„Even war has rules“ – Sogar Krieg hat Regeln
Gedenkveranstaltung nach dem Angriff auf ein Krankenhaus in Kundus / picture alliance

Rechtsfreie Schlachtfelder - Wenn die Willkür zur Regel wird

Auch im Krieg gibt es Regeln. Trotzdem werden fast jeden Tag Krankenhäuser angegriffen während die Zivilbevölkerung verhungert. Die Krise des humanitären Völkerrechts wird jedoch nicht durch fehlende Regeln verursacht, sondern durch die Ignoranz der Konfliktparteien

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In Syrien werden Bomben auf Krankenhäuser geworfen, Journalisten enthauptet, Kulturgüter in die Luft gesprengt, Hilfskonvois behindert, Städte ausgehungert und Fassbomben über Wohnviertel gestreut. Ähnlich grausam geht es im Irak, im Jemen und im Südsudan zu. Die Regeln des humanitären Völkerrechts, einstmals verfasst, um das Leiden der Zivilbevölkerung zu mindern, scheinen in gegenwärtigen Konflikten nichts mehr zu zählen.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass heute 92 Prozent der Kriegstoten Zivilisten sind. Um die Jahrhundertwende 1900 soll die Zahl bei fünf Prozent gelegen haben. Auch wenn diese Zahlen umstritten sind, ist eine wachsende Kluft erkennbar zwischen dem, was an Kriegshandlungen erlaubt wäre, und dem, wie sich die Kriegsarteien verhalten.

Seit 150 Jahren gibt es Regeln im Krieg. Sie entstanden, um die Kampfhandlungen zu zügeln und um bestimmte Personen zu schützen. Die Erste Genfer Konvention entstand 1864. Heute bestimmen verschiedene aktualisierte Konventionen, Zusatzprotokolle und Verträge das Verhalten in Konflikten. Der Kern: Es muss immer unterschieden werden zwischen geschützten Personen – beispielsweise Zivilisten und Verwundeten – und Kriegsteilnehmern: Willkürliche militärische Aktionen sind verboten, zum Beispiel das Abwerfen von Fass-Bomben, weil sie jeden treffen können und dabei eben keine Unterscheidung möglich ist. Krankenhäuser, Schulen und Kulturgüter sind kein militärisches Ziel. Die Neutralität von Trägern des Roten Kreuzes, des Roten Halbmonds und des Roten Kristalls ist zu respektieren.

Krankenhäuser im Fadenkreuz
 

Doch selbst diese simplen, grundlegenden Regeln werden missachtet. Besonders großes Entsetzen lösten in den vergangenen Monaten die Bombardierungen von Krankenhäusern aus, unter anderem im afghanischen Kundus, im Jemen und im Februar in Syrien. Wegen der Dringlichkeit des Problems hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor wenigen Tagen erstmals einen Bericht über Gewalt gegen das Gesundheitswesen veröffentlicht. Demnach starben 2014 und 2015 bei 594 Angriffen auf Krankenhäuser und Personal fast 1000 Menschen. Besonders perfide: In 62 Prozent der Fälle wurden sie gezielt ins Visier genommen. Von Kollateralschaden kann keine Rede sein.

Einige Orte sind zu rechtsfreien Schlachtfeldern geworden – wie vor der Zeit der Genfer Konventionen. So, als wäre alles erlaubt.

Das streng unabhängige und unpolitische Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das über die Einhaltung der Genfer Konventionen wacht, weist eine allgemeine „Erosion“ des Kriegsvölkerrechts zwar zurück, erkennt aber dringenden Handlungsbedarf. Die grundlegenden Regeln seien immer noch aktuell, auch wenn sie mehrere Jahrzehnte alt sind und einer Welt entstammen, in der Kriege hauptsächlich zwischen Staaten geführt wurden. Das Problem ist die fehlende Einhaltung der Regeln.

Allgemeine Ignoranz gegenüber dem Recht
 

Die Gründe dafür sind vielfältig. Die allgemeinen Umstände haben sich verändert: Es gibt zerfallene Staaten, in denen weitgehend Anarchie herrscht und Verbrechen nicht verfolgt werden. Zudem sind heute Gruppen aktiv, die keine formale Befehlsstruktur mehr besitzen, in denen also keine Kontrolle mehr gegenüber Untergebenen besteht und damit auch keine Möglichkeit, normative Rahmen vorzugeben. Andere Organisationen wie der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) verstoßen bewusst gegen alle Regeln der Zivilisation und würden das humanitäre Völkerrecht am liebsten ganz beseitigen.

Der Hauptgrund aber ist eine allgemeine Ignoranz gegenüber dem Recht – auf allen Seiten. Nicht nur der „IS“, auch westliche Regierungen ignorieren völkerrechtliche Verpflichtungen. Vier der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats beteiligen sich an Koalitionen, die für die jüngsten Angriffe auf Krankenhäuser verantwortlich sind.

Staaten brechen die Regeln, weil sie militärisch nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Sie gehen davon aus, dass die andere Seite – in modernen Konflikten meist Rebellen – sich auch nicht an das Recht hält. Rebellengruppen unterzeichnen keine Genfer Konventionen und, so die Denkweise, seien deshalb auch nicht an sie gebunden. Tatsächlich gilt das humanitäre Völkerrecht aber auch für nicht-staatliche Akteure. Die Regeln der Kriegsführung sind durch ihre lange und weitverbreitete Anerkennung inzwischen Völkergewohnheitsrecht und gelten deshalb auch für Parteien, die nicht ausdrücklich einen Vertrag unterschrieben haben.

Staaten ziehen sich aus Debatten zurück
 

Ein weiterer Grund für die Ignoranz ist dem amerikanischen Jura-Professor Michael Schmitt zufolge die Tatsache, dass Staaten sich aus den Diskussionsprozessen ausgeklinkt hätten. Ursprünglich entstanden die Genfer Konventionen durch das Engagement von Regierungen. Heute würden die Debatten vor allem von Nicht-Regierungsorganisationen, Akademikern und Gerichten geführt. Dadurch könnte sich das humanitäre Völkerrecht in eine Richtung entwickeln, die die Staaten ablehnten, sagte Schmitt auf einer IKRK-Veranstaltung in Genf im April.

Für eine Wirkung ist jedoch die Akzeptanz und die Einhaltung der Regeln durch alle beteiligten Parteien nötig. Staaten kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon spricht in diesem Zusammenhang von einer Ansteckung der Nichteinhaltung. „Wenn Staaten humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte missachten oder untergraben, laden sie andere Staaten und nicht-staatliche Akteure ein, dasselbe zu tun.“

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