- Comeback der Autokraten
Diktatoren treten nicht mehr unbedingt wie Gaddafi in bizzaren Uniformen auf oder als brutale Schlächter wie Idi Amin. Sie pflegen heute das Image des honorigen Staatsmanns und erwecken den Anschein, als respektierten sie den Rechtsstaat. Denn moderne Alleinherrscher haben gelernt, die Demokratie mit den Methoden des 21. Jahrhunderts auszuhebeln
William J. Dobson ist Autor des Buchs „The Dictator’s learning Curve – Inside the global Battle for Democracy“, das im Herbst auf Deutsch unter dem Titel „Diktatur 2.0“ bei Blessing erscheint.
Peter Ackerman sitzt in seinem weiträumigen Eckbüro am Ende der Pennsylvania Avenue. Von seinem Platz sieht er buchstäblich auf die Weltbank hinab. Der 64‑Jährige ist Geschäftsführer von Rockport Capital Incorporated, einem kleinen, exklusiven Investmenthaus. An einem kristallklaren Nachmittag im August führt er mich durch eine Power-Point-Präsentation und spricht über das Risiko-Rendite-Verhältnis. Die Folien haben allerdings nichts mit Investitionen, Dividenden und Finanzen zu tun. Es geht vielmehr um die beste Methode, einen Diktator zu stürzen.
Vor 25 Jahren hätte man Ackerman kaum für jemanden gehalten, der andere darin berät, wie man die schlimmsten Regime der Welt zu Fall bringen kann. Er war viel zu beschäftigt damit, als rechte Hand von Junk-Bond-König Michael Milken an der Wall Street abzusahnen. 1988 verdiente Ackerman 165 Millionen Dollar, als er den mit 25 Milliarden Dollar fremdfinanzierten Auskauf von RJR Nabisco organisierte. Als ein Insidergeschäft aufflog, wanderte Milken ins Gefängnis. Ackerman zahlte 80 Millionen Dollar Strafe und durfte rund 500 Millionen behalten.
Einen beträchtlichen Teil dieses Vermögens setzt Ackerman nun dazu ein, weltweit die Tyrannei abzuschaffen. 2002 gründete er das International Center on Nonviolent Conflict, das Seminare, Workshops und Schulungen für gewaltlose Strategien zum Sturz repressiver Regime abhält. Aktivisten aus Ägypten, Iran, Russland, Venezuela, Simbabwe und Dutzenden anderen Ländern kennen Ackerman sehr gut. Einige von ihnen haben seine Büroräume in den oberen Stockwerken in Foggy Bottom, einem Stadtteil von Washington, kennengelernt. Andere haben seine Filme gesehen – vor allem „Bringing Down a Dictator“ („Wie man einen Diktator stürzt“), der zeigt, wie junge Serben im Oktober 2000 Slobodan Milošević zu Fall brachten. Der Film gewann einen Peabody Award und erschien auf Arabisch, Farsi, Mandarin, Vietnamesisch und in mindestens sieben weiteren Sprachen. Die Georgier sagen, er habe sie 2003 zu ihrer Rosenrevolution inspiriert, ein friedlicher demokratischer Aufstand, der den ehemaligen kommunistischen Präsidenten Eduard Schewardnadse aus dem Amt trieb.
2006 stieg Ackerman auch in das Videospielgeschäft ein. Er finanzierte die Entwicklung von „A Force More Powerful“, ein Spiel, mit dem Aktivisten in der virtuellen Welt Strategien zum Sturz von Tyrannen trainieren können. Tausende von Kopien hat er in einige der repressivsten Staaten der Welt geschmuggelt. 2010 brachte er eine neue Version des Spiels mit dem Namen „People Power“ auf den Markt. („Dieses Spiel ist das Subversivste, was ich je gemacht habe“, sagt er. „Ich habe Millionen ausgegeben, um es zu perfektionieren.“) Als ich ihn frage, warum er den Kampf gegen Tyrannen zu seiner Lebensaufgabe gemacht habe, sieht er mich an und sagt: „Ich bin doch nur im Vertriebsgeschäft. Ich bediene eine Nachfrage, das ist alles.“ Es ist ein gutes Geschäft, hätte er noch hinzufügen können.
[gallery:Der Hochmut der Despoten]
Es ist nicht leicht, heutzutage Diktator zu sein. Bis vor kurzem konnte ein Autokrat, sei es ein nationalistischer „starker Mann“, ein Held der Revolution oder ein kommunistischer Apparatschik, stumpfe Waffengewalt einsetzen, um sein Volk zu knebeln. Josef Stalin schickte Millionen Landsleute in den Gulag. Mao Zedong startete eine revolutionäre Massenkampagne, die sich gegen Intellektuelle, Kapitalisten und überhaupt gegen jeden in China richtete, dem unterstellt wurde, er sei nicht „rot“, also kommunistisch genug. Maos „Großer Sprung nach vorn“ kostete innerhalb weniger Jahre mehr als 35 Millionen Menschen das Leben. Das Regime des ugandischen Diktators Idi Amin ermordete nicht weniger als 500 000 Menschen. Fast zwei Millionen Kambodschaner starben innerhalb von drei Jahren auf Pol Pots Killing Fields. Im Februar 1982 zerschlug Hafiz al-Assad einen Aufstand in der syrischen Stadt Hama. Nachdem sie die Stadt mit Kampfhubschraubern und schwerer Artillerie belagert hatten, gingen Assads Truppen von Haus zu Haus. Mehr als 25 000 Syrer wurden noch vor Monatsende niedergemetzelt.
Auf der nächsten Seite: Der Siegeszug der Demokratien in Südeuropa
Diktatoren sind immer noch zu großen Verbrechen fähig. Doch die Despoten von heute sehen sich größerem Widerstand ausgesetzt als früher. Mit dem Ende des Kalten Krieges verloren viele ihren wichtigsten Sponsor, ihre ökonomische Lebensader, die Sowjetunion. Das Geschäft mit der Demokratieförderung wurde beinahe über Nacht zur Hausindustrie: Ein ganzes Heer von westlichen Experten, Aktivisten und Wahlbeobachtern steht heute bereit, um Menschenrechtsverletzungen, schwere Korruption und Wahlfälschungen öffentlich zu machen. Vor 20 Jahren musste sich die Pekinger Führung nur vor den Scheinwerfern der Fernsehkameras fürchten, als die Panzer auf den Tiananmen-Platz rollten. Nachdem die Chinesische Kommunistische Partei das Kriegsrecht ausgerufen hatte, zog sie CNN buchstäblich den Stecker.
Doch das ist vorbei. 2006 filmte eine Expedition europäischer Bergsteiger chinesische Soldaten, die in einem Gebirgspass des Himalayas in 5800 Metern Höhe auf tibetische Mönche, Frauen und Kinder schossen. Das Massaker verbreitete sich in Windeseile auf Youtube und führte dazu, dass internationale Menschenrechtsgruppen Chinas Gewalt gegen Flüchtlinge scharf verurteilten. 2011 verwies Syrien alle ausländischen Journalisten, die über den Aufstand gegen Baschar al-Assad berichten wollten, des Landes – doch es half nichts: Täglich stellten syrische Aktivisten schockierendes Videomaterial der brutalen Repression ins Internet, auf dem zu sehen war, wie friedliche Demonstranten und Beerdigungszüge von Scharfschützen des Regimes zusammengeschossen wurden. Die Diktatoren dieser Welt können heute nicht mehr darauf hoffen, dass ihre Gräueltaten geheim bleiben. Wenn sie zuschlagen, und sei es in einem Gebirgspass im Himalaya, dann müssen sie davon ausgehen, dass alles mit einem iPhone aufgezeichnet und der ganzen Welt zugespielt wird. Der Preis der Tyrannei war noch nie so hoch.
Das Blatt begann sich schon lange vor Internet und Twitter gegen die Diktatoren zu wenden, sogar lange vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ihr Ärger nahm seinen Anfang im Jahr 1974 in Portugal, um genau zu sein: um 12:25 Uhr am Morgen des 25. April, als ein Lissabonner Radiosender das Lied „Grandola, Vila Morena“ spielte. Es war ein verabredetes Zeichen für Einheiten des portugiesischen Militärs, den Putsch einzuleiten. Einen Tag später hatten sie Portugals Diktator, Marcello Caetano, ins Exil getrieben. Dem Politikwissenschaftler Samuel Huntington zufolge markieren die politischen Kräfte, die an diesem Tag freigesetzt wurden, den Beginn einer weltweiten Welle der Demokratisierung, die in den folgenden Jahrzehnten reihenweise autoritäre Regime hinwegfegen und durch demokratische Regierungen ersetzen sollte.
Nach Portugal kippte in Südeuropa eine ganze Reihe rechter Diktaturen. Die Militärjunten Lateinamerikas und autoritären Regime Ostasiens folgten. All das waren Erschütterungen, doch der Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in Osteuropa im Jahre 1989 war ein regelrechtes Erdbeben. 1974 gab es weltweit nur 41 Demokratien. 1991, als die Sowjetunion zusammenbrach, war die Zahl der demokratisch regierten Länder auf 76 hochgeschnellt.
Bald stellte sich heraus, dass dies erst der Beginn der Boomjahre der Demokratie sein sollte. In Afrika entstand mehr als ein Dutzend neuer Demokratien. Wichtige demokratische Transformationen ereigneten sich in Schlüsselländern wie Indonesien und Mexiko. 1998 unterhielten die USA in mehr als 100 Ländern Demokratieförderungsprogramme. Im Jahre 2000 fügte Serbiens Revolution der Galerie der Demokratien noch ein weiteres Land hinzu.
Die „Farbrevolutionen“ – Georgien 2003, Ukraine 2004 und Kirgistan 2005 – waren ein Symbol dafür, wie sehr die Freiheit gegenüber dem Autoritarismus auf dem Vormarsch war. 2005 hatte sich die Zahl der Demokratien in der Welt mehr als verdreifacht, seit Portugals junge Offiziere besagtes Lied im Radio hörten.
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Doch dann änderte sich etwas. Die Welle der Demokratisierung erreichte ihren Scheitelpunkt, und die unangenehmsten Regime der Welt – ein wildes Gemisch aus Diktatoren, starken Führern und autoritären Regierungen – erlebten ein Comeback. Der Grad an politischer Freiheit auf der Welt sank jährlichen Berichten des Forschungsinstituts Freedom House zufolge in den darauffolgenden fünf Jahren; es war der längste kontinuierliche Niedergang von politischen Rechten und zivilen Freiheiten, seit die Organisation diese Trends vor 40 Jahren zu messen begonnen hatte. Militärputsche stürzten demokratische Regierungen in Asien, in Lateinamerika verbreitete sich eine populistische Spielart des Autoritarismus. Selbst die noch frischen Erfolgsgeschichten in Georgien, Ukraine und Kirgistan begannen zu kippen. 2010 war die Zahl der Demokratien auf ihren niedrigsten Stand seit 1995 gefallen. Anders ausgedrückt: Die Prozentzahl der als „frei“ bewerteten Länder war seit mehr als einem Jahrzehnt unverändert geblieben, festgefroren bei rund 46 Prozent. Huntingtons „Welle“ schien sich ausgelaufen zu haben.
[gallery:Hugo Chávez]
Das Problem ist nicht die Demokratie an sich. 2011 erinnerte der Arabische Frühling jeden daran, dass das Ideal der politischen und ökonomischen Freiheit selbst inmitten einer globalen Rezession nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat. Überall wollen die Menschen frei sein, immer noch. Was sich aber geändert hat, ist die Natur der Diktatur. Die Tyrannen und Autokraten von heute sind weitaus raffinierter, gerissener und geschickter als früher. Unter wachsendem Druck verwandeln die klügeren unter ihnen ihr Regime nicht in einen Polizeistaat und schotten sich auch nicht von der Außenwelt ab. Sie haben stattdessen gelernt, sich anzupassen. In Dutzenden autoritären Regimen hat der Vormarsch der Demokratie zu Experimenten, Kreativität und einer neuen Listigkeit geführt. Moderne Autokraten haben ihre Techniken, Methoden und Strategien des Machterhalts erfolgreich verfeinert und so die Diktatur für das moderne Zeitalter fit gemacht.
Der Diktator von heute hat begriffen, dass brutale Formen der Einschüchterung – Massenverhaftungen, Exekutionskommandos und gewaltsame Razzien – im Zeitalter der Globalisierung besser durch subtilere Formen von Zwang ersetzt werden. Anstatt die Mitglieder einer Menschenrechtsgruppe zu verhaften, hetzt der moderne Despot ihnen die Steuerfahnder oder Gesundheitsinspektoren auf den Hals, wenn er eine Dissidentengruppe auflösen will.
Gesetze werden dehnbar formuliert und dann wie ein Skalpell dazu eingesetzt, um gegen Gruppen vorzugehen, von denen sich Regierungen bedroht fühlen. (In Venezuela scherzte ein Aktivist, Präsident Hugo Chávez regiere nach dem Motto: Für meine Freunde alles, für meine Feinde das Gesetz.) Anstatt alle Informationskanäle zu schließen, lässt man Schlupflöcher für kleine Medien – meist Zeitungen –, die eine sehr begrenzte öffentliche Diskussion ermöglichen. Heute würzt der Diktator seine Reden mit Verweisen auf Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit.
Die Führung der Chinesischen Kommunistischen Partei beruft sich regelmäßig auf die Demokratie und erklärt sich zur gewählten Regierung des Landes. Moderne Autokraten haben begriffen, dass wichtig ist, wie etwas nach außen wirkt. Die totalitären Führer des 20. Jahrhunderts hielten „Wahlen“ ab, bei denen sie absurd hohe Stimmanteile einfuhren.
Die Parteivorsitzenden der Sowjetunion gewannen ihre Abstimmungen regelmäßig mit unerklärlichen 99 Prozent der Stimmen. Heute beschränken die Agenten des Kremls ihre Wahlurnenbefüllung auf 70 Prozent. Moderne Diktatoren haben verstanden, dass es besser ist, scheinbar wettbewerbsreiche Wahlen zu gewinnen, als sie ganz offen zu stehlen.
Auf der nächsten Seite: Autokratien sind im 21. Jahrhundert angekommen
Wir glauben oft, autoritäre Regime seien Dinosaurier – ungeschickte, schwerfällige, trampelnde Riesen wie die Sowjetunion kurz vor ihrem Ende oder irgendeine instabile lateinamerikanische Bananenrepublik. Tatsächlich hat es eine Handvoll rückwärtsgewandter Diktaturen des alten Schlags geschafft, irgendwie ins 21. Jahrhundert zu rutschen. Dazu gehören die Nordkoreas, Turkmenistans und Äquatorialguineas dieser Welt. Doch sie stehen für einen veralteten Typus Diktatur. Sie geben sich keine Mühe, als etwas anderes zu erscheinen, als sie sind. Doch handelt es sich nur noch um entlegene Außenposten, während andere Regime gelernt haben, sich zu entwickeln, zu wandeln, teilweise sogar zu prosperieren.Niemand will das nächste Nordkorea sein.
Der Totalitarismus hat sich als Phänomen des 20. Jahrhunderts erwiesen. Er war das ehrgeizigste unter den undemokratischen Projekten, das je unternommen wurde, und er hat schlecht abgeschnitten. Man kann argumentieren, dass Nordkorea an der totalitären Methode festhält; das ist vor allem deshalb möglich, weil das Land Nuklearwaffen entwickelt und der verstorbene Kim Jong Il bereit war, sein eigenes Volk verhungern zu lassen. Moderne Diktatoren agieren aber in der viel verschwommeneren Grauzone zwischen Demokratie und Autoritarismus. Sie wollen den Rückhalt ihrer Bevölkerung gewinnen, indem sie die Menschen zufriedenstellen; falls das misslingt, sind sie aber auch einverstanden damit, ihre Kritiker durch Angst und selektive Einschüchterung mundtot zu machen. „Mein Vater hat immer gesagt, dass er lieber in einer Diktatur wie der kubanischen leben würde“, erzählt Alvaro Partidas, ein venezolanischer Aktivist. „Da weiß man zumindest, dass man ins Gefängnis geht, wenn man die Regierung kritisiert. Bei uns dagegen regieren sie durch Unsicherheit.“
Aus der Entfernung sehen einige der schlimmsten Autokratien der Welt beinahe demokratisch aus. Häufig ist in ihren Verfassungen eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative verankert. Es mag Unterschiede geben – eine oder zwei Volkskammern, unterschiedliche Verteilung von Befugnissen –, doch viele institutionelle Merkmale von autoritären Staaten finden, zumindest auf dem Papier, ihre Entsprechung in einigen der langweiligsten Demokratien der Welt.
Nehmen wir zum Beispiel Russland. Selbst als Wladimir Putin zunehmend autoritär regierte, verstieß er nie gegen die russische Verfassung. Er agierte an den Nahtstellen des politischen Systems und konzentrierte seine Macht durch Kanäle, denen er einen demokratischen Anstrich geben konnte. So mochten sich Kritiker zwar darüber beschweren, die 7-Prozent-Hürde, die jede Partei überwinden muss, um ins Parlament zu kommen, sei ein zynischer Kniff, mit dem Oppositionskandidaten ausgeschlossen werden sollen – tatsächlich stimmt das.
Doch Putin konnte auf ganz ähnliche Regelungen in den parlamentarischen Systemen von unverwüstlich demokratischen Staaten wie Polen, Deutschland oder der Tschechischen Republik verweisen. In Venezuela schlug Hugo Chávez vor, die Direktwahl der Gouverneure durch eine präsidentielle Ernennung der Regionalregierungen zu ersetzen – auch das ein durchsichtiger Versuch, politische Macht zu konzentrieren und die Opposition auszuschalten. Gleichzeitig gibt es diese Praxis in einigen der gelassensten Demokratien der Welt, wie den baltischen Staaten Estland und Litauen. Viele dieser Maßnahmen sind für sich genommen noch kein Machtmissbrauch. Viele Merkmale eines modernen autoritären Regimes stehen nicht zwingend im Widerspruch zu denen einer gesunden Demokratie. Ein einzelnes Teilchen in der Mechanik eines politischen Systems kann vielerlei bedeuten. Immerhin sind sogar einige Aspekte der amerikanischen Demokratie – etwa der Wahlausschuss oder die Federal Reserve – undemokratisch. Stattdessen sollte man sich ansehen, wie moderne autoritäre Systeme in der Praxis funktionieren. Dazu muss man ganz nah rangehen.
Kaum jemand kennt sich besser aus mit Diktaturen, die sich einen neuen Anstrich geben, als Ludmilla Alexejewa. Die 84-jährige Menschenrechtsaktivistin gehört zu den letzten russischen Dissidenten, deren Widerstand gegen das offizielle Moskau bis in die späten sechziger Jahre zurückreicht, die Tage des sowjetischen Parteiführers Leonid Breschnew. Selbst jetzt, gebrechlich und beim Laufen auf Hilfe angewiesen, führt Alexejewa eine Bewegung an, die für die Russen das Recht auf freie Versammlung erkämpfen will. An jenem Morgen, an dem ich in ihrer Moskauer Wohnung sitze, klingelt ihr Telefon in einem fort. („Menschenrechtsaktivisten sind momentan sehr gefragt“, sagt sie lachend. „Wir sind sehr beliebt in unserem Land.“)
In den Anfangsjahren ihrer Arbeit war das Risiko groß. Als Dissident in der Sowjetunion musste man darauf vorbereitet sein, „sich zu opfern oder sich eines Tages im Gefängnis wiederzufinden oder in einer Psychiatrie. Heute muss die gleiche Person davon ausgehen, dass sie entweder unschädlich gemacht oder getötet wird.“ Früher hätte das Regime jemanden verhaftet, und man hätte nie mehr etwas von ihm gehört. Heute hat jemand einen Unfall oder wird Opfer eines scheinbar willkürlichen Überfalls.
[gallery:Nordkoreas versteckte Wirklichkeit: Hungersnot, Elend und Arbeit]
Die Bürger in der Sowjetunion konnten sich kaum auf das Gesetz berufen, um sich zu schützen. Für die Russen ist das heute anders. „Die russische Verfassung garantiert dieselben Rechte und Freiheiten wie alle westlichen Verfassungen“, sagt Alexejewa. „Tatsächlich wird aber nur ein einziges Recht wirklich geschützt – das Recht auszureisen, das Land zu verlassen.“ Mit der Folge, dass Menschen, die gegen das Regime sind, einfach fortgingen. Während die Diktatur im sowjetischen System auf geschlossene Grenzen setzte, baut Putins Autoritarismus auf offene Grenzen. Die Welt hat sich verändert, aber die klügeren unter den Diktatoren haben sich ebenfalls weiterentwickelt. Ebenso schnell, wie sich ihre Umwelt gewandelt hat und die alten Regeln ihre Gültigkeit verloren haben, haben geschickte Regime dazugelernt und sich angepasst.
Auf der folgenden Seite: Die Haltung der USA ist nicht das Maß aller Dinge
Im Zentrum der Diktatur steht das unantastbare Prinzip der Machtkonzentration. Dieses Prinzip, die Kontrolle der vielen durch ein paar wenige, lässt die heutigen autoritären Regime zunehmend anachronistisch wirken. In allen Bereichen des modernen Lebens werden Hierarchien und Institutionen flacher, das Individuum gewinnt an Einfluss. Die zentralen Lehren der Diktatur kommen mit jedem Tag mehr aus der Mode. Deswegen sind in unserer Welt der uneingeschränkten Information und der offenen Grenzen autoritäre Regime bewusste, menschengemachte Projekte, die sorgfältig aufgebaut, auf Hochglanz poliert und gestützt werden müssen.
[gallery:Der Fall des Muammar al-Gaddafi]
Für Pariastaaten ist diese Aufgabe weniger kompliziert – sie haben sich dazu entschlossen, in der Defensive zu verharren und sich die Welt vom Leib zu halten. Sie können Jahre oder Jahrzehnte überdauern; unübersehbar ist aber, dass die Mauern, die sie zu ihrem Schutz errichtet haben, sie wie Gefängnismauern umgeben. Moderne Diktaturen, die sich dazu entschlossen haben, mit anderen zu interagieren und sich jenem Druck zu öffnen, der auch schon andere gefährdet hat, sind meist komplexer. Sie wollen Repression mit Regulierung mischen, um den größtmöglichen Nutzen aus dem globalen politischen System zu ziehen, ohne ihren eisernen Griff an der Macht lockern zu müssen. Das moderne autoritäre Regime hat eine genau durchdachte Architektur, die ständige Wartung erfordert – nicht nur wegen der abstrakten Kräfte der Moderne, sondern auch wegen jener Kräfte, die es stürzen wollen. Nicht nur die Diktatoren sind geschickter geworden, auch ihre Gegner haben dazugelernt.
Viel wird heute über amerikanische Demokratieförderung oder UN-Interventionen geschrieben, doch der Kampf zwischen Demokratie und Diktatur ist selten, fast nie, ein Kampf zwischen Staaten; es ist ein Wettbewerb zwischen Menschen. Staaten sind normalerweise zu schwerfällig zum Handeln, selbst wenn sie sehen, dass ein Land an der Schwelle zur Revolution steht.
2011 ließen die USA ihre autokratischen Verbündeten in Tunesien und Ägypten erst im letztmöglichen Moment fallen. Wenn es um Interventionen gegen ein verhasstes Regime wie das syrische geht, zögern sie. Selbst 1989, als die Berliner Mauer fiel, sorgten sich amerikanische Diplomaten, was ihnen die neue politische Landschaft wohl bescheren würde. Sie gingen sogar so weit, ehemalige Sowjetstaaten davor zu warnen, ihre Unabhängigkeit zu erklären. Es ist nicht so, dass die Haltung der USA keine Rolle spielt. Sie ist wichtig, unter Umständen sogar entscheidend. Doch ob es uns gefällt oder nicht, es kommt eher selten vor, dass das Interesse der USA an einem demokratischen Wandel – auch an einem Wandel, der einen geächteten Autokraten stürzen könnte – nicht durch widerstreitende Interessen oder Angst vor dem Unbekannten konterkariert wird.
Selten passen alle Variablen zusammen, wie es in den letzten Monaten von Muammar al-Gaddafis Libyen der Fall war, als es der internationalen Gemeinschaft gelang, gemeinsam gegen einen strauchelnden und isolierten Diktator vorzugehen, der kurz davor stand, eine schreckliche humanitäre Tragödie anzurichten.
Autoritäre Regime fürchten sich nicht sonderlich vor den USA. Warum sollten sie? Auch wir sind verstrickt. Die Amerikaner gehören zu Chinas wichtigsten Handelspartnern, sie sind der größte Abnehmer venezolanischen Öls, überweisen Milliarden an Hilfszahlungen an das ägyptische Militär und werben um Russlands diplomatische Unterstützung bei einer Reihe grundlegender strategischer Fragen. Autoritäre Regierungen brauchen sich nicht über UN-Sanktionen oder Eingriffe ausländischer Menschenrechtsgruppen aufzuregen, zumal sich Letztere ja problemlos ausweisen lassen. Im Gegenteil: Die bloße Androhung einer ausländischen Intervention durch die USA, die Vereinten Nationen oder eine Institution wie den Internationalen Strafgerichtshof kann sogar nützlich sein, weil sie nationalistische Leidenschaften schürt und die Bevölkerung dazu bringt, sich geschlossen hinter das Regime zu stellen.
Was Diktatoren und Autokraten am meisten fürchten, ist ihr eigenes Volk. Sie wissen, dass die größte Gefahr für ihre Herrschaft im eigenen Land entsteht. Peter Ackerman hat das ebenfalls begriffen. Er glaubt nicht daran, dass eine Diktatur „reif“ sein muss, um gestürzt zu werden. Aus seiner Sicht gibt es keine notwendigen Bedingungen für eine gewaltfreie Revolution. Regime, die schon kurz vor dem Aus stehen, überleben. Andere, mit deren Zusammenbruch niemand gerechnet hätte, zerfallen innerhalb weniger Tage. Es gibt keinen klaren Zusammenhang zwischen der Brutalität eines Regimes, wirtschaftlicher Not, ethnischer Zusammensetzung oder kulturellen Faktoren und der Wahrscheinlichkeit für eine Revolution heute, morgen oder in zehn Jahren. Es kommt einzig und allein darauf an, ob man das Spiel beherrscht. Es ist eine Frage der Geschicklichkeit – des Regimes und seiner Gegner. Die Seite, die sich am besten vorbereitet und die größte Einigkeit und Disziplin demonstriert, hat die besten Karten. Das erklärt besser als alles andere, warum sich Regime vor den Menschen, in die Ackerman investiert, am meisten fürchten.
Wenn sich Beobachter nur eine Seite der Medaille anschauen – die Diktatoren –, sehen sie Regime, die allmächtig erscheinen. Sie konzentrieren sich auf die massiven Sicherheitsapparate, auf Einheiten der Sicherheitspolizei, Soldaten, Geheimagenten, Spitzel und bezahlte Schläger. Sie blicken auf die vom Regime kontrollierten Medien, Schlüsselindustrien, Gerichte und politischen Parteien. Vielleicht sehen sie eine Kultur der Angst, nagende Armut in großen Teilen der Bevölkerung, mit Schmiergeldern gefüllte Staatskassen, die Ausbeutung von Ölfeldern und anderen natürlichen Rohstoffen.
Und natürlich ist da die Brutalität: Ein Regime, das keinerlei Hemmungen hat, seine Kritiker einzusperren, zu foltern und zu töten, lässt sich nicht einfach stürzen, so die Überzeugung. Beobachter sehen sich all diese Faktoren an, die ihnen wenig Hoffnung lassen, dass sich in nächster Zeit irgendetwas ändern wird. Wenn die Revolution dann doch kommt – auf den Philippinen, in Polen, Südkorea, Indonesien, Serbien, Tunesien oder in einem der vielen anderen Länder – tun die meisten Experten, Wissenschaftler und Politiker das Geschehen als einen Zufallstreffer ab, ein seltenes oder einzigartiges Zusammenfallen von Umständen, das sich nicht wiederholen lässt. „Kein Experte hat je eine (dieser Revolutionen) vorausgesagt“, sagt Ackerman hinter seinem Schreibtisch. „Sie haben sie immer bis zum letzten Moment geleugnet. Wenn der Diktator dann gestürzt war, haben sie gesagt: ‚Ach, der Kerl war ja sowieso ein Schwächling‘.“
Das Puzzleteilchen, das ihnen fehlt, sind die Fertigkeiten und Kenntnisse derjenigen, die den Diktator stürzen wollen. Sie wissen nicht, wie Aktivisten lernen, eine Bewegung zu mobilisieren, die Legitimität eines Regimes auszuhöhlen und die Mittel der Propaganda zu beherrschen. Sie verfolgen nicht, wie demokratische Bewegungen voneinander lernen und innovative Methoden in ihren Kampf einbringen.
Auf der letzten Seite: Es ist viel schwerer eine Diktatur einzureißen, als eine Demokratie aufzubauen
Vor zwei Jahren wollte ich diesen Kampf aus eigener Anschauung erleben. Seine Frontlinien sind weit verstreut. Ich bin in mehrere autoritäre Staaten gereist – darunter China, Ägypten, Malaysia, Russland und Venezuela –, um mir aus der Nähe anzusehen, was für innovative Techniken und Methoden diese Regime einsetzen, um ihre Herrschaft zu zementieren. Dazu habe ich mich mit Leuten getroffen, die das Regime stützen, mit politischen Beratern, Ideologen, Intimfreunden der Herrschenden, Technokraten und Beamten.
[gallery:Ägypten: Ein Land im Umbruch]
Ich habe auch die vielfältige und erstaunlich große Gruppe derer getroffen, die entschlossen sind, die raffiniertesten Diktaturen der Welt zu stürzen. Meine Recherchen haben mich zu venezolanischen Studenten, russischen Umweltaktivisten, chinesischen Anwälten, ägyptischen Bloggern, malaysischen Oppositionsführern und serbischen Revolutionären geführt. Noch überraschender war für mich, dass die Aktivisten und Demokratiebewegungen heutzutage miteinander vernetzt sind, dass sie die Arbeit der anderen studieren und Ideen austauschen. So kann es vorkommen, dass ein venezolanischer Student nach Mexico City fliegt, um sich von serbischen Aktivisten, die ihren Diktator schon vor zehn Jahren losgeworden sind, beibringen zu lassen, wie man Hugo Chávez’ Schwachstellen findet.
Überall auf dem Globus bin ich auf diesen verborgenen Schlachtfeldern gewandelt, um herauszufinden, wie es um das Mächtegleichgewicht zwischen Diktatur und Demokratie bestellt ist. Ich war in den Cafés, in denen Aktivisten konspirative Pläne schmieden, in den Wäldern, in denen Kampagnen ausgebrütet werden, in den Slums, in denen sich allmählich die Wut entwickelt, in den Straßen, in denen die Jugend zu kämpfen beginnt, und in den Gefängnissen, in denen die Feinde der Diktatur langsam dahinsiechen. Der Konflikt hat sich in Tausende Richtungen fragmentiert: auf der einen Seite Regime, die sich rapide modernisieren und in Stellung bringen, auf der anderen Seite eine außergewöhnliche Gruppe von Einzelpersonen und Organisationen, die ihre eigene Lernkurve beschreibt. Ich habe mir angehört, auf welche Strategien beide Seiten für ihr Überleben und ihren Sieg setzen.
Während meiner Recherchen wurde das neueste Kapitel dieser Geschichte im Nahen Osten geschrieben. Bis 2011 war es die einzige Region der Welt ohne Demokratien, mit Ausnahme von Israel. Der durchschnittliche arabische Führer regierte mehr als 16 Jahre. Der Nahe Osten bildete das globale Schlusslicht nach nahezu jedem Kriterium, das man zur Messung der Freiheit der Menschen anlegen könnte. Doch wie 1974 in Portugal brach die Revolution am unwahrscheinlichsten aller Orte aus: in Tunesien, einem Land, von dem man lange gedacht hatte, es sei eines der stabilsten Regime der Region. Am 17. Dezember 2010 drangsalierte die örtliche Polizei Mohammed Bouazizi, einen Obstverkäufer in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid.
Gedemütigt, wütend und jenseits dessen, was er ertragen konnte, nahm sich Bouazizi in einem öffentlichen Akt der Selbstopferung das Leben. Die Welt sah zu, wie der Volksaufstand, der auf den Tod eines einzigen Mannes folgte, von einem Land auf das nächste übersprang. Nach Tunesien griff die Revolution auf Ägypten über, das politische und kulturelle Epizentrum des Nahen Ostens. Massive Proteste erfassten auch Bahrain und Jemen, Libyen versank im Chaos und schließlich in einem regelrechten Bürgerkrieg. Die Schockwellen waren bald darauf auch in Algerien, Jordanien, Oman, Saudi-Arabien und Sudan spürbar, wo Proteste und Demonstrationen in allen Größenordnungen stattfanden. Selbst als die brutale, 42‑jährige Herrschaft Gaddafis ihr gewaltsames Ende fand, brannte das Feuer in Syrien weiter, wo Assad gegen eine immer breiter werdende Bewegung ankämpft, die das Regime stürzen will, welches sein Vater errichtet hat. Ein Obstverkäufer nimmt sich das Leben, und der Nahe Osten steht in Flammen. Ist das der Beginn einer neuen Welle der Demokratisierung?
Die Wahrheit ist: Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Es hat fast 15 Jahre gedauert, bevor sich Samuel Huntington seiner Welle der Demokratisierung halbwegs sicher war, und es ist viel schwerer, eine Demokratie aufzubauen, als eine Diktatur niederzureißen, wie die Ägypter gerade schmerzhaft erfahren müssen. Der Fortschritt wird stockend sein. Autokraten, die sich an der Macht festklammern, könnten bald feststellen, dass sich ihr Griff um die Macht lockert. Doch unabhängig davon, wie schnell ein echter Wandel eintritt – das erste Opfer dieser Revolutionen ist die Überzeugung, einige Weltgegenden seien irgendwie immun gegen die Forderung nach Demokratie.
Was der Arabische Frühling gezeigt hat, ist etwas, das junge Menschen, gestählte Aktivisten und lautstarke Regimekritiker schon lange wissen: dass überall auf der Welt in repressiven Staaten ein Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten tobt, ein Kampf zwischen verfeindeten Lagern – und dass die Zukunft von Diktatur und Demokratie in der Schwebe liegt.
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