- Ein unlösbares europäisches Dilemma
Angesichts des Massensterbens von Flüchtlingen sucht Europa hektisch nach neuen Möglichkeiten der Abschreckung von Flüchtlingen. Doch schnelle Lösungen sind nicht in Sicht, solange die EU ihre humanitären Wurzeln nicht verrät
Der Tod auf dem Mittelmeer kam so sicher wie der Frühling. Kaum sind die Winterstürme abgeflaut, überschlagen sich die tödlichen Schlagzeilen. In der vergangenen Woche starben vor der Küste Libyens vermutlich 700 Flüchtlinge. Am Wochenende kenterte ein Schiff, auf das offenbar rund 1000 Menschen gepfercht worden waren. Nur wenige konnten gerettet werden. Am Montag gerieten weitere drei Boote in Seenot. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das nächste seeuntaugliche Boot in Nordafrika in See sticht.
Wasserleichen zum Zweck der Abschreckung?
Es sage niemand, die Tragödie, die selbst die Bild-Zeitung „Europas Schande“ nennt, sei nicht vorhersehbar gewesen. Nicht ohne Zynismus haben die europäischen Staaten diese in Kauf genommen. Im Herbst vergangenen Jahres stellte Italien sein Programm „Mare Nostrum“ ein, mit dem zuvor seit Oktober 2013 rund 130.000 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zwischen Italien und Nordafrika gerettet werden konnten. Vergeblich hatte Italien zuvor an die europäischen Staaten appelliert, die finanziellen Lasten gemeinsam zu schultern und die geretteten Flüchtlinge auf ganz Europa zu verteilen. Stattdessen beschränkte sich die EU in dem Anschlussprogramm „Triton“ auf die Grenzsicherung. Man kann sich somit fast des Eindrucks nicht erwehren, als kämen manchem europäischen Politiker ein paar Wasserleichen zum Zwecke der Abschreckung gerade recht.
Jetzt wird hektisch nach einer Lösung gesucht, die Außenminister der EU treffen sich zu einer Krisensitzung. Wohl wissend, dass es keine schnellen Lösungen gibt.
Kurzfristig wird den europäischen Staaten deshalb nichts anderes übrig bleiben, als Mare Nostrum unter Federführung der EU und mit einer solidarischen Verteilung der Lasten wiederzubeleben, um das Massensterben zu stoppen. Sonst macht sich Europa der unterlassenen Hilfeleistung schuldig und verrät alle humanitären Werte, die den Kontinent zusammenhalten sollen. Und entgegen der Stimmungsmache vieler Rechtspopulisten wird diese humanitäre Verpflichtung kein europäisches Land überfordern.
Jede Seenotrettung lockt zugleich neue Flüchtlinge
Doch eine dauerhafte Lösung ist Mare Nostrum nicht. Denn jede europäische Seenotrettungsaktion im Mittelmeer lockt zugleich neue Flüchtlinge an, sie verstärkt den Massenexodus aus Afrika und erleichtert gleichzeitig den Schleppern ihr kaltblütiges Geschäft. Sie brauchen mit ihren schrottreifen Booten in Nordafrika nur noch in See zu stechen und dann SOS zu funken.
Das Dilemma der EU ist es doch, dass es im Grunde selbst mittelfristig keine Lösung für die Herausforderung der Flüchtlings- und Migrationspolitik gibt.
Ihre Möglichkeiten, auf die sogenannten Push-Faktoren einzuwirken, Fluchtursachen wie Krieg, Armut oder Hunger zu bekämpfen, sind einerseits sehr begrenzt. Im Gegenteil ist der Migrationsdruck aus den Bürgerkriegen im Nahen Osten sowie der aus den Armutsstaaten in Afrika auch im vergangenen Jahr weiter gestiegen. Die Not und die Verzweiflung vieler Menschen, aber auch die Sehnsucht nach dem gelobten Kontinent sind mittlerweile so groß, dass immer mehr Menschen bereit sind, für die Passage über das Mittelmeer nicht nur ziemlich viel Geld zu zahlen, sondern vor allem auch ihr Leben zu riskieren.
Ein Ende der Bürgerkriege in Irak und Syrien ist nicht in Sicht, die staatliche Ordnung in Libyen ist nachhaltig zusammengebrochen. Und solange in einer globalisierten Welt die Unterschiede zwischen Arm und Reich zunehmen, werden die Menschen aus dem armen Süden versuchen, in den reichen Norden zu gelangen. Zumal es den korrupten Eliten in vielen afrikanischen Ländern offenbar völlig egal ist, dass vor allem viele Menschen aus der Mittelschicht nach Europa aufbrechen. Sie stürzen sich lieber in Stammesfehden, als ihre Gesellschaften zu entwickeln und den durchaus vorhandenen Reichtum gerechter zu verteilen.
Auffanglager in Nordafrika sind keine Lösung
Der europäische Anspruch einer humanitären Flüchtlingspolitik stärkt andererseits jene Pull-Faktoren, die Europa zusätzlich attraktiv erscheinen lassen und ihrerseits den Migrationsdruck verstärken.
Auffanglager in Nordafrika, die jetzt von der Politik ins Spiel gebracht werden und in denen die Asylanträge von Flüchtlingen bearbeitet werden sollen, sind auch nur ein Ausdruck dieses europäischen Dilemmas. Sie sind der Versuch, die sich gegenseitig verstärkende Interaktion zwischen Push- und Pullfaktoren zu durchbrechen. Sie sind der Versuch, in der Flüchtlings- und Migrationspolitik wieder in die Offensive zu kommen, zu agieren, statt immer nur zu reagieren.
Gelingen wird dies kaum. Schließlich werden die Flüchtlinge ihr Sehnsuchtsziel nicht aufgeben, zumal viele von ihnen wissen, dass ihr Asylantrag aussichtslos wäre. Für sie bliebe ein Auffanglager allenfalls eine Etappe. Zudem lässt sich Europa nicht abschotten. Die Küsten sind zu unübersichtlich, die Grenzen zu lang. Mit Hilfe von Schleppern werden sie immer neue Wege über das Mittelmeer oder über die EU-Ostgrenze finden. Die Ankündigung, den Schleppern das Handwerk legen zu wollen, klingt indes zwar nach Tatkraft. Aber angesichts des Milliardengeschäftes wird der Kampf gegen Schlepper kaum erfolgreicher sein als der Kampf gegen die Drogenmafia.
Bleibt die Forderung, Fluchtursachen zu bekämpfen: Das ist genauso richtig wie wohlfeil. Denn wenn überhaupt, lassen sich hier nur langfristig Erfolge erzielen. Europa wird also mit seinem Migrationsdilemma leben müssen.
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