- Der Rattenfänger von Budapest
Wie brachte es Ungarns umstrittener Ministerpräsident zur Zwei-Drittel-Mehrheit? Viktor Orbán nutzte die Schwächen seiner Gegner und versprach neue Wunder mit alten Mitteln.
Mit großer Sorge blicken in Deutschland Medien, Politik und Gesellschaft nach Ungarn. Seit Jahresbeginn führt das kleine Land an der Donau die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union. Seitdem ist viel passiert. Es wird eifrig berichtet: weniger über die Erfolge im EU-Rat, als über die Entwicklungen in Ungarn selbst – aus gutem Grund. Seit einigen Jahren vollzieht sich dort ein gravierender Rechtsruck. Seitdem Ungarn die EU führt, tritt das besonders deutlich zu Tage. Vor gut einem Jahr gewann Populist Viktor Orbán mit seinem rechtsnationalen Bündnis aus Fidesz und Christdemokraten überragend die ungarischen Parlamentswahlen. Mit seiner Zweidrittelmehrheit riss er den bis dato regierenden Sozialisten das Zepter in Budapest aus der Hand.
Orbáns Herausforderer, Sozialist Attila Mesterházy, verlor bitterlich. Mit ihrem Absturz auf 15 Prozent stand seine Partei vor der Auflösung. Auf seine Niederlage war Mesterházy bestens vorbereitet, erklärte er diese Woche im Haus der Friedrich Ebert Stiftung. Dass Orbán die Wahlen gewinnen würde, war klar – die Frage war nur, wie hoch. Familie, Freunde und Kollegen rieten ihm davon ab, gegen Orbán anzutreten. Sie warnten den 37-Jährigen vor dem vorzeitigen Ende seiner politischen Karriere. Auch der berühmte aus Ungarn stammende Publizist Paul Lendvai bemitleidete Mesterházy in seiner Rolle des politischen Kanonenfutters seiner Partei.
„Bei einem Zwei-Drittel-Sieg der politischen Gegner lassen sich Fehler nicht leugnen“, bekannte Mesterházy vor seinem Berliner Publikum. Diese Fehler konkret zu benennen, auch abseits der politischen Grabenkämpfe in seiner Heimat, das traut er sich jedoch nicht. Dass seine Partei überhaupt noch existiert, feiert der gewandte Redner mit gestanzten Sätzen als Erfolg. Lieber als über die eigenen Fehler sprach er über die politischen Widersacher. „Orbán hat sich nicht aufs Regieren, sondern auf eine Machtübernahme vorbereitet“, wirft Mesterházy seinem Gegner vor. Ein Blick auf das vergangene Jahr gibt ihm Recht. Seitdem Orbán im neogotischen Parlamentsgebäude an der Donau die Zügel hält, galoppiert sein Land auf einen wahren Systemwechsel zu. Am 30. Juni endet die ungarische Ratspräsidentschaft, Budapest gibt an Warschau ab. Ist die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit erst einmal abgewandt, dann, befürchten viele Beobachter, legt die Regierung Orbán erst richtig los.
Viele fürchten, Orbán entwickelt sich zu einem mitteleuropäischen Alexander Lukaschenko. Wohin die Reise gehen könnte, zeigen das ungarische Mediengesetz, eine neue Verfassung mit einem nationalen Glaubensbekenntnis sowie die Besetzung bislang unabhängiger Einrichtungen mit Fidesz-Treuen. Das Parlament erließ im Eiltempo einen Berg von handwerklich mangelhaften Gesetzen. Darunter eine Rentenreform, die Sparer dazu zwingt, ihre privat angesparte Altersvorsorge in die gesetzliche Rentenkassen zu überführen – wer vorgesorgt hat, ist selber schuld. Oppositionelle Intellektuelle werden in sogenannten „Philosophenprozessen“ juristisch drangsaliert, so etwa die Philosophin Agnes Heller, die – so der Vorwurf in der rechtsnationalen Presse – Gelder „verforscht“ haben sollen. Musiker wie Ádám Fischer und András Schiff kehren ihrer Heimat den Rücken. Das Kapitel der politischen Miseren scheint endlos.
Gyurcsánys Lügenrede
Der kometenhafte Wiederaufstieg von Fidesz und Viktor Orbán, der von 1998 bis 2002 bereits einmal Ministerpräsident war, begleitete den Niedergang der Sozialisten. Dabei schaffte es die MSZP 2004 als erste Partei nach der Wende wiedergewählt zu werden. Nachdem die Ungarn Regierungschef Ferenc Gyurcsány mit knapper Mehrheit im Amt bestätigten, trafen sich die Sozialisten in einem Badeort am Plattensee. In Balaton?szöd offenbarte der Ministerpräsident seinen Parteigenossen hinter verschlossenen Türen: „In Europa hat kein Land so einen Unfug getrieben wie wir. Wir haben offensichtlich in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren von Anfang bis Ende gelogen.“ Er fluchte, was das Zeug hält, nannte Ungarn „ez a kurva orszá“, dieses verhurte Land – das er selbst regiert.
Was Gyurcsány nicht wusste: Ein Diktiergerät lief mit und zeichnete jedes Wort auf. Als seine Ansprache an die Öffentlichkeit gelangte, gingen zehntausend Ungarn in Budapest auf die Straße und forderten seinen Rücktritt. Einige Gewaltbereite brachten die friedlichen Demonstrationen zum Eskalieren: Sie setzten Autos in Flammen, stürmten das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die ungarische Hauptstadt erlebte die schwersten Unruhen seit dem Ende des Kommunismus.
Trotzdem weigerte sich Ferenc Gyurcsány als Ministerpräsident zurückzutreten. In Balaton?szöd am Plattensee hatte er mit seinem Bekenntnis zur Lüge ausnahmsweise die Wahrheit gesagt: Nicht nur, dass er die Steuern, statt sie wie im Wahlkampf versprochen zu senken, erhöht hatte. Nach seiner Wiederwahl stellte sich auch heraus, dass das Haushaltsdefizit Ungarns doppelt so hoch war, wie seine Regierung noch vor der Wahl angegeben hatte.
So war es für seine Widersacher ein leichtes, Gyurcsány als Verräter zu stigmatisieren. Er war bereits 1983 im kommunistischen Kádár-Regime als Jungfunktionär aktiv. Nach der Wende wechselte der studierte Ökonom und Pädagoge ins Finanzwesen. Mit seiner 1992 gegründeten Investmentgesellschaft Altus AG stieg er zu einem der reichsten Ungarn auf. Zurück in die Politik kam er erst 2002. Ministerpräsident Péter Medgeyssy, der im Kádár-Regime bis zum Finanzminister aufstieg, machte ihn zu seinem politischen Hauptberater und wenig später zum Minister für Kinder, Jugend und Sport. Nach internen Machtkämpfen nahm der „rote Millionär“, wie Gyurcsány von seinen Gegnern genannt wird, den Platz seines ehemaligen Chefs und Vertrauten ein und wurde nur zwei Jahre nach seinem politischen Comeback zum Ministerpräsidenten.
In seiner als Lügenrede bekannt gewordenen Ansprache in Balaton?szöd sprach Gyurcsány allerdings ein zentrales Problem an: Ungarn braucht Reformen. Wie viele Sozialdemokraten in Europa bürdete er seinem Land eine neoliberale Agenda auf. Gyurcsány holte Investoren ins Land, lockte beispielsweise Daimler mit erheblichen Vergünstigungen. Nützen wollte das alles nichts. Die Finanz- und Wirtschaftskrise traf das Pannonische Becken mit voller Wucht. Populist Orbán warf den Sozialisten vor, das Land an ausländisches Großkapital verkaufen zu wollen.
Orbáns Stunde
Damit traf der rechtsnationale Politiker den Nerv der Zeit. Er mobilisierte tief liegende Ängste der Magyaren – Ängste vor dem Verlust nationaler Souveränität. Wie das funktioniert, demonstrierte er auch am 15. März dieses Jahres in seiner Rede zum ungarischen Nationalfeiertag: „Getreu unserem Eid haben wir es nicht geduldet, dass uns 1848 aus Wien diktiert wurde. Wir haben es auch 1956 und 1990 nicht geduldet, dass uns aus Moskau diktiert wurde. Jetzt lassen wir es nicht zu, dass uns aus Brüssel irgendjemand etwas vorschreibt.“ Was früher die Habsburger und die Sowjets waren, sollten nun Banker und die EU für die Magyaren sein. Der wirtschaftlichen Ohnmacht Ungarns hält Orbán einen Nationalstolz entgegen; einen verklärten Hochmut, der Ungarn als altes Großreich stilisiert, das Opfer fremder Mächte wurde.
Mit derartiger Nostalgie wäre er in Deutschland auf taube Ohren gestoßen. Doch in Ungarn fehlt es, wie in vielen Teilen Osteuropas, an nüchterner Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Wo dieses Wissen fehlt, reift fruchtbarer Boden für nationale Mythen.
Seine Ziele für Ungarn skizzierte Orbán vor versammeltem Publikum im September 2009. Im Balaton-Dörfchen Kötcse resümierte Orbán: Die vergangenen 20 Jahre waren von politischen Grabenkämpfen geprägt, in der Politik wie den Medien. Das ewige Ringen der beiden politischen Pole blockiere wichtige Schritte und hindere das Land am Fortschritt. Die ungarische Gesellschaft sei so tief gespalten, dass kein Wertekonsens mehr herrsche. Schuld daran seien auch Medien und Intellektuelle. Sie hätten es versäumt, gemeinsame Werte zu prägen. Seine Vision von den nächsten 15 bis 20 Jahren: Eine politische Kraft – er und seine Fidesz – solle eine Zweidrittelmehrheit auf sich konzentrieren und das Land radikal reformieren.
Bis zu seinem triumphalen Wahlsieg im April vergangenen Jahres zog Orbán alle nationalen Register. Die Drecksarbeit überließ er den Rechtsradikalen: Sie schürten nationale Feindbilder – allen voran gegen Juden, Roma und Sozialisten. Er selbst konzentrierte sich auf die sonnigen Seiten des Patriotismus, auf Werte wie Arbeit, Heim, Familie und Ordnung. Die neofaschistische Jobbik ließ er samt ihrer Straßen-Miliz „Ungarische Garde“ dabei kritiklos gewähren. So zog er die gesellschaftlichen Gräben noch tiefer. Im Zuge der politischen Miseren unter Gyurcsány lautete sein einfaches Mantra: Solange die Sozialisten regieren, liegt das Land in Trümmern, wählt uns und alles wird gut.
Bisher ging Orbáns Masterplan von Kötcse auf. „Alexis de Tocqueville nannte das Tyrannei der Mehrheit“, bemerkt der junge Sozialist Mesterházy treffend. Was die Tyrannei der Mehrheit bewirkt, wurde aber auch auf dem Podium der Friedrich-Ebert-Stiftung deutlich. Sozialist Mesterházy diskutierte dort mit dem SPD-Abgeordneten Michael Roth und dem Publizisten Paul Lendvai. Das Ergebnis der roten Zwei-Drittel-Mehrheit auf der Bühne: Es wurde hauptsächlich über die Krankheiten der Sozialdemokratie gesprochen, der ungarischen wie der deutschen. Die gesellschaftlichen Probleme Ungarns blieben fast außen vor. Das störte nicht nur Moderatorin Cathrin Kahlweit von der Süddeutschen Zeitung. Zur Erinnerung: die Veranstaltung hieß „Quo vadis Ungarn?“. Allein Exilungar Lendvai konnte einen Eindruck davon vermitteln, was in den Köpfen der Ungarn passiert. Eine Antwort auf die Sorgen der Magyaren hat auch der junge Sozialdemokrat Mesterházy nicht.
Die Fehler der eignen Partei verschweigt er, die seines Widersachers erkennt er umso besser. Orbán hat eines missverstanden: Demokratie bedeutet eben nicht, mit einer Zweidrittelmehrheit durchzuregieren. Die für ihn lästigen Diskussionen gehören zum politischen Alltag, auch wenn sie oft in Blockaden enden. Ein bequemes Zwei-Drittel-Polster berechtigt ihn nicht, seine Parteilinie zur einzig gültigen Weltanschauung in Ungarn zu deklarieren.
Nicht jeder ungarische Bürger kann sich mit den Werten des nationalen Glaubensbekenntnisses in der Präambel der neuen Verfassung identifizieren. Dazu gehört vermutlich die Mehrheit der 700 000 bis eine Millionen Roma in Ungarn – knapp ein Zehntel der Bevölkerung. Welche Rolle der Minderheitenschutz für die Demokratie spielt, müsste Orbán bestens wissen. Im Grunde ist er eine seiner Herzensangelegenheiten. Ein Drittel aller 15 Millionen Magyaren lebt außerhalb der Grenzen Ungarns verstreut – als nationale Minderheit.
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