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Europäischer Salon - Europapolitik ist Innenpolitik

Europa ist ein komplexes Gebilde, aber auch ein großes Projekt. Der Rechtsexperte Christian Calliess spricht im Interview über die Chancen europäischer Einigung und die Tücken der Europapolitik

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Cicero Online ist Medienpartner des Europäischen Salons. Am Dienstag, den 26. November, laden wir um 18 Uhr in die Berliner Robert Bosch Stiftung zu der Veranstaltung „Nationaler Populismus - Europäische Öffentlichkeit - Europäische Werte?“

Cicero Online: Ist die Europapolitik zu komplex und flüchten sich deshalb viele wieder in eine nationale Perspektive?
Christian Calliess: Ein bekannter Werbeprofi, der für die EU eine Kampagne entwerfen sollte, sagte einmal: „Europa ist nicht Bionade“. Soll heißen, Europa ist ein komplexes „Produkt“, abstrakt finden es viele gut, konkret, wenn die gemeinsamen Regeln der EU nicht passen, dann fühlt man sich schnell gestört. Aber es ist auch Teil der europäischen Solidarität, nicht nur die ökonomischen und politischen Vorteile der europäischen Integration anzunehmen, sondern auch die daraus resultierenden Verpflichtungen – selbst, wenn man im Entscheidungsprozess mal überstimmt worden ist. Es ist ebenso die Ferne von Brüsseler Entscheidungen, die dazu führt, dass die Bürger sich schwer tun, Europapolitik als „ihre“ Politik anzunehmen. Insoweit sollte einerseits das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur das entscheiden soll, was von grenzüberschreitender Bedeutung ist und wo ein europäischer Mehrwert zu erkennen ist, stärker beachtet werden. Andererseits haben natürlich auch nationale Politik und Medien die Aufgabe, Europa-Themen so wie innenpolitische Themen aufzugreifen. Denn längst ist Europapolitik keine Außenpolitik mehr, sondern, so nenne ich es, europäisierte Innenpolitik.
Auch mich irritieren natürlich manche Dinge, die auf europäischer Ebene laufen. Dann mache ich mir aber immer wieder bewusst, was ich von der EU habe. Noch meine Großeltern haben zwei verheerende Weltkriege mit all ihren Folgen erleben müssen. Das vergessen wir schnell, ebenso wie die anderen selbstverständlich gewordenen Vorteile Europas, etwa die Reise- und Aufenthaltsfreiheit in der EU.

Macht Ihnen der neue nationale Populismus Sorgen?
Er macht mich nachdenklich, aber er ist letztlich als Teil der europäischen Demokratie zu sehen. Wir brauchen eine kontroverse Debatte, im Rahmen derer wir populistische Bewegungen nicht einfach abtun, sondern uns politisch, wissenschaftlich und medial mit ihren Argumenten auseinandersetzen. Der im Hinblick auf die Europawahl 2014 angekündigte Zusammenschluss der französischen Front-National-Vorsitzenden Marine Le Pen und des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders zeigt nur, dass populistische Bewegungen ernst genommen werden sollten. Die europäische Mehrebenen-Demokratie kann und muss diesen Diskurs führen, das kann die Demokratie in den Mitgliedstaaten – und auch in der EU – auf lange Sicht vielleicht sogar stärken. Auf diese Weise können aus nationalen Debatten europäische Debatten werden, geführt von einer europäischen Öffentlichkeit.

Was bedeutet es, wenn Marine Le Pen französische Präsidentin werden würde? Ist die EU dann am Ende?
Die europäische Integration hat schon viele politische Krisen durchlebt, auch diese gehören zur Demokratie.  Immer wieder hat sich gezeigt, dass die Vorteile als Mitgliedstaat der EU nicht nur ökonomisch, sondern in einer globalisierten Welt auch politisch überwiegen. Letztlich können wir nur gemeinsam das europäische Sozialmodell und die europäischen Werte gegenüber anderen Wirtschaftsmächten verteidigen. Das ist auch den Europaskeptikern bewusst, die auf diese Herausforderungen letztlich keine Antwort geben. Abgesehen davon finde ich es wichtiger, die Europawahl im Mai 2014 in den Fokus zu rücken, als bereits jetzt den Blick auf die Präsidentschaftswahl in Frankreich zu werfen.

Angenommen die Wirtschaftskrise in Europa löst sich auf. Wird das dann zu einer Vertiefung der europäischen Integration führen? Oder braucht es erst eine europäische Öffentlichkeit?
Im Zuge der Krise werden viele negative Assoziationen mit der Europäischen Union verknüpft, nationale Ressentiments werden geschürt. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hätte viele europäische Staaten ohne den gemeinsamen Schutzschild der EU allerdings viel härter getroffen. Sie hat allerdings auch den Konstruktionsfehler des Euro für uns alle sichtbar gemacht: Wir haben mit dem Vertrag von Maastricht 1992 zwar eine Währungsunion bekommen, dies aber ohne eine echte Wirtschaftsunion. Für die Wirtschafts- und Haushaltspolitik bleiben die Mitgliedstaaten zuständig, die bislang vorgesehene Koordinierung auf europäischer Ebene hat sich – das sehen wir immer wieder – als zu schwach erwiesen. Wer also den Euro mit all seinen Vorteilen erhalten will – und das ist gerade für das exportabhängige Wirtschaftswachstum in Deutschland von Interesse – der muss nach Lösungen suchen, wie die nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitiken europäisch überformt werden können, ohne dass das Prinzip der Eigenverantwortung aufgegeben wird. Wenn europäischer Zentralismus vermieden werden soll, dann muss insoweit dem Subsidiaritätsprinzip und den nationalen Parlamenten eine wichtige Rolle zugewiesen werden. Wir haben uns dazu in einem Kreis von Wissenschaftlern, der „Glienicker Gruppe“, Gedanken gemacht und Vorschläge in die öffentliche Debatte eingespeist.

Wie kann eine europäische Öffentlichkeit entstehen?
Zunehmend gibt es ja bereits europäische Kommunikationsräume: Europapolitische Themen wie die „Eurorettung“ werden in den einzelnen Mitgliedstaaten als europäisches Thema diskutiert, noch nie habe ich im Zuge dessen so viel über die politische Situation in Griechenland, Portugal, Spanien oder auch Frankreich erfahren wie in den letzten Jahren. Nationale Medien beschäftigen sich mit innenpolitischen Fragen anderer Mitgliedstaaten, sei es mit dem Italien Berlusconis oder den Verfassungsentwicklungen in Ungarn. Die Wahl in Italien oder Griechenland hat plötzlich innenpolitische Bedeutung in Deutschland! Für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit ist es jedoch auch notwendig, dass sich daran anknüpfend eine neue Kultur der öffentlichen Debatte in Europa herausbildet. Neue Informationskanäle wie die sozialen Medien bieten neben den klassischen Kanälen insoweit Chancen. Da setzt unser Projekt des „Europäische Salons“ an. Auch auf Unionsebene gibt es bereits Mechanismen zur Beteiligung der Öffentlichkeit – wie z.B. die neue Europäische Bürgerinitiative – aber diese Mechanismen können nur ausgefüllt werden, wenn den Bürgern ihre Rolle im Rahmen des europäischen Kommunikationsraumes mehr bewusst wird. Ich denke aber, das kommt mit den Themen. Im Übrigen sollten wir in diesem Kontext nicht strengere Kriterien an die EU anlegen, als im nationalen Raum, auch hier erleben wir mitunter eine Politikverdrossenheit, die öffentliche Diskurse ins Leere laufen lässt.  

Wird es jemals die Vereinigten Staaten von Europa geben und wird das Bundesverfassungsgericht da mitmachen?
Als Winston Churchill in seiner Zürcher Rede 1946 davon sprach, ging es für die in einem zerstörten Europa lebenden Menschen um eine Vision, eine Perspektive, die Hoffnung schaffen sollte. Heute hat dieser Begriff für mich eher eine Leitbildfunktion, anhand derer wir diskutieren können, wie viel Europa wir wollen. Aber die EU wird sich weder nach dem Vorbild der USA entwickeln, obwohl es sicher manch interessante Parallelen gibt, noch orientiert sich die europäische Integration an staatlichen Kategorien. Wir probieren hier in Europa – im Bewusstsein unserer kulturellen Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten – etwas ganz Neues. Es geht nicht um eine Staatswerdung Europas, um einen Bundesstaat, es geht vielmehr um etwas, das man als föderalen Verbund der Mitgliedstaaten beschreiben kann. Da kann auch das Bundesverfassungsgericht keine Einwände haben: Artikel 23 unserer Verfassung fordert die Mitwirkung Deutschlands auf dem Wege zu einem, wie es dort heißt, vereinten Europa. Und sofern das Gericht die sogenannte Ewigkeitsklausel unseres Grundgesetzes nicht im Hinblick auf die europäische Integration künstlich auflädt, werden auch die Integrationsgrenzen nicht erreicht.

Herr Calliess, wir danken Ihnen für das Interview.

Christian Calliess ist Professor für Europarecht an der Freien Universität Berlin und Mitinitiator- und veranstalter des Projekts „Europäischer Salon“. Im Rahmen der „Glienicker Gruppe“ hat er zusammen mit anderen Wissenschaftlern Vorschläge für eine Reform der EU formuliert.

Am Dienstag, den 26. November, findet in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung in Berlin um 18 Uhr eine Veranstaltung des Europäischen Salons zum Thema „Nationaler Populismus - Europäische Öffentlichkeit - Europäische Werte?“ statt.

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