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Camerons EU-Reformpläne - Ideen, die ankommen

David Cameron wirbt aus rein nationalistischen Gründen für ein Reformpaket in Brüssel. Doch nicht alle seine Vorschläge sind sinnlos, finden erstaunlich viele seiner Kollegen in der EU

Tessa Szyszkowitz

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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Es waren ungewöhnlich alarmierende Worte, die Donald Tusk fand: „Das Risiko ist real, dass die EU auseinanderbricht.“ Der EU-Ratspräsident wollte die 28 Staatschefs noch knapp vor dem Brüsseler Gipfel am 18. Februar warnen. Die Europäer täten besser daran, „den anderen zuzuhören als nur sich selbst“. Tusk kämpft ganz eindeutig gegen einen „Brexit“ – und für den Verbleib der Briten in der EU: den „Bre-Main“.

David Cameron hat mit Brüssel in vier Kernbereichen Reformvorschläge ausgehandelt. Sie sollen beim Gipfel der EU-Staatschefs am Donnerstag und Freitag abgesegnet werden. Gelingt dies, will Cameron seine Briten am 23. Juni in einem Referendum über den Verbleib in der EU abstimmen lassen.

Camerons Ruf nach Subsidiarität kommt an
 

In Großbritannien wurde der Chef der konservativen Regierung für seine „verwässerten Reförmchen“ von der linken und der rechten Presse, aber auch von parteiinternen Kritikern verlacht. Doch Cameron hat auf seinen unermüdlichen Reisen in die verschiedenen Hauptstädte Europas erstaunlich viele Unterstützer für die eine oder andere Reform gefunden. „Die britischen Initiativen könnten weitreichende Folgen für das europäische Projekt haben“ meint Susi Dennison vom „European Council for Foreign Relations“ (ECFR).

Die EU steckt in einer tiefen Krise. Da stößt Camerons Ruf nach mehr Subsidiarität vielerorts auf offene Ohren. EU-Gründungsmitglieder wie Belgien lehnen zwar Camerons Forderung ab, dass die EU in Zukunft keine „engere politische Union“ anstreben soll. Doch in der derzeitigen Lage ist davon ohnehin nur zu träumen.

Weitere Integrationsschritte sind in einer Zeit, in der Schengen teilweise schon ausgesetzt wird, kaum vorstellbar. Ein Europa mit verschiedenen Geschwindigkeiten gibt es bereits. Diese Entwicklung mag sich beschleunigen.Aber Großbritannien muss nicht mitmachen. In Polen herrscht seit diesem Herbst eine nationalistische Regierung, die weiterer Integration ebenfalls äußerst skeptisch gegenüber steht. Dass eine Mehrheit von nationalen Parlamenten gemeinsam in Zukunft Brüssel eine „Rote Karte“ zeigen darf, ist im Zeitalter der Rückbesinnung auf nationale Bestrebungen in den meisten Hauptstädten akzeptiert worden. Zumal es nicht einfach ist, eine Mehrheit von 55 Prozent der nationalen Parlamente herzustellen.

Großbrittannien will Übervorteilung von Euro-Staaten verhindern
 

Großbritannien fordert auch mehr Wettbewerb und eine Vollendung des Binnenmarkts. Beim konservativen holländischen Kollegen Mark Rutte hat Cameron dafür von Anfang an ein offenes Ohr gefunden. Die Niederlande wollen ebenfalls eine Deregulierung und Liberalisierung des gemeinsamen Marktes. Das verspricht Brüssel jetzt auch: „Administrative Hürden sollen gesenkt werden“, heißt es im Tusk-Vorschlag.

London, mit dem Finanzplatz City, will außerdem unbedingt regeln, dass die Euro-Staaten die Nicht-Euro-Staaten nicht übervorteilen können. Ein Veto derer, die nicht Teil der europäischen Währung sind, kommt zwar für jene, die den Euro haben, nicht in Frage. Dennoch fanden es alle Mitgliedstaaten notwendig zu diskutieren: Wie trifft man Entscheidungen, die beide Zonen betreffen? Großbritannien wollte vor allem klarstellen, dass es nicht wie bei der Griechenland-Hilfe in die Lage kommt, als Nicht-Euro-Mitglied für die Rettung eines Eurostaates zahlen zu sollen. Auch da kann Britannien auf die Unterstützung jener zählen, die den Euro (noch) nicht haben.

Erstaunlich ist, wie sehr sich die EU-Staaten bei der Migrationsfrage bewegt haben. Im vergangenen Sommer lehnten es fast alle ab, die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch nur irgendwie in Frage zu stellen. Die Flüchtlingskrise aber hat die Angst vor Überlastung der sozialen Netze ganz nach vorne auf die Tagesordnung gesetzt. Und auch wenn die beiden Themen – Sozialleistungen für arbeitende EU-Bürger und Hilfe für Flüchtlinge – eigentlich nichts miteinander zu tun haben: Camerons diskriminierende Ideen für die Kürzung der Sozialleistungen für EU-Migranten fallen in vielen Staaten auf fruchtbaren Boden.

Briten planen Kindergeld-Reform in der EU
 

Brüssel hat Großbritannien einen Kompromiss angeboten: Wenn das soziale Netz wegen des Zuzugs zu vieler Migranten überlastet ist, könne man die „Notbremse“ ziehen. Obwohl die betroffenen EU-Bürger in Großbritannien arbeiten und Steuern zahlen, sollen ihre Sozialleistungen erst später gezahlt werden. Das widerspricht zwar ganz grundsätzlich dem Grundgedanken der EU, keinen arbeitenden EU-Bürger zu diskriminieren. Inzwischen ist aber nur noch die Frage, wie lange Großbritannien den EU-Migranten die ihnen zustehenden Sozialleistungen verweigern darf. Und: Wer wann, und wie die Notbremse ziehen darf?

Auch in der Frage des Kindergelds gibt es von Seiten der EU einen Kompromissvorschlag: Die Briten wollten die Beihilfe für Kinder, die nicht in Großbritannien leben, streichen. Jetzt soll das Kindergeld zwar gezahlt werden, aber den Zahlungen des Landes angeglichen werden, in dem das Kind lebt. Zustimmung bekommt Cameron dafür von mehreren Seiten, etwa vom österreichischen Außenminister Sebastian Kurz. Der junge Konservative hält es heute nicht mehr für problematisch, die Auszahlung von Sozialleistungen zu staffeln. In Österreich pendeln zum Beispiel viele Ungarn über die Grenze zur Arbeit, die Familien leben weiter in Ungarn. „Freizügigkeit heißt nicht, dass man sich das beste Sozialsystem aussuchen kann“, ist Kurz überzeugt.

Die vorgeschlagenen „Kompromisse“ sind vor allem für die osteuropäischen Regierungen hart. Es gibt zum Beispiel 100.000 „Euro-Waisen“ in Polen, deren Eltern in der EU arbeiten. 20 Prozent dieser Eltern arbeiten in Großbritannien, doppelt so viele in Deutschland. Die Kindergeld-Indexierung müsste für die ganze EU eingeführt werden, wenn sie dem Diskriminierungsverbot gerecht werden will. Kein Wunder, dass die osteuropäischen Regierungen bei einem Sondergipfel in Prag besprechen wollten, ob ihnen der Zusammenhalt der EU dieses Opfer wert ist.

Camerons Absage einer Plenumsdebatte stieß auf Kritik
 

Wenn das Reformpaket von den EU-Staatschefs beim Gipfeldinner am Donnerstagabend abgesegnet wird, ist die Sache für die Briten nicht ausgestanden. Dann muss die Kommission entsprechende Texte ausarbeiten, die das EU-Parlament genehmigen muss. Es ist zwar nicht üblich, dass das Parlament ein Veto gegen einen Entschluss des EU-Rats einlegt. David Cameron aber hat sich im Europäischen Parlament gerade in dieser Woche wieder Feinde geschaffen, als er die vorgesehene Plenumsdebatte über seine Reformwünsche kurzfristig absagte.

Wenn am Ende das EU-Parlament brav zustimmt, beginnt erst die wahre Arbeit: Die Britenreformen können zwar erst einmal beschlossen und mit Zusatzprotokollen zu den bestehenden Gesetzestexten eingeführt werden. Am Ende dieses Prozesses aber steht ein neuer EU-Vertrag. Wann und wie eine solch komplexe Operation durchgeführt werden kann, ist in dem derzeitigen Zustand der EU schwer vorstellbar. Die französische sozialistische Europaparlamentarierin Pervenche Berès hofft auf baldige Verhandlungen nach den deutschen Wahlen 2017: „Am besten wäre es, wenn jetzt schon alle Mitgliedstaaten damit anfangen, sich auf das neue Vertragswerk vorzubereiten.“

David Cameron wird dann – im Guten wie im Bösen – als jener Staatschef gelten, der den Prozess ins Rollen gebracht hat.

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