaft der „Emporkömmlinge aus Anatolien“ zahlen.
 
Doch im Regierungslager und in der AKP wagt niemand offenen Widerspruch gegen den „Sultan“. Erdogan muss vor allem darauf achten, die mächtige Bauindustrie des Landes und ausländische Investoren nicht durch innere Unruhen zu verschrecken. Ihnen verspricht der Premier nun, die geplanten Großprojekte weiter abzuwickeln, schließlich sei er demokratisch legitimiert. Das bezweifeln auch die meisten Demonstranten nicht, aber sie wünschen sich, dass ihre Stimme gehört wird.
 
Der 27-jährige Dokumentarfilmer Can Tanyeli und die 28-jährige Jurastudentin Elif Aksayan haben sich seit Beginn an den Protesten gegen Erdogan beteiligt. „Wer in den Gezi-Park kommt, kann sehen, dass wir keine Chaoten sind. Wir räumen sogar den Müll sofort weg“, sagt Tanyeli. „Erdogan greift unsere Demokratie an, er benimmt sich wie ein Diktator.“ Beide wohnen wie die meisten jungen Türken noch bei ihren Eltern und diskutieren derzeit viel mit ihnen. Ihre Eltern sind Liberale, die sich noch an die blutigen Straßenkämpfe erinnern können, denen der Militärputsch von 1980 folgte. „Sie haben Angst, dass es wieder so wird. Aber sie stehen voll hinter uns“, sagt Aksayan.
 
Ein Riss geht durch die Türkei, er verläuft nicht zwischen Alt und Jung, sondern zwischen dem konservativen, anatolischen Osten und dem liberalen, nach Europa blickenden Westen. Im Gezi-Park artikuliert sich der Aufbruch einer gut ausgebildeten Babyboomer-Generation, die Mitsprache verlangt, individuelle Freiheit, die Rettung der gefährdeten Umwelt und lebenswerte Städte – ähnlich wie in der Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre. Eine Massenbewegung zur Verteidigung der Demokratie ist entstanden, wie sie die Türkei noch nie gesehen hat.
 
„Bäume retten ist wichtiger als Jeans kaufen“, sagen die Demonstranten, auf deren Idealismus und Engagement die Türkei stolz sein könnte. Die Masse der Protestler will keine Revolution, sondern verlangt vor allem Mitsprache, Rücksichtnahme auf die Umwelt und ein Ende der Polizeigewalt. Wie bei den Protesten gegen die Startbahn West in Deutschland reagiert die etablierte Politik mit Unverständnis, Ignoranz und mit Härte. Anders als vor 30 Jahren in der Bundesrepublik aber werden die türkischen Protestler von einem großen Teil ihrer Eltern unterstützt.
 
 

 

Statt auf die jungen Leute zuzugehen und das Land zu versöhnen, ließ Erdogan die Polizei tagelang Tränengas auf Teenager schießen. „Macht, was ihr wollt, die Kaserne wird gebaut“, rief er den Demonstranten zu. Doch sein Versuch, den Taksim-Platz mit der Hilfe von Polizei und Provokateuren zu „säubern“, scheiterte am 11. Juni an der überwältigenden Solidarität der Demonstranten. Es ist ein historisches Paradox, dass ausgerechnet Erdogan auf dem besten Weg ist, die „marginalen Gruppen“ der türkischen Linken, Liberalen und Minderheiten politisch zu vereinen. Berühmt geworden ist ein Foto vom Taksim-Platz, das zeigt, wie ein PKK-Anhänger eine junge Frau mit Atatürk-Fahne aus dem Strahl eines Wasserwerfers rettet, während im Hintergrund ein weiterer Demonstrant den Wolfsgruß der rechtsnationalistischen MHP zeigt.
 
In der Not flüchtete sich der Ministerpräsident in haltlose Diffamierungen und die abgegriffenste Verschwörungstheorie überhaupt. Mehrfach erklärte er, hinter den Protesten stecke die „internationale Zinslobby“, die an einer abstürzenden türkischen Wirtschaft verdienen wolle. Die antisemitische Vorlage wurde von Erdogans Anhängern verstanden und millionenfach weitergetragen. Doch wer sehen wollte, sah einen Mann, der täglich mehr sein Gesicht verlor. Der Premier, der sein Land so erfolgreich reformiert hat, zeigte sich seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen.
 
Am 14. Tag des Aufruhrs, einem Freitag um zwei Uhr morgens, hielten die Protestler auf dem Taksim-Platz, in Ankara und Antalya den Atem an. Es war der Moment, als Erdogans „letzte Warnung“ an die Demonstranten ablief, nach Hause zu gehen oder sie „mit voller Härte“ abzuräumen. Doch dann geschah – nichts. Die Polizisten setzten ihre Helme ab, viele gingen schlafen. Erdogan hatte überraschend eingelenkt. Er hatte sich sogar persönlich mit einer Abordnung des Taksim-Netzwerks getroffen und beschlossen, die endgültige Entscheidung über den Gezi-Park den Gerichten zu überlassen; falls das Berufungsgericht gegen die Osmanenkaserne entscheide, werde sie eben nicht gebaut. Plötzlich wurden die vormaligen „Marodeure“ als „besorgte Umweltschützer“ bezeichnet. 
 
Inzwischen haben „die Marodeure“ aber doch noch die Härte und Häme des Regierungschefs zu spüren bekommen. Am 15. Juni wurde der Taksim-Platz schließlich brutal geräumt. Erdogan verhöhnte die Demonstranten bei einer Kundgebung vor Hunderttausenden seiner Anhänger in Istanbul.
 
In der Krise wirkt der mächtige Erdogan trotz aller Machtdemonstration wie ein Kaiser ohne Kleider. Wie ein Mann, der bislang so stark aussah, weil er noch nie mit einer ernst zu nehmenden Opposition konfrontiert war; die kemalistische Oppositionspartei CHP ist zerstritten und schwach. Deshalb ist nun die spannendste Frage, ob sich aus der Taksim-Gezi-Bewegung eine politische Opposition formt wie damals in Deutschland die Grünen.
 
Ironischerweise hat Erdogan die heillos zerstrittenen „marginalen Gruppen“ zusammengeführt und mit seiner Attacke auf den modernen Lebensstil eine ganze Generation auf die Straße gebracht. 
Wird diese Zivilgesellschaft es nun schaffen, aus dem Straßenprotest eine alternative Politik mit nichtkontaminierten Repräsentanten zu entwickeln? Nach zwei Wochen Aufruhr fehlte den Aktivisten noch der Wille dazu, vielleicht auch die Vorstellungskraft und eine charismatische Führungsfigur. Aber das Spiel hatte ja auch gerade erst begonnen. 
 

 

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