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(picture alliance) Proben für eine Militärparade vor dem Kreml in Moskau

Michael Naumann - Mein Wochenende vor dem Putsch in Moskau 1991

Michael Naumann, Chefredakteur von Cicero, war zwischen 1985 und 1995 Leiter der Rowohlt Verlage in Reinbek. Einer seiner Autoren war der Außenminister der UdSSR, Eduard Schewardnadse. Am Wochenende des Putsch-Versuchs gegen Michail Gorbatschow vor zwanzig Jahren traf er den Politiker in Moskau – und den flüchtigen Stasi-General Markus Wolf.

In der zweiten Augustwoche des Jahres 1991  flog ich nach Moskau, um mit dem ehemaligen Außenminister der UdSSR, Eduard Schewardnadse, über ein zweites Buchprojekt zu sprechen – seine Autobiographie, die im Rowohlt-Verlag erscheinen sollte. Sein erstes Buch, „Die Zukunft gehört der Freiheit“, war bereits im Juni 1991 ausgeliefert worden – allerdings mit fast einjähriger Verspätung.

Eigentlich hätte es bereits im vorangegangenen Jahr vorliegen sollen. Doch schon im August 1990 hatte Schewardnadse, der zusammen mit Gorbatschow für den sowjetischen Reformprozess verantwortlich zeichnete und ohne den die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre, seinem Bonner Kollegen Genscher signalisiert, dass er Ende des Jahres zurücktreten wolle. Er war der Opposition der rückwärtsgewandten Kräfte der KPdSU überdrüssig geworden.  Gorbatschow selbst, den er als seinen Freund aus jugendlichen Komsomol-Jahren betrachtete, hatte den Glasnost- und Perestroika-Prozess nicht mehr im Griff. Die russische Wirtschaft war zusammengebrochen, das große Imperium befand sich in einem inneren Auflösungsprozess.  Darüber hinaus machte in den Kreisen seiner Moskauer Feinde das Gerücht die Runde, Schewardnadse habe der Wiedervereinigung zugestimmt, weil ihn die Deutschen über eine Strohfirma namens Rowohlt bestochen hätten. Sein Garantiehonorar in Höhe von DM 100.000 lag auf einem Konto der Hamburger Sparkasse – er hat es viele Jahre später erst abgerufen. Es wäre ein allzu niedriger Preis für das ganze Deutschland gewesen.

Um jenem Gerücht keine Nahrung zu geben, hatte Schewardnadse die Ablieferung seines Manuskripts bis zum Jahresende 1990 verschoben und ich hatte ihm daraufhin während eines früheren Besuchs in Moskau die Geschichte des Verlegers von Karl Marx erzählt: Wenn das versprochene Manuskript unter dem Titel „Das Kapital“ nicht in den nächsten Wochen auf seinem Schreibtisch liege, so hatte ihm der ungeduldige Mann  gedroht,  werde er einen anderen Autor mit dem Thema beauftragen. Mein Gastgeschenk, eine Faksimile-Ausgabe der Erstauflage von „Das Kapital“, betrachtete er mit dem Interesse eines Papyrologen angesichts einer neu entdeckten Schrift aus ferner Vergangenheit.

Schewardnadses Manuskript lag dann doch Anfang 1991 in Reinbek vor. Sein Titel verdankte sich dem Schlussakkord der  Rücktrittsrede des Autors  vor der Duma: „Die Zukunft gehört der Freiheit.“ Es wurde in ein Dutzend anderer Sprachen übersetzt.

Vor meinem Flug nach Moskau im August 1991 hatte ich den Dichter Heiner Müller und seinen ihn stets begleitenden Westberliner Schatten, einen Herrn G., in der Berliner Paris-Bar getroffen und erzählt, dass ich am übernächsten Tag Eduard Schewardnadse treffen wollte. Herr G., dem allerlei dubiose Kontakte zur Stasi nachgesagt wurden, überraschte mich mit der Mitteilung, dass ich dann doch  Markus „Mischa“ Wolf anrufen könne, denn der sei ja auch in Moskau. Die Telefonnummer hatte er dabei.

Der Stasi-General und gefeierte Chef der DDR-Auslandsspionage war 1990 nach Moskau aus Furcht vor einem Prozess geflohen. Sein Amtschef Mielke war von der Modrow-Regierung verhaftet worden.  Kaum angekommen im Hotel „Savoy“ – gleich neben der berüchtigten Lubjanka gelegen - rief ich Wolf an,  um ihn zu treffen. Er sagte sofort zu.

Die sowjetische Wirtschaft war in jenen Tagen bereits zusammengebrochen. Die Straßen rings um das KGB-Gebäude am Dserschinsky-Platz hatten sich in Flohmärkte verwandelt, auf denen die Bürger der Hauptstadt persönliches Hab und Gut feilboten, Schuhe, Anzüge, Herdplatten, Gläser, Radios – es herrschte eine bedrückende Schwarzmarkt-Atmosphäre; in dem edlen Hotel verspielten junge Russen in einem kleinen Casino am Roulette-Tisch ihre wertlosen Rubel. Michail Gorbatschow, der Herr des zerfallenden Sowjet-Imperiums, machte derweil Urlaub auf der Krim. In einem Antiquariat gleich neben dem Hotel kosteten Erstausgaben von Pamphleten und Schriften Lenins aus der Zeit vor der Oktoberrevolution 50 Kopeken – umgerechnet vielleicht zehn Pfennige. Ein Porzellan-Relief Ernst Thälmann wartete vergebens auf einen Käufer. Das Museum der Oktober-Revolution war leer, niemand interessierte sich mehr für Lenins Rolls-Royce, der einst dem Zaren gehört hatte.

Wolf, der seine sozialistischen Hoffnungen mit dem Sturz des Honecker-Regimes begraben hatte, kam in einer mächtigen schwarzen Sil-Limousine mit Chauffeur vor dem Hotel an und schlug vor, zu seiner Schwester zu fahren. Ich wusste nicht, dass er eine Schwester hatte. Er machte ein nervösen, ja,  gehetzten Eindruck. Sein charmanter, ja eleganter Auftritt in feinstem Tuch lenkte von dem glasklaren, grauen Augenpaar ab, das dem Betrachter merkwürdig kalt, ja leblos vorkam: Es musterte sein Gegenüber in der Hotel-Lobby mit einer geradezu amtlichen Genauigkeit – und zugleich von ferne her. Er war, in einem Wort, unheimlich.

Die Schwester (war sie es wirklich) wohnte in einem bürgerlichen, großzügigen Apartment auf der anderen Seite der Moskwa, an den Wänden des Wohnzimmers -  edle Biedermeier-Möbel - hingen Bilder der deutschen Romantik: Zweifellos „Beutekunst“. Sie sprach kein Deutsch. Doch warum wollte Wolf mit mir reden? Als Journalist hatte ich ihn und seine Behörde einmal in der ZEIT porträtiert. Daran erinnerte er sich und lächelte.  

Wolf: „Glauben Sie, dass ich in Deutschland vor Gericht gestellt werde, wenn ich zurückkomme?“ Ich sagte ihm, dass die DDR ein souveräner Staat war, und seine Funktion als Chef-Spion den Regeln des Völkerrechts unterlag – und sofern er keinen Mord persönlich zu verantworten hätte, sei er wahrscheinlich ungefährdet. Die Unterhaltung – auf einem Beistelltischchen stand kalter Tee – nahm eine überraschende Wendung, als er seine junge Frau bat, hinzuzukommen: Kein Zweifel, Wolf zog es zurück nach Deutschland, obwohl er höchst wahrscheinlich seine russische Staatsbürgerschaft seit seiner Kindheit im sowjetischen Exil nie aufgegeben hatte. Ob ich auf Genscher Einfluss nehmen könne?  Ich antwortete, dass ich ihn ja anrufen könnte. Das Gespräch blieb stecken. Als ich ihn fragte, ob die größte Enttäuschung seines Lebens darin gelegen habe, dass ihn Hundertausende Ostberliner ausgepfiffen hätten, als  er sich im November 1989 bei der legendären Großdemonstration auf Berlins Alexanderplatz von der Plattform eines LKWs zur Reformpolitik der SED bekannte, sagte er: „Ja.“

Aber warum wollte er zurück? Die Antwort sollte zwei Tage später deutlich werden: Er wird von dem geplanten Putsch gegen Gorbatschow am 19. August 1991 gewusst haben – und er machte sich Sorgen. Die Limousine nebst Chauffeur war zweifellos ein KGB-Dienstfahrzeug.

Am nächsten Tag, Freitag den 16. August 1991, besuchte ich Schewardnadse: Er hatte das Gebäude einer von ihm gegründeten Stiftung bezogen, seine Berater – zwei Georgier, von denen einer einen russischen Namen angenommen hatte (der andere sollte später eine Professur in den USA annehmen)  - waren mit ihm aus dem Auswärtigen Amt in die innere Emigration gegangen. Schewardnadse, der nur gebrochenes Englisch sprach, war an einem zweiten Buchprojekt nicht mehr sonderlich interessiert (mit einem englischen Literaturagenten, so erfuhr ich später, hatte er einen Vorvertrag abgeschlossen.) Doch bei dieser Gelegenheit wurde ich Zeuge eines seltsamen Rituals: Eine wohlhabend gekleidete Frau stellte Schewardnadse einen vielleicht zehnjährigen Knaben vor – der zukünftige Präsident Georgiens gab eine Audienz, legte seine Hand segnend auf den Kopf des Kindes, das erstarrte und mit seiner Mutter alsbald wieder verschwand. Es war ein Blick in die Clan-Strukturen des kaukasischen Staats. Die Schewardnadse waren in der vor-revolutionäre Zeit eine mächtige georgische Familie.

Schewardnadse aber war so nervös wie Wolf: Irgendetwas lag in der Luft. Aber was?

Für Sonntag, den 18. August, hatte ich meinen Rückflug nach Hamburg gebucht: Das Elend in Moskaus Straßen war mit den Händen zu greifen, die Endzeitstimmung im Casino des Hotels „Savoy“ offenkundig, und am Montag putschte eine Clique um den Vizepräsidenten Janajew und den KGB-Chef Krjutschkow gegen den mächtigsten Mann der Sowjetunion, Michail Gorbatschow und erklärten den Generalsekretär der KPdSU für abgesetzt. Im Reinbeker Verlagsgebäude angekommen, rief ich am nächsten Tag Schewardnadse auf seinem Satelliten-Telefon an und bat ihn, ein Nachwort zu seinem Buch zu schreiben, das in der zweiten Auflage dann auch gedruckt wurde.

Die Straße vor seinem Stiftungsgebäude, so stellte sich heraus,  war mit Panzern zugestellt.   Er war unter Lebensgefahr zum „Weißen Haus“ in Moskau gegangen, um sich dort Boris Jelzin anzuschließen. Der war im Juni zum Präsidenten der russischen Teilrepublik gewählt worden und hätte seine Macht ebenfalls verloren. Auf einem Panzer stehend, bot er den Putschisten Stirn – ihre Streitkräfte zogen angesichts der Tausenden, die sich ihnen in den Weg stellten, wieder ab, die Putschisten flohen auf die Krim, ausgerechnet auf Gorbatschows Beistand hoffend. Schewardnadse sollte in seinem Nachwort schlussfolgern, dass sein Jugendfreund in die Putschabsichten eingeweiht gewesen sei – eine seltsame Behauptung, die womöglich dem Verschwörungsmilieu des KGB entstammte: Auch Schewardnadse  war ein seinerzeit berüchtigter Offizier des Geheimdiensts gewesen, der in Georgien die landesübliche Korruption mit brachialen Mitteln bekämpft hatte.

Und Markus Wolf? Hätten die Putschisten gesiegt, wäre es ihm wie auch Schewardnadse schlecht ergangen: Auf der Suche nach Verantwortlichen für den „Verlust“ der DDR hätten die reaktionären neuen Herren wahrscheinlich angeknüpft an die rechtsbeugende Tradition des Stalinismus. Schewardnadse hatte sich jedenfalls, eher zu Jelzin stieß, von seiner Familie telefonisch verabschiedet. Markus Wolf hingegen beantragte kurz nach dem Putsch in Österreich politisches Asyl und stellte sich den deutschen Behörden. Verurteilt wurde er 1997  zu zwei Jahren Haft auf Bewährung unter anderem wegen „Freiheitsberaubung.“ Neun Jahre später starb er in Berlin.  

Schewardnadse traf ich dann während eines Staatsbesuchs Gerhard Schröders in Tiflis wieder: Ein gebrochener Mann, der als Regierungschef Georgiens mehrere Attentate überlebt hatte und über jene Augusttage in Moskau nicht mehr sprechen wollte.

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