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Syrien-Krieg - Der Held von Aleppo

Der Krieg in Syrien kennt keinen Alltag – nur Ausnahmezustand. Einer will das nicht hinnehmen. Abd al Nasr stellt die Ordnung gegen das Chaos

Portraet Carsten Stormer

Autoreninfo

Carsten Stormer ist Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer. Er lebt auf den Philippinen

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Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erwerben können.

 

 

 

Wie sie den Beutel an sich drückt. Das schwarze Plastik umklammert, als hielte sie sich an der Tüte fest. „La ilaha illa Allah“, flüstert die Frau im schwarzen Mantel und Hijab. Es gibt keinen Gott außer Gott; aber Neider gibt es. Sechs Hände greifen gleichzeitig nach der Tüte, reißen an ihr. Sie bedeutet hier im Zentrum Aleppos einen weiteren Tag des Überlebens: ein Kilo Reis, Speiseöl, Bohnen, Zucker, Salz, zwei Dosen Thunfisch, trockenes Fladenbrot, Kekse.

Die Frau tritt einen Schritt zurück, schüttelt sich frei und rennt los. Zurück bleibt ein Mann, umringt von Dutzenden verschleierten Frauen. Was soll ich denn machen, sagen seine hilflosen Gesten. Den ganzen Vormittag hat der bullige Mann in der schwarzen Galabija und dem Vollbart, der an den Rändern grau ausfranst, in der ausgebombten Schule über Tabellen und Bestandslisten gebrütet. 223 Hilfspakete für 654 Bedürftige.

Jetzt drängen ihn Frauen gegen die Wand seiner kleinen Lagerhalle, sie fordern, betteln, bitten. „Wir haben Hunger!“, schreien sie. Eine Frau hebt ihre Tochter hoch, drückt sie Abd al Nasr gegen die Brust: „Hier, bitte nimm meine Tochter bei dir auf.“ Da zischt eine Kugel über seinen Kopf hinweg, abgefeuert irgendwo von einer der vielen Fronten in Aleppo. War es nur eine verirrte Kugel oder ein Scharfschütze, der gezielt in die Menge schießt? Panik bricht aus. Alle werfen sich auf den Boden.

Abd al Nasr nutzt die Gelegenheit, springt hinaus, läuft links in eine Seitengasse, dann ist er zu Hause. Mit hängenden Schultern, als würde ein unsichtbares Gewicht sie nach unten ziehen, steigt er die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, in der es seit Wochen weder Strom noch fließend Wasser gibt.

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Scheich Nasr ist einer jener Revolutionäre, die ohne Waffe gegen das syrische Regime kämpfen. Anstatt auf Menschen zu schießen, organisiert der 46-Jährige das Gemeinwesen, baut mit am Syrien von morgen, während das Regime wankt, aber noch längst nicht fällt. Der Staat führt Krieg gegen seine Bürger, zieht sich zurück und hinterlässt Löcher. Menschen wie Abd al Nasr machen sich daran, diese Lücken zu füllen.

„Ich bin eigentlich Elektroingenieur, kein Politiker“, sagt der Mann mit Händen so groß wie Bratpfannen, als er die Tür zur Wohnung aufschließt. „Ich hatte einen kleinen Laden, wo ich Computer und Radios reparierte.“ Es klingt, als spräche er von einem anderen Zeitalter. Er benetzt Gesicht und Nacken mit braunem Wasser aus einem Eimer. „Anfangs, als noch nicht die Waffen sprachen und wir uns erstmals mit Demonstrationen auf die Straße trauten, traf man sich in konspirativen Wohnungen.“ Nachbarschaftsvertreter, ehemalige Regierungsbeamte, Islamgelehrte, Lehrer, Ärzte, Studenten, Moslembrüder, Akademiker, die im Frühling 2012 darüber diskutierten, wie eine moderate islamische Republik aussehen könnte, wie Wahlen zu organisieren seien oder welche Strafen gerecht wären für die Schergen des Diktators. „Damals hat kaum jemand daran geglaubt, dass wir unser Ziel erreichen könnten.“

Als dann der Krieg im vergangenen Sommer nach Aleppo kam, die Müllabfuhr nicht mehr fuhr und die Geschäfte schlossen, da dachte er: Du musst etwas unternehmen. Abd al Nasr wurde ein Führer ohne Amt.

Sein Alltag: Er sammelt Geld, Lebensmittel und Medikamente bei reichen syrischen Geschäftsleuten, Freunden und islamischen Hilfsorganisationen. Stellt Freiwilligenkommandos zusammen, die zuweilen meterhohen Müll wegräumen, besorgt Feuerholz und Petroleum gegen die Kälte, beerdigt namenlose Tote, schlichtet Streitigkeiten unter Nachbarn. Gemeinsam mit anderen Führern ohne Amt in anderen Stadtteilen eröffnet er Schulen und Gerichte, die ein Mindestmaß an Recht herstellen. Als Nächstes ist der Aufbau einer Polizei geplant, um die Plünderungen zu stoppen und den Einwohnern Aleppos ein Gefühl der Ordnung und Sicherheit zu vermitteln.

Die Frage, was ausgerechnet diesen unbedeutenden Radiotüftler zu einen zivilen Helden im syrischen Krieg machte, führt zurück zu einem anderen Syrien, in dem die Menschen über Jahrzehnte in Frieden lebten. Gemordet und gefoltert wurde auch damals; aber nur hinter dicken Mauern und nur jene, die nicht schwiegen. Einen Mittelweg zu finden zwischen totaler Unterordnung und Tod oder Exil – das fiel schwer. Abd al Nasrs Vater gelang es.

Der setzte sich in Aleppo als Vorsitzender der Bauerngewerkschaft in den achtziger Jahren für bessere Preise und die Belange der Bauern ein. Er hätte Karriere machen können, aber er nutzte seine Position nicht aus. Nahm keine Bestechungsgelder an, gab niemandem den Vorzug. Vor allem aber bemühte er sich nicht um eine Mitgliedschaft in der Baath-Partei Hafiz al Assads, dem Vater des jetzigen Präsidenten. Seine Kollegen lachten ihn wegen seiner Einstellung aus. So verharrte er in bescheidenen Verhältnissen, und die Menschen respektierten ihn dafür. Der Respekt, der heute Abd al Nasr als ältestem Sohn gezollt wird, hat viel mit der Erinnerung an den Vater zu tun. Zu dessen Beerdigung kamen 3000 Trauergäste aus ganz Syrien, erzählt man.

Schlaflos in Aleppo

Abd al Nasr gähnt halb, zuckt plötzlich wie ertappt zusammen und springt auf. Eine Stunde ist er schon daheim, jetzt geht es wieder los. Zwei Uhr am Nachmittag, in einem klapprigen Toyo­ta rast er zu einem unscheinbaren Wohnblock im Hanano-Viertel Aleppos, zum Hauptquartier der „Islamischen Front zur Befreiung Syriens“. Eine Art Zivilrat aus moderaten Muslimen, Islamisten und Säkularen, die sich zusammengeschlossen haben, um in der Stadt für Ordnung zu sorgen. Mehrfach wurde das Gebäude Ziel von Luftangriffen, ein Krater im Hinterhof und Narben im Beton zeugen davon. Am schmiedeeisernen Eingangstor stehen bewaffnete Rebellen, die Hunderte von Bedürftigen, hauptsächlich Frauen mit Kindern, davon abhalten, das Gebäude zu stürmen. „Geduld! Wartet, bis ihr an der Reihe seid“, ruft ein Wächter und versperrt einer alten Frau den Zugang mit seiner Kalaschnikow. „Bitte lasst uns ein“, sagt die Alte. „Wir haben Angst vor den Flugzeugen.“

Scheich Nasr schiebt sich durch die Menge, wimmelt Menschen ab. „Wir haben eine Ladung Mehl aus der Türkei bekommen.“ Die Spenden müssen nun gerecht verteilt, Streit und Missbrauch vermieden werden. Im Hauptflur füllt ein junger Mann Milchpulver in Plastiktüten. „Und die Reparatur elektrischer Leitungen werden wir heute verhandeln.“

Doch zuerst muss Abd al Nasr Recht sprechen; die Gerichte arbeiten ja auch nicht mehr. In einem Nebenraum stehen zwei Jungen, 18 und 19 Jahre alt. Sie zittern am ganzen Körper. Scheich Nasr mustert sie, setzt sich an ein Pult, blättert in einer Akte, mustert die Jungs wieder. „Aha, was haben wir hier? Diebe also. Hmm“, murmelt er, ohne die Angeklagten eines Blickes zu würdigen. „Hat man euch also erwischt.“

„Scheich, bitte lass es mich erklären …“, bettelt einer der beiden. Scheich Nasr hebt die Hand, dass er schweigen soll. Der Junge verstummt sofort.

„Was soll ich denn jetzt mit euch machen?“ Abd al Nasr legt eine Kunstpause ein. „Ich weiß es. Ich übergebe euch Jabhat al Nusra, die hacken euch die Hand ab. Wie findet ihr das?“, sagt er und zwinkert seinem Protokollschreiber zu, der leise in sich hineinkichert.

„Scheich, bitte, bitte nicht. Es wird nie wieder vorkommen. Es tut uns leid. Bitte.“

„Und Waffen hat man bei euch auch gefunden“, erwidert al Nasr und fuchtelt mit einem Taschenmesser vor den beiden herum. „Eindeutig ein Fall für al Nusra. Verabschiedet euch von euren Händen.“
Daraufhin beginnen die beiden Jugendlichen zu weinen. Bis Scheich Nasr dem grausamen Spiel ein Ende bereitet. Er hält noch eine Standpauke, einen 20-minütigen Monolog darüber, dass Diebstahl die Revolution untergräbt, die Seele vergiftet und gegen die Lehren des Koran verstößt. Dann fällt er sein Urteil: „30 Stunden Arbeitsdienst hier im Center, und ich spreche mit euren Eltern. Morgen um zehn Uhr meldet ihr euch zum Dienst. Und jetzt verschwindet!“ Mit vor Scham gesenkten Häuptern schlurfen die beiden aus dem Zimmer. Als die Tür zufällt, schlägt sich Scheich Nasr vor Lachen auf die Schenkel. „Ich hätte sie natürlich niemals den Islamisten übergeben.“

Mit Kung fu und Koran

Abd al Nasr lernte schon als Kind, sich nicht zu verstecken. Verliebte sich erst in die Kampfsportart Kung Fu und später in die Lehren des Koran. „Kampfsport und Religion haben meinen Verstand geschärft“, sagt er und erzählt, wie er sich wie Bruce Lee kleidete und so auch in die Moschee ging. Er folgte dem Gebot des Propheten, ständig den Geist zu schulen. Lernen, ein Leben lang, um das Wissen weiterzugeben. So studierte er erst Biologie und Elektroingenieurwissenschaften, später schulte er seinen Glauben an den Universitäten von Damaskus, Aleppo und Tripolis, studierte dort den Koran und lernte ihn auswendig, machte einen Abschluss in Islamwissenschaften. Er war jetzt ganz nah bei seinem Gott, und die Menschen begannen, ihn Scheich zu nennen. Die Kinder seines Viertels unterrichtete er in Kung Fu und gab Nachhilfe in Biologie, Englisch und Physik. Kostenlos, weil „der Koran es verbietet, für Unterricht bezahlt zu werden“. Freitags predigte er in der Moschee. „Es ist meine Pflicht, Gutes zu tun. So steht es im Koran, so will es Allah.“ Vor der Revolution hielt er seine Familie mit dem kleinen Reparaturladen über Wasser. Es reichte für eine kleine Wohnung und eine Reise nach Mekka. „Es war ein einfaches, gutes Leben.“

Seine neue Rolle nahm er an, weil er ein Vorbild sein wollte. Übernahm Verantwortung und hoffte, weder an ihr zu zerbrechen noch sie zu missbrauchen.

Das mit dem Zerbrechen ist indes so eine Sache. Abd al Nasr setzt sich am frühen Abend erschöpft ins Wohnzimmer. Der Tag war lang. Er wirft die letzten Holzscheite in einen Ofen. Seitdem es keinen Strom mehr gibt, schlagen Anwohner die Bäume Aleppos zu Brennholz. Sein Sohn Mustafa begrüßt den Vater, küsst ihm die Hand, nimmt ihm die Jacke ab und berichtet die neuesten Schreckensmeldungen: Eine Rakete traf ein Wohnviertel im benachbarten Stadtteil Hanano, eine Granate tötete neun Kinder in einer Gasse, und in Bustan al Qasr haben Anwohner die Leichen von 110 Männern aus dem Fluss Queiq gezogen. „Allen wurde in den Kopf geschossen, und sie hatten die Hände auf den Rücken gefesselt, Baba“, berichtet Mustafa. Wie ein irrwitziger Kontrast dringt von der Straße Kinderlachen in die Wohnung. Abd al Nasrs jüngster Sohn Qusai spielt mit Nachbarkindern eine Art Murmeln. Nur, dass sie keine Murmeln haben, sondern leere Patronenhülsen, die auf die Straße prasselten, als ein Regierungshubschrauber das Viertel beschoss. Ein Kampfjet donnert im Tiefflug über Tarik al Bab; Qusai kommt weinend in die Wohnung gelaufen und schmiegt sich an das Bein seines Vaters.

Abd al Nasr ist ein großer, schwerer Mann mit gütigen Augen, die den massigen Mann zerbrechlich wirken lassen. Ein frommer Moslem, gemäßigt, aber traditionell konservativ in seiner Glaubensinterpretation, der sich ständig die Frage stellt, wie er Lehren und Werte aus dem 7. Jahrhundert in eine moderne Gesellschaft integrieren, Glaube und Vernunft vereinen kann. Nach dem Krieg, natürlich. Aber: „Allah hat mir darauf noch keine Antwort gegeben“, sagt er und legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen, schläft ein und schreckt hoch, als der vierjährige Qusai mit einem Satz auf seinen Bauch hüpft und „Assad ist ein Esel“ und „Gott ist groß!“ ruft. Der Vater lächelt müde.

Hochburg des Widerstands

Aleppo 2013. Der Krieg hat sich festgebissen, das Leben atmet nur schwach in der Stadt: Aus den Basaren sind die Händler verschwunden, die Gewürze, Zuckergebäck, Datteln und Stoffe anbieten. In den alten verwinkelten Gassen der historischen Altstadt herrscht ein Häuserkampf, er schließt die Menschen ein in einem Kokon aus verirrten Kugeln, Raketen und Granaten. Zivilisten rennen über Straßen, an deren Ende Scharfschützen auf jeden schießen, der sich auf die andere Seite wagt. Sie kriechen durch in Wände geschlagene Löcher von Haus zu Haus.

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Seitdem die Rebellen den Krieg nach Aleppo getragen haben, hat sich die Stadt in eine Hochburg des Widerstands verwandelt. Die Regierungstruppen nehmen die von den Rebellen gehaltenen Viertel unter Dauerbeschuss. Die Zivilisten sind zwischen die Fronten geraten, Bauernopfer in einem Schachspiel, das im Patt festhängt. Der Tod kommt willkürlich und überall. Jede Besorgung, jeder Gang zum Bäcker, eine Fahrt ins nächste Viertel birgt unkalkulierbare Risiken und kann tödlich enden. Wer kann, flieht aus der Stadt. Wer Arbeit hat, arbeitet. Wer keine hat, döst die Zeit weg oder klaubt Informationen zusammen, die Leben retten können: Wo haben sich die Scharfschützen eingenistet, welche Straße ist sicher, wo gibt es Brot?

Früher beschäftigten Abd al Nasr Fragen, die weniger existenziell waren. Angestaubt liegen jetzt seine Romane in einem Umzugskarton im Schlafzimmer: Der Graf von Monte Christo, Les Misérables, Krieg und Frieden, Dostojewski, Hemingway, Agatha Christie, Sir Arthur Conan Doyle – Luxus aus vergangenen Tagen. Heute fallen Bomben vom Himmel, und Kugeln zischen über seinen Kopf. Seine Familie ist vom Dauerbeschuss traumatisiert, die Söhne wachen nachts schreiend auf, die Tochter schläft manchmal tagelang nicht, und seine Frau traut sich nicht mehr auf die Straße. Ist Versöhnung unter diesen Umständen überhaupt möglich?

„Wir haben keine Alternative, wenn wir Syrien retten wollen“, erwidert Abd al Nasr.

Am nächsten Morgen vertreibt er mit dem zweiten Aufguss schwarzen Tees seine Müdigkeit für einen Moment. Schlecht schläft er seit langem – so viele Pläne im Kopf und so viele Gespenster in der Nacht. Wie genau Versöhnung machbar ist und was nach Assad kommt, weiß auch er nicht. Demokratische Wahlen? Ein gemäßigter islamischer Staat nach türkischem Vorbild? Scharia? Wer weiß. „Im Augenblick sind die Menschen damit beschäftigt zu überleben. Aber auf keinen Fall dürfen wir es zulassen, dass die Diktatur Assads von einer islamischen Diktatur abgelöst wird, wie es die Islamisten wollen.“ Um ihn herum knallt und kracht es. Abd al Nasr lächelt zuversichtlich in den Morgen.

Es waren fünf Brüder

„Gott hat einen Plan für mich. Und ich muss ihn erfüllen“, sagt er. Doch dieser Plan lastet schwer auf seinen Schultern. Besonders wenn wie heute Kriegswitwen vor seiner Haustür stehen und er sie nach Hause schicken muss, weil er nichts mehr zu geben hat. Hat er Angst? Pause. Nachdenken. Dann ein schwaches Nicken. Um gleich darauf in den Toyota zu steigen, der ihn an die Front bringt, drei seiner vier Brüder kämpfen dort. Sein Fahrer ist geübt darin, den Tod zu umfahren, weiß, wo die Heckenschützen lauern, wo gerade gekämpft wird. Auf der Rückbank sitzt Scheich Nasrs Leibwächter Yusuf, ein schmächtiger 22-Jähriger, der seine Kalaschnikow so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortreten.

Das Viertel Karm al Dschabal, unweit der historischen Altstadt, wird seit Monaten verbissen von halbwüchsigen Rebellen gehalten, oft mit nicht mehr als ein paar Patronen in den Magazinen ihrer Gewehre. Karm al Dschabal ist nach sechs Monaten Häuserkampf eine Ruinenlandschaft, in der die Scharfschützen auf beiden Seiten den Tagesrhythmus bestimmen und in der mal die Rebellen ein paar Meter gewinnen, mal die Regierungssoldaten. Zerschossene Fassaden, gespickt mit Einschusslöchern, eingestürzte Stockwerke, Schuttberge, ausgebrannte Geschäfte, entmenschtes Niemandsland. Immer wieder explodieren Granaten, und in den ausgebombten Straßenzügen rosten Panzerwracks und liegen Tote, die niemand bergen kann. Noch immer desertieren Regierungssoldaten und schließen sich der Freien Syrischen Armee an. Als ein junger Mann in Uniform über eine Straße läuft, durchschlägt eine Kugel seine Wade. Er krümmt sich am Boden, ein Rebell zieht ihn aus der Schusslinie.

Der Familienbesuch ist gefährlich, drei Straßenzüge muss Abd al Nasr überqueren, die von feindlichen Heckenschützen gehalten werden. „Wir sehen uns auf der anderen Seite, Insch’allah“, sagt er, und wir rennen geduckt hinüber. Wann immer es geht, besucht er seine Brüder, die eine andere Form des Widerstands gewählt haben als er. Zwei von ihnen arbeiten als Läufer und Kuriere, rennen von Einheit zu Einheit, die sich in den zerschossenen Wohnungen verschanzt haben, und versorgen sie mit Munition. Der andere ist Kommandeur eines kleinen Trupps, der Stellungen und Checkpoints der Regierung angreift, Hinterhalte plant oder Panzer beschießt. „Salam Aleikum“, begrüßen sich die Brüder, Friede sei mit dir.

Sie sitzen in einem Eckhaus, das im toten Winkel der Scharfschützen liegt, um einen Ofen herum. Draußen peitschen Schüsse und explodieren Granaten. Drinnen trinken sie gezuckerten Tee, beten gemeinsam und reden über die Toten der vergangenen Tage. Dass den Kämpfern langsam die Munition ausgeht. Seine Brüder glauben, der Sieg sei nah. Aber das tun sie schon seit Monaten. Seit einigen Wochen setzt das Regime auch Scud-Raketen ein, um den Willen der Aufständischen zu brechen. Stehend ist diese Waffe so hoch wie ein Reihenhaus und kann ganze Wohnviertel zerstören. Hunderte Menschen sind durch sie in den vergangenen Wochen ums Leben gekommen. Immer mehr Väter beweinen ihre Söhne, Frauen ihre Ehemänner. 70 000 Tote in zwei Jahren, wie soll ein Land das verkraften? Schweigen. Ratloses Schulterzucken. Zum Abschied schreibt Abd al Nasr mit einem Filzstift „Allah U Akbar“ an die Wand, Gott ist groß. „Es soll meine Brüder beschützen. Insch’allah.“, sagt er. „Insch’allah“, murmeln die Brüder. Es klingt hilflos.

„Ich sehe, wie unsere jungen Männer kämpfen, aber ich sehe nicht, wie sie den Armen helfen“, flüstert er auf dem Rücksitz des alten Toyotas wie zu sich selbst. „Eine Kugel tötet schnell. Aber die Situation, in der wir uns befinden, foltert den Verstand, tötet von innen und vergiftet uns mit Angst und Hass.“

Leben mit der Angst

Der Krieg hat Abd al Nasr verändert. Er hat gelernt, seine Angst zu unterdrücken, das Grauen auf Distanz zu halten. Handlungsfähig zu bleiben und die Töne des Krieges zu unterscheiden. Am Klang kann er abschätzen, wie weit entfernt eine Granate explodiert, wie eine Rakete oder ein Panzer klingt. Der Kriegslärm ist zum Soundtrack seines Lebens geworden, Gefechte bestimmen seinen Tagesrhythmus. Seine Anzüge hat er gegen das schwarze Gewand der Dschalabija getauscht. Er kleidet sich jetzt so wie der Prophet vor 1400 Jahren. Und er ließ sich einen Bart wachsen, wie es der Koran vorschreibt. Religion als Schutzschild gegen den Irrsinn. Traditionelle Kleidung als Ausdruck des Widerstands gegen die Diktatur der säkularen Herrscher in Damaskus. Und trotzdem, zum ersten Mal in seinem Leben fühle er sich frei, sagt er auf dem Rückweg von der Front. „Ich muss nicht mehr im Stillen rebellieren.“

Die Anzüge hängen nun vakuumverpackt in einem Kleiderschrank. Das alte Leben versinkt im Dunstschleier der Erinnerung. Er kann es sich nicht leisten, an ihnen festzuhalten. Mit dem Krieg wachsen seine Aufgaben. Warum tut er sich das alles an? „Weil ich andere zum Nachahmen anregen möchte. Nur so können wir als Gesellschaft überleben.“ Und die nächste Aufgabe wartet schon.
In einem Zimmer ohne Fenster im Shaar-Distrikt von Aleppo dämmert am Nachmittag Hussein, ein junger Mann Anfang 20, in einem winzigen Zimmer auf einer schimmeligen Matratze, stöhnt hin und wieder unter Schmerzen. Ein ausgemergelter Körper mit bandagierten Beinen, die dick wie Baumstämme sind, weil in ihnen Infektionen toben. Aus den schmutzigen Verbänden sickert Eiter. Rücken, Arme und Schultern sind wund gelegen, die Matratze hat sich in den Monaten der Bewegungslosigkeit in Haut und Fleisch gefressen.

Im September vergangenen Jahres trafen ihn die Splitter einer Granate in beide Beine; stecken im Knie fest, im Oberschenkel, in den Füßen. Er wollte Gemüse für seine Mutter einkaufen. Ein ganz normaler junger Mann, kein Kämpfer, kein Rebell. Die Ärzte im einzigen Krankenhaus von Aleppo sagten seiner Mutter, dass sie nichts für ihn tun könnten, weil der für diese Art von Verletzungen spezialisierte Arzt geflohen sei. Er müsse in die Türkei gebracht werden oder an einen anderen Ort in Syrien, an dem es noch Ärzte gibt. Doch für den Transport hatte die Mutter kein Geld. Seitdem liegt er hier in diesem dunklen Loch.

Ein Nachbar erzählte Scheich Nasr vor einigen Tagen vom Schicksal des jungen Mannes, seitdem hängt er an seinem Mobiltelefon, schimpft, wenn die Verbindung mal wieder für Stunden lahmgelegt ist. Drei Tage später hat er einen befreundeten Arzt in der Provinz Idlib in der Leitung und einen Krankenwagen organisiert.

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Mit Martinshorn braust die Ambulanz durch das Gassengewirr Aleppos und dann hinaus aus der Stadt. Es ist eine lange und gefährliche Reise in die umkämpfte Provinz Idlib, auf Straßen, die von Scharfschützen beschossen und mit Granaten belegt werden. Zwei Mal schlagen Geschosse in der Nähe ein. Der Wagen rast mit 120 Stundenkilometern durch das syrische Flachland, um den Kugeln zu entkommen, umkurvt auf Schleichwegen Checkpoints der Regierung. Bei jedem Schlagloch schleudert es Hussein im Fond von der Trage, er brüllt vor Schmerzen. Er hat den Kopf im Schoß seiner Mutter vergraben, die beruhigend ihre Finger durch sein Haar gleiten lässt und ihm warme Cola einflößt, während Tränen über ihr Gesicht laufen.

Bei Einbruch der Dunkelheit erreicht der Rettungstransport das geheime Krankenhaus, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden darf, umgeben von Olivenhainen und weit weg von Assads Armee. Ein Chirurg sieht sich Husseins offene Wunden an und schüttelt den Kopf. Hier könne man nicht mehr viel tun außer Amputieren. Husseins Mutter bricht zusammen. Der Arzt verspricht ihr, den Sohn in einigen Tagen in ein Krankenhaus in der Türkei zu bringen.

Erst spät nachts macht sich Abd al Nasr auf den Rückweg nach Aleppo. Statt eines Verwundeten sitzen nun bewaffnete Kämpfer im Wagen, zum Schutz, falls sie in eine Kontrolle der Regierung geraten. „Gott steh uns bei“, flüstert Scheich Nasr. Der Tod kommt meistens nachts.

In der Nacht fliegt die syrische Luftwaffe wieder Angriff um Angriff. Die Rebellen schießen mit Mörsern auf Stellungen der Regierung und versuchen Flugzeuge mit schweren Maschinengewehren vom Nachthimmel zu holen. Ein Zwiegespräch der Waffen, stundenlang. Abd al Nasr hat die ganze Nacht kein Auge zugetan. Aus müden Augen blickt er auf sein Frühstück, schaufelt Fladenbrot und Humus in sich hinein, lächelt seine Söhne an. Plötzlich ein Zischen, gefolgt von einer Explosion. Staub und Gesteinsbrocken dringen durch das geöffnete Fenster. Abd al Nasr wirft sich schützend vor seine Kinder. Eine Granate hat das Nachbarhaus getroffen, keine fünf Meter entfernt, und das oberste Stockwerk weggerissen. „La ilaha illa Allah“, flüstert er. Es gibt keinen Gott außer Gott. Kurz darauf verlässt er seine Wohnung. Sein Lächeln ist verschwunden.

 

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