Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
Simon Prades

Mord am Kremlkritiker Alexander Litwinenko - Die Spur des Poloniums

Boris Nemzow ist nicht der erste ermordete Kremlkritiker. In London wird gerade der Gifttod des Ex-KGB-Offiziers Alexander Litwinenko neu aufgerollt. Im Fokus: Wladimir Putin 

Tessa Szyszkowitz

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

So erreichen Sie Tessa Szyszkowitz:

Zwei Stunden lang untersuchte der Litwinenko-Ausschuss in London ein einzelnes Haar. Es war einst auf dem Kopf von Alexander Litwinenko gewachsen, es war ein Haar des Opfers. Der Zeuge John Harrison, Direktor eines Strahlungszentrums, erklärte die Giftspuren an Wurzel, Stamm und Spitze. Das Haar wurde vergrößert auf allen Bildschirmen des Gerichtssaals gezeigt.

An jenem Märztag, in der Mittagspause, trat Litwinenkos Witwe auf die Straße vor die gotischen Royal Courts of Justice, hungrig und erschöpft. Marina Litwinenko ist fast täglich in dem Ausschuss, der den Tod ihres Mannes untersucht. Bis Ende des Jahres will der Vorsitzende Richter Sir Robert Owen seine Schlussfolgerungen präsentieren. Marina Litwinenko sagt: „Keiner wird mehr sagen können, dass es keine Beweise für diesen Mord gibt und wer dafür verantwortlich ist.“

Sie atmet tief durch, als fände sie, dass dies auf den Straßen Londons leichter gehe als in Moskau. Am gleichen Tag war der von Unbekannten nahe dem Kreml erschossene russische Oppositionelle Boris Nemzow in Russland zu Grabe getragen worden. „An einem Tag wie heute macht es mich besonders stolz, dass mein Mann von Anfang an versucht hat, allen klarzumachen, wer Wladimir Putin ist.“

Noch nie ist ein Geheimagent so öffentlich gestorben wie Litwinenko. Das Bild des dahinsiechenden ehemaligen KGB-Offiziers ging im November 2006 um die Welt. Von seinem Londoner Krankenhausbett aus blickte der Mann im grünen Krankenhauskittel ohne Haare und mit schwindender Lebenskraft in die Kamera. Die Anklage gegen seine Mörder aber schaffte er noch zu formulieren. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass der russische Geheimdienst hinter meiner Ermordung steckt“, gab er der britischen Polizei zu Protokoll. Der Todkranke zögerte auch nicht zu sagen, wen er für den Auftraggeber hielt: „Verantwortlich dafür ist der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin.“

Drei Wochen nach der Vergiftung durch das radioaktive Isotop Polonium-210 starb Litwinenko in der Universitätsklinik in London, am 23. November 2006, er war 43 Jahre alt. Die Briten wähnten sich damals in der Fortsetzung des John-le-Carré-Thrillers „Der Spion, der aus der Kälte kam“.

Erst in diesem Winter aber wurde das Ausmaß der Intrige aus den vergangen geglaubten Zeiten des Kalten Krieges in jedem Detail der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es bedurfte der Ukrainekrise, um die britische Regierung von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Fall Litwinenko ein für alle Mal zu untersuchen. Fünf Tage nach dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine, der russischen Rebellen zugeschrieben wird, verkündete die britische Innenministerin Theresa May am 22. Juli 2014 die Einsetzung eines öffentlichen Untersuchungsausschusses. Unter dem Vorsitz von Sir Robert Owen tagt dieser seit dem 27. Januar im Gerichtssaal 73 der Royal Courts of Justice. Marina Litwinenko sitzt im Saal und hört zu.

Drei Dinge stehen inzwischen zweifelsfrei fest. Der Mord war kein Hirngespinst von Krimifans. Aktive und passive Geheimdienstagenten – sogenannte Sicherheitsexperten – aus Ost und West haben aus zwielichtigen Motiven ein engmaschiges Netz über ganz Europa geworfen. Und: Der Kalte Krieg ist nicht vorbei.

„Wie konnte es zu diesem Mini-Atomangriff auf den Straßen Londons kommen?“, sinnierte Kronanwalt Robin Tam am Eröffnungstag. Dann fasste er den Hergang der Tat, wie er sich nach den Ermittlungen von Scotland Yard darstellt, zusammen, und es ergab sich die folgende Vorgeschichte:

Alexander Litwinenko hatte 1988 beim sowjetischen Geheimdienst KGB angefangen. Wie die meisten Kollegen wechselte er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 in den Sicherheitsapparat des Nachfolgestaats Russland. Seine neue Arbeitsstelle, der Inlandsgeheimdienst FSB, aber entwickelte sich nicht demokratisch. 1997 war der Offizier in einer geheimen Spezialeinheit des FSB namens URPO gelandet, die offiziell zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens eingerichtet worden war. Tatsächlich, wie Litwinenko später öffentlich erklärte, diente URPO dazu, „Rechnungen mit unerwünschten Personen zu begleichen, private, politische und kriminelle Aufträge gegen Bezahlung auszuführen und manchmal einfach als Instrument, um Geld zu verdienen“.

1997 bekam Litwinenko den Auftrag, den russischen Oligarchen Boris Beresowski umzubringen. Litwinenko dachte, es handle sich um einen Irrtum und informierte die oberste Etage im FSB. Gleichzeitig warnte er Beresowski. Der war zu diesem Zeitpunkt noch die graue Eminenz im Kreml. Gerade hatte er Boris Jelzins Wiederwahl orchestriert. Litwinenko hatte den umstrittenen Strippenzieher Beresowski einige Jahre zuvor kennengelernt, als er einen früheren Mordversuch gegen ihn untersucht hatte. Er arbeitete in der Folge auch privat für den Oligarchen.

Als Litwinenko begriff, dass es sich bei dem Mordkomplott nicht um einen Irrtum handelte, wandte er sich mit Kollegen an die Öffentlichkeit. Einige Monate nach der Pressekonferenz in Moskau wurden aber nicht die Verschwörer verhaftet, sondern Litwinenko. Als er im Jahr 2000 freigelassen wurde, flüchtete er mit seiner Frau Marina und seinem heute 21 Jahre alten Sohn Anatoli nach London.

„Kann es sein“, sinniert Kronanwalt Tam 15 Jahre später im Londoner Gerichtssaal 73, „dass diese Pressekonferenz im Jahre 1998 dazu führte, dass er später in London vergiftet wurde?“

Tagelang begutachtete der Ausschuss jede Facette des Mordes. Die vermeintlichen Geschäftspartner Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun hatten sich mit Alexander Litwinenko am 1. November 2006 in der Hotelbar des Millennium-Hotels im Londoner Stadtteil Mayfair getroffen. Zu dieser Zeit arbeitete der einstige FSB-Offizier als Berater für europäische Geheimdienste, verfasste aber auch für Privatunternehmen Berichte über den russischen Sicherheitsapparat. Er hatte Lugowoi im Umfeld von Boris Beresowski in London kennengelernt.

Litwinenko ließ sich auf einen grünen Tee einladen, in den Lugowoi und Kowtun vorher das hochgiftige Isotop Polonium-210 gekippt hatten. Die britische Polizei fand Spuren des Giftes auf den Flugzeugsitzen der beiden Männer, in ihren Hotelzimmern und an ihnen selbst.

Noch am selben Abend begann Litwinenko sich zu übergeben. Nicht nur er und seine Frau gerieten in Panik. Auch in den weiteren Kreisen der Welt der Exagenten verbreitete sich Angst.

Litwinenko war seit Moskauer Tagen ein Spezialist für organisiertes Verbrechen. Die bizarre russische Mischung aus Mafia und Macht, Mord und Moneten hatte Russlands neokapitalistische Ära in den neunziger Jahren geprägt. Unter dem ehemaligen Geheimdienstoffizier Wladimir Putin aber kam eine neue Riege von KGB-Kleptokraten an die Macht. Deren potenzielle kriminelle Energie war selbst für Experten nicht leicht einzuschätzen.

Am 6. November 2006 schrieb der italienische Sicherheitsexperte Mario Scaramella, der in engem Kontakt mit Litwinenko stand, eine E-Mail an den Erkrankten: „Gestern hat mir Jewgeni Limarew erzählt, dass sie Killer schicken wollten, um uns zu töten.“ Limarew, selbst ehemaliger FSB-Agent, lebt heute mit seiner Familie in Frankreich.

„Können Sie sich an diesen Austausch mit Scaramella erinnern, Herr Limarew?“, fragt Kronanwalt Tam den Zeugen, der am 25. Februar über Videolink in den Gerichtssaal 73 geschaltet wird. Limarew zögert mit seiner Antwort, wie so oft an diesem Tag. Dann murmelt er: „Nein, ich kann mich nicht erinnern.“

Dass er alles über das Mordkomplott gegen Litwinenko vergessen haben will, glaubt ihm sogar der sonst so geduldige Jurist Tam nicht. „Herr Limarew, es handelt sich hier um wirklich ziemlich dramatischen Stoff, nicht wahr? Sie hatten Informationen über ein Mordkomplott gegen Leute, mit denen Sie arbeiteten. Sie müssen sich doch an irgendetwas erinnern?“ Limarew verneint.

Die Gedächtnisschwäche bei den anwesenden Zeugen ist nur ein Problem dieser Untersuchung. Schwerer wiegt, dass der Ausschuss ohne die des Mordes Verdächtigten auskommen muss. Dmitri Kowtun ist untergetaucht. Andrei Lugowoi sitzt heute als Abgeordneter von Putins Partei Geeintes Russland in der Staatsduma, dem russischen Parlament. Der Antrag der britischen Staatsanwaltschaft, die mutmaßlichen Mörder auszuliefern, wurde schon 2007 abgelehnt. Ende Januar ließ Lugowoi ausrichten, die neuerliche Untersuchung sei „Blödsinn“.

D

Marina Litwinenko holt weiter aus, um die Umstände im damaligen Russland zu erklären: „1993 waren wir alle in Russland in einer heiklen Lage. Wir lernten die Vorzüge, aber auch die Nachteile des Kapitalismus kennen. Sascha wurde mit dem Fall meines Freundes betraut und löste ihn zu allgemeiner Zufriedenheit. Er sprach darüber offen.“

Als die Litwinenkos einander kennenlernten, war der FSB-Mann auch im Kaukasus im Einsatz. Russland führte damals einen brutalen Krieg gegen Tschetschenien. Litwinenko arbeitete mit Informanten, die er in der rebellischen Republik rekrutiert hatte. „Ich wusste, dass er keinen normalen Job hatte, der von neun bis fünf dauerte“, sagt seine Witwe. „Doch Sascha hat seine Arbeit sehr ernst genommen, für ihn ging es darum, Gerechtigkeit zu schaffen.“

Nach seinem Seitenwechsel wurde dies eine Passion. Von London aus entwickelte er sich zu einem der schärfsten Kritiker des russischen Präsidenten. In seinem Buch „Eiszeit im Kreml – Das Komplott der russischen Geheimdienste“ beschuldigte er 2002 Putin, den FSB benutzt zu haben, um 1999 eine Reihe von Wohnhäusern in Moskau in die Luft zu sprengen. 300 Menschen starben damals. Die Anschläge wurden tschetschenischen Terroristen zugeschrieben. Laut Litwinenko hat Putin, der gerade vom FSB-Chef zum Premierminister Russlands aufgestiegen war, die entfesselte Volkswut genutzt, um einen zweiten Krieg gegen Tschetschenien zu beginnen. Dieser beförderte ihn mit hohen Popularitätswerten auf den Präsidentensessel im Kreml.

Das offizielle Russland tat diese Theorie als irre Fantasie ab. Eine öffentliche Kommission unter der Leitung des angesehenen russischen Menschenrechtlers Sergei Kowaljow kam zum gleichen Schluss wie Litwinenko. Drei Mitgliedern der Kommission bekam dies schlecht: Der Kommissionsvorsitzende Sergej Juschenkow wurde 2003 erschossen, der Ermittler Michail Trepaschkin für vier Jahre in ein Straflager gesteckt, und der Kommissionsmitarbeiter Juri ­Schtschekotschichin starb unter ungeklärten Umständen – seine Kollegen von der Zeitung Nowaja Gaseta vermuteten, er sei vergiftet worden.

Die Umstände der Explosionen wurden nie endgültig geklärt. Den meisten Berichterstattern schien der Vorwurf zu absurd, dass Putin 300 seiner eigenen Landsleute habe umbringen lassen, um einen Krieg gegen Tschetschenien zu legitimieren. Regierungskritische Journalisten halten die Vorwürfe für plausibel.

Kurz vor seinem Tod arbeitete Litwinenko an einem Bericht über verschwundene Mitarbeiter des Ölkonzerns Yukos. Das lukrative Unternehmen des russischen Oligarchen Michail Chodorkowski war nach dessen Verhaftung im Herbst 2003 zerschlagen und dem staatlichen Konzern Rosneft einverleibt worden. Chodorkowski verbrachte zehn Jahre im sibirischen Straflager.

In der detaillierten Aufarbeitung des Falles Litwinenko spielte auch der britische Geheimdienst eine Rolle. 72.000 Pfund (etwa 100.000 Euro) erhielt der ehemalige FSB-Agent vom MI6 vom Zeitpunkt seines politischen Asyls bis zu seinem Tod 2006. Die Briten zahlten dem Russen monatlich 2000 Pfund (etwa 2800 Euro) als „Beratungshonorar“. Litwinenko war wertvoll für die britische Spionage. Er kannte das russische Äquivalent FSB von innen, und er verriet die Namen russischer „Schläfer“ in Großbritannien. Auch andere europäische Geheimdienste wie die Spanier und Italiener beriet Litwinenko.

Hätten die westlichen Geheimdienste Berührungsängste haben sollen? Immerhin war Litwinenko einige Jahre lang im Gewässer des russischen Sicherheitsdiensts geschwommen. Und frei war er von seinem Habitat auch in London nicht. In den russischen Exilkreisen sterben Menschen bis heute die seltsamsten Tode. Vor zwei Jahren wurde Boris Beresowski in seiner Villa im Londoner Vorort Ascot erhängt aufgefunden. Der Untersuchungsrichter fällte am Ende ein „offenes Urteil“. Selbstmord war möglich. Sicher war er sich nicht.

Im Gerichtssaal 73 herrscht unter den Beobachtern des Litwinenko-Ausschusses immer wieder Fassungslosigkeit darüber, wie russische FSB-Agenten direkt unter den Augen des MI6 mit hochgiftigen Stoffen in London herumgetölpelt waren. Die gedungenen Mörder hatten zudem mehrere Anläufe gebraucht, um Litwinenko zu vergiften. Einmal hatte Lugowoi eine Dosis Polonium-210 sogar im Bad seines Londoner Hotelzimmers verschüttet und mit Handtüchern aufgewischt. Auch in Hamburg hinterließ Dmitri Kowtun eine Polonium-Spur – auf der Couch seiner Exfrau zum Beispiel.

Obwohl Alexander Litwinenko den FSB so gut kannte, konnte er seine eigene Ermordung nicht verhindern. Für seine Feinde gab es zu viele Gründe, ihn zum Schweigen zu bringen. Sein ehemaliger Chef im FSB, Alexander Gusak, sagte 2007 in einem BBC-Interview: „Für mich ist er ein Verräter. Er hat verraten, was für einen Geheimagenten das Wichtigste ist: seine Quellen. Nach russischem Recht wird das mit 20 Jahren Haft bestraft. Früher, in der Sowjetunion, gab es dafür die Todesstrafe. Und ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen.“

Litwinenko-Anwalt Ben Emmerson hatte zum Auftakt der Untersuchung erklärt: „Die Spur des Polonium-210 führt direkt zur Tür von Wladimir Putin.“ Die Aussage des Polonium-Experten David Dombey scheint diese Anschuldigung zu stützen. „Im Westen wird Polonium-210 nicht mehr hergestellt“, sagt der Professor für Theoretische Physik an der Universität Essex vor dem Untersuchungsausschuss. Er stellt auch klar, wo es das radioaktive Isotop noch gibt. „Produziert wird Polonium-210 in der ehemals sowjetischen Atomwaffenstadt Arzamas-16, die heute Sarow heißt.“ Laut einem Bericht des russischen Atomenergieministeriums sei die Produktion von Polonium-210 im Labor Avangard heute eine wichtige kommerzielle Aktivität. Das Isotop selbst müsse aus der Majak-Anlage in Osersk stammen. Da die Produktion strikt unter staatlicher Aufsicht stehe, schlussfolgert Dombey: „Der russische Staat oder seine Agenten sind für die Vergiftung verantwortlich.“

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.