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(picture alliance) Ein Land trauert – immer noch

Norwegen und das Trauma - Ein verletztes Land

Ein Jahr ist vergangen, seit Anders Abehring Breivik in Norwegen 77 Menschen ermordete. Seitdem lebt das Land mit einem nationalen Trauma. Die Wunden heilen nur langsam

Und dann war alles ganz still. Die Eisenbahnzüge in Norwegen wurden zum Halten gebracht. Der Straßenverkehr in Oslo kam zum Erliegen. Die Bürger ließen ihre Arbeit ruhen. Im ganzen Land – selbst in den skandinavischen Nachbarländern – kamen die Menschen zusammen und schwiegen gemeinsam. Eine Minute lang. Das war drei Tage nach dem 22. Juli.

Ein bisschen hört sich das an wie der 11. September. Ein Datum, das ohne Jahreszahl auskommt. Denn es beschreibt nicht einfach nur einen Tag, ein irgendwann in der Zeitleiste, sondern eine Zäsur in der Geschichte eines Landes, das seitdem nur noch ein davor und ein danach kennt. So bedeutete Terror nach 9/11 in den USA nicht mehr dasselbe wie davor. Dasselbe gilt für Norwegen nach jenem sonnigen Samstag im Juli des vergangenen Jahres.

77 Menschen starben bei dem Bombenanschlag in Oslo und dem Massaker auf der Insel in Utoya. Für Norwegen ist es das schlimmste Unglück seit dem Zweiten Weltkrieg. Denn Anders Behring Breivik ermordete nicht nur 77 Menschen, er traf knapp fünf Millionen Norweger. Mitten ins Herz.

[gallery:Kinder des Regenbogens – Ein Lied für Norwegens Trauma]

Ein Jahr ist seither vergangen. Millionen Menschen pilgerten zwischenzeitlich in die norwegische Hauptstadt, fanden Platz in der Domkirche in Oslo, weinten auf den kargen Holzbänken. Viele von ihnen trösteten sich mit dem Glauben an ein Leben nach dem Tod. Denn die Hoffnung, dass der Tod vielleicht doch nicht endgültig ist, macht es ein klein wenig leichter, sich mit dem Verlust zu arrangieren. Meterdick rankten sich damals die Blumen um den Dom, entlang der 400 Jahre alten Steinmauer. Ein duftendes Blütenmeer, das zum Sinnbild der nationalen Trauer wurde. Jede Woche wurde die Blumenschicht vom städtischen Bauamt abgetragen. Nicht weggeworfen, sondern kompostiert. Aus den Blumen ist mittlerweile Erde geworden. Erde, in die das Mahnmal gesetzt werden soll, das an die Opfer erinnert.

In Oslo sind die Spuren des Anschlags mittlerweile verschwunden. Zum Jahrestag werden sicher ein paar mehr Blumen als sonst vor den Dom liegen, doch Norwegen ist gefasst. Und auch Utoya. Wie ein großer grüner Wal liegt die Insel im Wasser. Ganz friedlich. Die Wellen schwappen unaufhörlich ans Land, immer wieder, als sei nichts geschehen. Bald wird auch hier wieder der Alltag einkehren; neue Ferienlager sind geplant. Das Land denkt nicht einmal daran, sich aufzugeben. Das wurde bereits von Anfang an deutlich.

„Wenn ein Mann allein so viel Böses tun kann, wie viel Liebe können wir dann alle gemeinsam schaffen?“, twitterte eine norwegische Studentin bereits kurz nach der Tat. Ministerpräsident Jens Stoltenberg sagte mit bewegter Stimme in seiner Rede beim Trauergottesdienst im Osloer Dom zwei Tage später: „Wir werden auf diese Gewalt mit noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit, noch mehr Menschlichkeit antworten.“ Und auch der Imam der größten muslimischen Gemeinde forderte während der Gedenkfeier die Menschen dazu auf, ein „Land, das schon gut ist, gemeinsam noch besser zu machen.“

Und tatsächlich. Kaum waren diese Worte ausgesprochen, fanden die ersten ihre Stimme wieder. 100.000 Norweger kamen am 25. Juli in Oslo zusammen und sangen gemeinsam gegen das Böse. Mit einem alten norwegischen Kinderlied von Lillebjoern Nilsen, das Breivik so gehasst haben soll. Darin heißt es: „Sie nannten sich Kinder des Regenbogens / Denn sie glaubten an das Gute in der Welt. / Sie wollten gemeinsam in Frieden leben / Jeder auf die Art, die er für richtig hält.“

Seite 2: Wo also ist sie, die Wut der Norweger?

Die Welt konnte über so viel Besonnenheit damals nur staunen. Und sie staunt immer noch. Und so kommt man auch nicht umhin sich zu fragen, ob sie tatsächlich echt war, ob sie echt ist, diese Besonnenheit? Ein Jahr lang zeigte sich Norwegen als geschlossene Gemeinschaft, als Großmeister der Friedfertigkeit, ohne jene blinde Wut, jenen blinden Hass, die in ihrer Mitte unbemerkt gediehen und die Breivik antrieben. Die Welt ist nicht perfekt, mag man ihnen zurufen. Norwegen ist nicht perfekt! Wo also ist sie, die Wut der Norweger? Der Hass?

Nicht einmal beim Prozess kam es zum Ausfall. Gebannt blickte die Welt im vergangenen Mai nach Norwegen. Und diente dieser Prozess gegen Breivik zuallererst dem formellen Zweck, Recht zu sprechen, so versprachen sich doch die meisten Menschen noch so viel mehr. Die Welt sollte wieder an ihren rechten Platz gerückt, der Friede wieder hergestellt werden. Doch irgendwie hinterließ Norwegens Musterprozess, das sogenannte „Glanzstück“ der norwegischen Justiz, ein dumpfes Gefühl.

Nicht einmal zehn Wochen dauerte das Verfahren. Alles lief nach norwegischer Manier schnell und gründlich ab. Ins ganze Land wurde die Gerichtsverhandlung übertragen. Nichts wurde verschwiegen oder zumindest entsprechend gefiltert an die Öffentlichkeit gebracht. Regelmäßig erteilten Staatsanwaltschaft und Verteidigung Auskunft über den jeweiligen Stand des Verfahrens, analysierten Details, innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals.

Dabei flüchtete sich vor allem die Rechtspsychiatrie in schwammige Begrifflichkeiten und stellte zwei vollkommen unterschiedliche Gutachten vor. Die für den Prozess so entscheidende Frage, ob Breivik nun zurechnungsfähig ist oder nicht, konnte nur ungenügend beantwortet werden. Damit blieb auch die Schuldfrage nicht einwandfrei geklärt. Stattdessen erreichte Norwegen eine Welle an Ferndiagnosen, die es alle besser zu wissen meinten, die die Sachverständigen vorführten und sie mit Schelte straften.

Und auch Breivik wurde unnötig eine Bühne der Selbstdarstellung geboten. Vollkommen unbeeindruckt von seinen Taten präsentierte er sich der Welt. Gefühlskalt, leer, ohne das leiseste Anzeichen von Reue oder Zweifel. Mit seinem süffisanten Lächeln, seinen selbstgerechten Parolen und herablassenden Gesten, wie dem erhobenen rechten Arm, verhöhnte er den Schmerz der Norweger und trat das Andenken der Opfer mit Füßen.

Was mögen sie wohl über Anders Behring Breivik gedacht haben? Für viele von ihnen ist er sicher nichts weiter als ein einsamer Verrückter, ein schwarzes Schaf unter den weißwestigen Norwegern. Doch das wäre zu kurz gedacht, ist er doch einer von ihnen. Und so wird es sicher auch solche geben, denen Breivik imponiert, die seine Taten womöglich auch noch als Anreiz dafür nehmen, selbst eine Grenze zu überschreiten.

Doch Breiviks Weltbild speiste sich trotz allem nicht aus der norwegischen Realität, sondern leitet sich aus rechtsextremen, islamophoben Verschwörungstheorien ab. Aus einem Hass, der den Norwegern scheinbar selbst so fremd zu sein scheint. So wollte sich Brevik vielleicht als selbsterklärter Kreuzritter inszenieren. Doch sein Versuch der narzisstischen Überhöhung zerfiel vor Gericht, seine Botschaft fand keine Zuhörer – zumindest vordergründig. Nicht einmal seinen Namen möchten die Norweger noch aussprechen. Zeitungen, die sein Bild auf dem Titel abgedruckt haben, werden einfach umgedreht, nicht etwa weil ihnen sein Anblick Angst macht, sondern um ihm nicht jene Aufmerksamkeit zu schenken, nach der er so sehnsüchtig giert.

Ein Jahr haben die Norweger nun getrauert. Das finale Urteil im Fall Breivik soll am 24. August 2012 gesprochen werden. Ein gutes Datum, um endlich ein dunkles Kapitel in ihrer Geschichte zuzuschlagen, um sich von ihrem nationalen Trauma zu lösen. Wie in einer griechischen Tragödie erhoffen sich wohl viele eine kathartische Reinigung, Seelenfrieden. Und zu wünschen ist er ihnen. Denn die Narben heilen nur langsam.

Dabei bleibt einem eine Meldung der letzten Tage trocken im Halse stecken: Der dänische Dramatiker Christian Lollike bringt das Manifest Breiviks, 2083. A European Declaration of Independence, auf die Bühne. Sämtliche Proteste und Beschwerden fielen einem fragwürdigen Sieg der Kunstfreiheit zum Opfer – und so wird das Pamphlet aller Voraussicht nach bereits am 11. Oktober 2012 in Kopenhagen als Monolog uraufgeführt. Danach zieht Lollike ohne Skrupel und scheinbar auch ohne einen Hauch von Respekt wohlkalkuliert auf die Bühne des Dramatikkens hus, eines staatlich finanzierten, experimentellen Theaterhauses. Nach Oslo.

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