- „Europa sprengt sich eigenhändig“
Die europäische Krise könnte bald schon eine Krise der Demokratie zur Folge haben. Der Sozialwissenschaftler Thorsten Schulten fordert den neoliberalen Kurs in Europa umzukehren – bevor rechtspopulistische Gegentendenzen die Demokratie ernsthaft bedrohen
Herr Schulten, leben wir bereits in einer
Postdemokratie?
In der Tendenz, ja. Postdemokratie meint ja – basierend auf der
Definition des britischen Sozialwissenschaftlers Colin Crouch –
dass zwar die formalen Institutionen der repräsentativen Demokratie
weiter existieren. Sprich: Wir können weiter bei Wahlen unser
Kreuzchen setzen, die Parlamente bestehen fort. Jedoch werden die
realen Entscheidungen über wichtige (wirtschafts-)politische Fragen
nicht mehr von diesen Institutionen getroffen, sondern von anderen
privaten Akteuren, die harte wirtschaftliche Interessen verfolgen –
international agierende Unternehmen, institutionelle Anleger,
Agenturen, – aber auch scheinbar „unabhängige“ Institutionen wie
die EZB oder der IWF, die allesamt kaum demokratisch legitimiert
sind.
Auch
in Deutschland?
Das Problem der Postdemokratie trifft mehr oder weniger alle
europäischen Staaten, in unterschiedlichen Ausmaßen. Deutschland
macht keine Ausnahme.
Woran machen Sie das fest?
Zum einen deuten zahlreiche Umfragen und nicht zuletzt die
Wahlbeteiligung, die teilweise nur noch bei etwa 50 Prozent liegt,
darauf hin, dass seitens der Bürger ein starker
Legitimationsverlust besteht.
Zum anderen ordnet sich die Politik selbst auch immer mehr den vermeintlichen Sachzwängen der Wirtschaft unter. Politische Entscheidungen werden heute immer darauf abgeklopft, was „die Märkte“ dazu sagen. Da frage ich mich, wer sind eigentlich „die Märkte“? Haben die auch einen Namen, eine Adresse, einen Briefkasten?
Schließlich erleben wir derzeit in Europa einen rasanten Prozess der Entdemokratisierung, der insbesondere in Südeuropa beobachtbar ist. In Griechenland etwa werden die politischen Geschicke weitgehend von der Troika aus EU, EZB und IWF gelenkt statt von national gewählten Volksvertretern. Mit dem finanziellen Druck im Hintergrund werden diesen Ländern einschneidende politische und soziale Veränderungen abverlangt, die sie nicht mehr demokratisch gestalten können.
Aber haben die europäischen Staaten nicht erst über die
EU an demokratischer Substanz gewonnen?
Zweifelsohne hat die europäische Integration nach dem Zweiten
Weltkrieg zur Stärkung der Demokratie in Westeuropa beigetragen.
Dies gilt auch für die südeuropäischen Länder Griechenland, Spanien
und Portugal, in denen bis Mitte der 1970er Jahre autoritäre
Diktaturen bestanden. Seit Mitte der 1980er hat sich der
europäische Integrationsprozess jedoch grundlegend gewandelt. Die
EU ist seitdem immer mehr zu einer neoliberalen
Liberalisierungsgemeinschaft geworden, der es primär um die
Freiheit der Märkte und weniger um soziale Rechte ging. Gegenwärtig
erleben wir, wie die EU die Krise ausnutzt und mit ihren
„Reformprogrammen“ in immer mehr Ländern die Politik bestimmt,
während die demokratisch gewählten nationalen Parlamente kaum mehr
etwas zu sagen haben.
[gallery:20 Gründe, warum sich Ehrlichkeit in der Politik nicht lohnt]
In ganz Europa haben wir es mittlerweile mit einer erheblichen Machtverschiebung zu Ungunsten der klassischen Institutionen der repräsentativen Demokratie zu tun. Die Finanzmärkte haben sich verselbstständigt. Daran hat die Politik einen entscheidenden Anteil.
Inwiefern?
Indem sie die einst hochgradig politisch regulierten und
gesteuerten Märkte seit den 70er Jahren systematisch deregulieren.
Erst das hat die Verselbständigung ermöglicht. Diese Deregulierung
hängt mit der Vorherrschaft eines bestimmten Politiktypus zusammen,
den man zu Recht als neoliberal bezeichnen kann. Von Großbritannien
und den USA aus hat er sich über ganz Europa ausgedehnt. Sprich:
Die Politik setzt darauf, die Märkte von politischen Regeln zu
befreien und will damit zu effizienten Wirtschaftsweisen kommen.
Faktisch sehen wir jedoch, dass das Gegenteil der Fall ist.
Seite 2: Warum sich die EU eigenhändig ihr Grab schaufelt
Schaufeln die europäischen Staaten eigenhändig das Grab
für ihre Europa-Idee?
Wenn man es zuspitzt, ist diese These richtig, denn auch das
europäische Projekt hat einen Wandel erfahren. Die europäischen
Staaten stehen heute als Konkurrenten zueinander – Steuern,
Sozialabgaben, Löhne. Derzeit verstärkt die herrschende
Europapolitik die autoritären, nichtdemokratischen Momente. Diesen
Sprengsatz haben sie eigenhändig im Inneren der Europäischen Union
platziert.
War es zu früh für die Europäische Währungsunion? Hätte
man die nationalen Wirtschaftspolitiken erst harmonisieren
müssen?
Geht man nach dem Lehrbuch, wäre es in der Tat sinnvoller gewesen,
zunächst eine stärkere wirtschaftliche Konvergenz zu schaffen –
eine Koordinierung der Lohnentwicklungen und der Wirtschaftspolitik
insgesamt. Dessen bedarf es im Übrigen auch heute noch.
Das trifft aber nicht nur die südeuropäischen Länder, sondern genauso die nordeuropäischen Überschussländer, allen voran Deutschland. Deutschland hat die mit Abstand niedrigste Lohnentwicklung seit den 2000er Jahren und ist das einzige Land, in dem die Beschäftigten am Ende des vergangenen Jahrzehnts real weniger hatten als am Beginn. Da die anderen Länder diese Entwicklung nicht nachvollzogen haben, wurde Deutschland immer wettbewerbsfähiger und konnte sie unter Druck setzen.
Sie hielten kürzlich einen Vortrag auf dem
WSI-Herbstforum unter der Überschrift: „Von der Postdemokratie zur
europäischen Wirtschaftsdemokratie“. Ist das Ihre Antwort auf die
Postdemokratie?
Die Antwort auf das Phänomen der Postdemokratie kann nur sein, der
Demokratie wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Es sind Formen des
Wirtschaftens entstanden, die keiner mehr steuern kann. Um derart
schwerwiegende Krisen in Zukunft zu vermeiden, muss die Macht der
Finanzmarktakteure wieder beschnitten werden. Damit sind wir beim
Thema der Wirtschaftsdemokratie.
Wie würde diese aussehen?
Hier müssen die demokratischen Beteiligungs-, Kontroll- und
Mitbestimmungsrechte auf allen Ebenen wirtschaftlichen Handelns
gestärkt werden. Es geht um die Beteiligung der Politik aber auch
um eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer und Gewerkschaften an
wirtschaftlichen Entscheidungen – sei es im Rahmen transnationaler
Unternehmen oder der gezielten Förderung bestimmter Industrien und
Dienstleistungen.
Eine Auflösung der Währungsunion, wie sie heute vielfach
gefordert wird, steht für Sie nicht zur Debatte?
Diese Konzepte sind nicht überzeugend, denn sie suggerieren, dass
so etwas wie eine geregelte Auflösung der Währungsunion hin zu
einem System nationaler Wechselkurse möglich sei. Das kann
ich mir nicht vorstellen. Es könnte noch viel massivere soziale
Verwerfungen in ganz Europa verursachen. Dieses Risiko ist einfach
zu groß.
Seite 3: Die Demokratie in 20 Jahren
Was bedeutet Wirtschaftsdemokratie in
Europa?
Eine europäische Wirtschaftsdemokratie – so wie ich sie mir
vorstelle – würde ebenfalls auf eine politische Vertiefung der
europäischen Integration setzen, diese jedoch mit einer
grundlegenden Demokratisierung politischer und wirtschaftlicher
Entscheidungsstrukturen verbinden. Hinzu käme ein umfassender
Ausbau sozialer Rechte, denen eindeutig Vorrang vor den
wirtschaftlichen Marktfreiheiten eingeräumt werden müsste.
[gallery:20 Gründe, die D-Mark wieder einzuführen]
Unsere derzeitige Bundesregierung setzt ebenfalls auf eine weitere Vertiefung des Integrationsprozesses, allerdings eher im Sinne einer autoritären Wettbewerbsgemeinschaft, in der alle europäischen Staaten auf einen neoliberalen Wirtschaftskurs gezwungen werden. Man versucht, das deutsche Modell, nämlich das einer sehr erfolgreichen Exportnation auf ganz Europa zu übertragen. Das kann nicht funktionieren. Wenn es Überschussländer gibt, gibt es automatisch auch Defizitländer. Wir brauchen stärkere Abstimmung auf internationaler Ebene. Wir brauchen eine koordinierte Wirtschaftsentwicklung. Wir brauchen aber auch gemeinsame Anstrengungen, den südeuropäischen Ländern wieder auf die Beine zu helfen.
Mittels Rettungspaketen?
Wir müssen die Austeritätspolitik aussetzen – weg von der radikalen
Sparpolitik, damit sich wieder eine ökonomische Dynamik entwickeln
kann. Griechenland hat in kurzer Zeit Sparanstrengungen getätigt
wie sonst kein anders europäisches Land seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Schulden werden dennoch größer. Warum? Weil gleichzeitig die
Wirtschaft so in die Knie gezwungen wurde, dass die Einnahmenseite
völlig weggebrochen ist. Dieser Kurs muss umgekehrt werden. Statt
einfach Geld nach Griechenland zu geben, womit derzeit ja sowieso
nicht den Menschen, sondern nur den Banken und anderen finanziellen
Gläubigeren geholfen wir, sollten wir gezielt in wirtschaftliche
Entwicklungen im Sinne eines Marshall-Plans investieren. Zum
Beispiel könnte der Ausbau der regenerativen Energie eine
Zukunftsstrategie für Griechenland sein.
Die Demokratiekrise hat vor gut 20 Jahren begonnen.
Davon ausgehend, dass die Politik ihren Kurs weiterfährt, wie steht
es dann in weiteren 20 Jahre um die Demokratie und europäische
Union?
Das derzeitige Entwicklungsmodell einer autoritären
Wettbewerbsgemeinschaft ist nicht zukunftsfähig. Es wird
seinerseits autoritäre Gegentendenzen hervorbringen, die stark
rechtspopulistisch und nationalistisch geprägt sind und scheinbar
die Interessen der sozialen Verlierer aufgreifen. In vielen
europäischen Ländern haben sich solche rechtspopulistischen
Bewegungen bereits zu einem realen Machtfaktor entwickelt und
können – siehe Ungarn – zu einer Bedrohung demokratischer
Strukturen werden. Die herrschende Politik in Europa hat den Ernst
der Lage nicht begriffen. Die Legitimationsreserven der EU werden
zusehends ausgezehrt. Europa hat nur eine Zukunft, wenn es zu
grundlegenden ökonomischen Kurswechsel und einer umfassenden
Demokratisierung seiner politischen und wirtschaftlichen
Entscheidungsstrukturen kommt. Genau darauf zielt die Idee einer
europäischen Wirtschaftsdemokratie.
Dr. Thorsten Schulten studierte Politikwissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Seit 1997 arbeitet er beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung, wo er seit 2004 als Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa tätig ist.
Das Interview führte Jana Illhardt.
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