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Palästinenser - Opfer der eigenen Elite

Das Flüchtlingslager Jarmuk am Rande der syrischen Hauptstadt Damaskus entwickelt sich nach den Worten von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zum „Todeslager". Doch auf Hilfe aus den eigenen Reihen können die Eingeschlossenen nur bedingt hoffen. Denn das palästinensische Volk ist Opfer arabischer, islamischer – und elitär palästinensischer Politik

Autoreninfo

Michael Wolffsohn ist Historiker, Hochschullehrer des Jahres 2017 und Autor der Bücher „Wem gehört das Heilige Land?“, „Israel“, „Zum Weltfrieden“ und „Deutschjüdische Glückskinder, Eine Weltgeschichte meiner Familie“. 

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„Jarmuk“ in Damaskus ist die Hölle der Palästinenser. Bis vor Kurzem kannte kaum jemand diesen Namen. Der Jarmuk, Grenzfluss zwischen Syrien und Jordanien, ist der größte Nebenfluss des religions- und geschichtspolitisch so bedeutsamen Jordan. Jarmuk weist auf den ersten Blick also nicht unbedingt gleich auf Palästina.

Beim zweiten Blick ist klar: Wer diesen Namen für das 1957 damals bei, heute in Süd-Damaskus gelegene Lager (bis zur Zerstörung wurde es ein eher bürgerlicher Stadtteil) wählte, wollte signalisieren: Palästina ist ein Teil Syriens, es geht in Syrien auf. Der Name Jarmuk ist Programm: Palästina habe in Syrien aufzugehen. Nicht nur Palästina, auch Jordanien, welches zu Groß-Syrien, dem eigentlichen, historischen Syrien, gehörte.

Das Völkerrecht ist im Nahen Osten eine Gefahr
 

Historisch ist der großsyrische Gedanke belegbar, völkerrechtlich ist er überholt, obwohl er den ethnischen, bevölkerungspolitischen und religiösen Strukturen der Region organischer angepasst war als die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden künstlichen Staatengebilde Syrien, Libanon oder Jordanien. Dieser künstlichen Grenzziehung wegen brachen die Bürgerkriege aus, und wir stehen noch lange nicht am Ende dieser Entwicklung. Sie wird auch Jordanien und weitere arabisch-islamische Staaten treffen. Hart, aber wahr: Das Völkerrecht ist, so gesehen, kein Garant, sondern in diesem Fall strukturelle Gefahr für Frieden und Gerechtigkeit in Nahost.

Konkret bedeutet dies: Es gab und gibt sowohl in Syrien als auch in Jordanien, Libanon und ebenso bei den Palästinensern politische Akteure, die Groß-Syrien als Idee und Ziel verfolgen oder ablehnen. Auch und gerade heute, denn in und um den Bezirk Jarmuk kämpfen auf beiden Seiten Syrer und Palästinenser. Genau dieses gleichzeitige Miteinander und Gegeneinander von Syrern und Palästinensern bezeugt gedankliche und militärische Zerrissenheit. Es gibt weder „die“ Syrer, die das wollen, noch „die“ Palästinenser, die jenes anstreben.

Konkret: Weltlich orientierte Palästinenser, die Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC) – kämpfen mit Syriens Diktator Assad, einem Alawiten (also quasi Schiiten) gegen die sunnitischen Islamisten. Damit nicht genug: Diese weltlich orientierten Palästinenser sind Partner des schiitisch-fundamentalistischen Iran und dessen Libanon-Ableger, der Hisbollah-Miliz.

Palästinenser bekämpfen sich gegenseitig
 

Die vom Westen kümmerlich unterstützte Freie Syrische Armee (FSA) hat ebenfalls einen palästinensischen Verbündeten: die Liwa al-Asifa.

Doch damit nicht genug. Islamistische Palästinenser, die Hamas bzw. den Muslimbrüdern nahestehen, sind zwar ebenfalls Palästinenser, wollen aber weder mit ihren prowestlichen noch proschiitischen „Brüdern“ zusammenarbeiten oder gar zusammen kämpfen. Sie bekämpfen? Ja. Gemeinsam kämpfen? Nein.

Auch damit nicht genug. Jene Hamas-Islamisten waren bis 2012 mit Syriens Assad und den iranischen Mullahs gegen Israel verbündet. Der Hamas-Chef residierte und operierte von Damaskus aus. Genauer: Seine Zentrale war in Jarmuk. Inzwischen hat er seinen Standort gewechselt. Seine Aktivitäten organisiert er aus und in Istanbul, welches bekanntlich in der Türkei liegt. Diese ist, ebenfalls bekannt, NATO-Mitglied und wird derzeit im Auftrag der Allianz durch bundesdeutsche und niederländische Soldaten gegen Assad geschützt, obwohl der Türkei von Assad längst keine Gefahr mehr droht.

Warum und wann verließ der Hamas-Chef Damaskus? Als es 2012 schien, dass Assad den Bürgerkrieg in absehbarer Zeit verlieren würde. Die sunnitisch-fundamentalistische Hamas wandte sich von den Schiitenextremisten à la Teheran und dem gemäßigten, doch von den Iranern abhängigen „Schiiten“ Assad ab und den sunnitischen Islamisten zu.

Araber pfeifen auf die Selbstbestimmung der Palästinenser
 

Palästinenser gegen Palästinenser intern – jeweils mit externen Partnern. Das ist der rote Faden der Palästinenser-Geschichte. Es ist die Tragödie des palästinensischen Volkes. Seine Führung kämpft seit jeher untereinander und gegeneinander, nicht jedoch fürs eigene Volk als Ganzes. Es gibt keinen Minimalkonsens – außer „gegen Israel“ zu sein. Die Masse der Palästinenser ist Objekt ihrer Führung(en) bzw. Positionseliten. Sie ist Objekt, nicht Subjekt der Politik.

Jene im Namen Jarmuk enthaltene, eindeutig großsyrisch geprägte politische Botschaft ist heute in ihrem Kern so gültig wie damals und widerspricht der bei uns gängigen Wahrnehmung: Nicht alle arabischen und islamischen Brüder, die „Ich helfe den Palästinensern“ sagen, meinen das. Im Gegenteil, sie pfeifen darauf und erst recht auf die Selbstbestimmung der Palästinenser. Das palästinensische Volk ist Objekt, nicht oder nur selten Subjekt, arabischer, islamischer – und eben, besonders tragisch, elitär palästinensischer Politik.

Diese Aussage gilt nicht nur bezogen auf die Palästinenser-Hölle Jarmuk. Sie ist „nur“ das jüngste Paradebeispiel für die Tragödie dieses Volkes. Bei genauem, gefühls- und vorurteilsfreien Hinsehen stellt man erstaunt fest: Ja, der Konflikt mit Israel ist tragisch für die Palästinenser. Aber die meisten Tragödien der Palästinenser, auch die in „Jarmuk“, sind arabisch, islamisch und – erschütternd festzustellen – oftmals selbst verschuldet.

Selbst verschuldete Tragödie
 

Die Tragödie der Palästinenser begann spätestens Ende 1947. Da lehnte ihre Führung den UNO-Teilungsplan für Palästina ab und trieb ihr Volk in den Krieg gegen den entstehenden jüdischen Staat Israel. Auch damals fand sie draußen arabische „Brüder“, die eingriffen. Sie verloren 1948/49 den Krieg, und rund 700.000 Palästinenser flohen und wurden vertrieben.

Solange es keinen Grundkonsens unter den Palästinensern gibt, ist kein Ende ihrer Tragödie absehbar. Sie sind weder nach innen noch nach außen manövrierfähig. Nicht innerpalästinensisch, nicht innerarabisch und nicht gegenüber Israel. Viele fragen sich: Warum greift denn nicht die PLO-Führung unter Präsident Abbas ein und befreit ihre Landsleute? Diese Frage kann man nur mit einer Gegenfrage beantworten: Welche Palästinenser soll die PLO für wen und von welchen Palästinensern und arabischen „Brüdern“ befreien? Welche politische Rechtfertigung hat zudem Abbas? Er kam im Januar 2005 durch Volkswahl ins Amt. Seitdem hatte das Volk keine Wahl mehr. Sie fand nicht statt.

Wo man in der arabisch-islamischen Welt hinschaut: Die Palästinenser sind Opfer, sie werden regelrecht abgeschlachtet – nur nicht in Israel. Gewiss, als Araber und mehrheitlich Muslime sind sie im jüdischen Staat den Juden zwar rechtlich, aber im Alltag nicht wirklich vollkommen gleichgestellt.

Immerhin: Bei den Wahlen zum israelischen Parlament, der Knesset, am 17. März wurde die Araber-Partei drittstärkste Kraft. Ironie der Geschichte: Am besten lebt es sich für Palästinenser im jüdischen Staat.

Michael Wolffsohn, u.a Autor von „Wem gehört das Heilige Land?“ (11. Auflage 2014). Jetzt erscheint im dtv-Verlag "ZUM WELTFRIEDEN – Ein politischer Entwurf".

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