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Ausnahmezustand - Wohin steuert Ägypten?

Ägyptens Machthaber sind im chauvinistischen Taumel, das Ausland ist ratlos. Welche Strategie verfolgt das Militär und wohin steuert das Land am Nil?

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Martin Gehlen ist Journalist und berichtet aus der arabischen Welt.

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Noch nie zuvor wirkte Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle nach einem Besuch in Kairo so verzweifelt. Der deutsche Chefdiplomat war vor drei Wochen als erster europäischer Minister an den Nil geeilt, nach der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und gefolgt vom US-Vizeaußenminister William Burns. Ihn und die beiden anderen westlichen Spitzengesandten verband das Ziel, die neue Führung Ägyptens im Machtkampf mit den Muslimbrüdern von einer gewaltvollen Lösung abzubringen - angefangen von General Abdel Fattah el Sissi, über Interimspräsident Adly Mansour, seinen Vize Mohammed el Baradei bis zu Übergangspremier Hazem el Beblawi.

Doch schon nach den ersten Gesprächsrunden war dem deutschen Besucher offenbar klar - in Kairo hörte man die ausländischen Diplomaten bestenfalls noch höflich an, doch der Fahrplan für die blutige Abrechnung mit den Islamisten lag längst fertig in der Schublade.

Welche Strategie verfolgt das Militär?

Ernsthafte Verhandlungen mit der Führung der Muslimbrüder, die im Gefängnis sitzen oder per Haftbefehl gesucht werden, wurden gar nicht erst versucht. Stattdessen appellierte General Sissi an die Bevölkerung, ihm ein Mandat gegen den Terrorismus zu geben und legte damit das Fundament für einen apokalyptischen Endkampf. In einem solchen Szenario aber, das musste auch Westerwelle erkennen, stören ausländische Warner nur. Die Phase der Diplomatie sei vorbei, dekretierte das Präsidentenamt. Ägypten habe sowieso schon ein Übermaß an ausländischer Einmischung ertragen. Damit war der Weg planiert für Armee, Polizei, Geheimdienst und alte Mubarak-Garde, die Muslimbruderschaft aus der politischen Landschaft Ägyptens zu verbannen.
Gleichzeitig bekam der Westen, allen voran die Vereinigten Staaten, erstmals mit voller Wucht seine neue Ohnmacht im Nahen und Mittleren Osten zu spüren. Denn die amerikanische Militärhilfe von 1,3 Milliarden Dollar im Jahr verblasst gegenüber den zehnfach höheren Megasummen, die die reichen Golfstaaten unter Führung von Saudi-Arabien innerhalb von Tagen nach dem Putsch zur ägyptischen Zentralbank herüberschoben. China ist längst der wichtigste Handelspartner Ägyptens. Selbst Russland, wegen seiner Unterstützung von Syriens Baschar al Assad in der arabischen Öffentlichkeit eigentlich verfemt, findet plötzlich neue Sympathie.

Wie verlaufen die Fronten in der ägyptischen Politik?

Die große Mehrheit der ägyptischen Machthaber gibt sich einem chauvinistischen Taumel hin und sehnt sich zurück nach dem alten Polizeistaat unter Mubarak. Die nützlichen Handlanger des Militärputsches aus Jugend- und Demokratiebewegung haben sie nach sechs Wochen bereits ins Aus befördert. Deren einziger Vorzeigeminister im Interimskabinett hat bereits mehrfach mit seinem Rücktritt gedroht, weil er sich komplett ignoriert fühlt. Auch in den Provinzen läuft inzwischen das Rollback. Alle 27 von Mursi ernannten Gouverneure wurden abgesetzt und 19 Generäle zu neuen Provinzchefs ernannt, manche von ihnen ohne jede politische Erfahrung. Als der abgesetzte Mohammed Mursi im Mai elf der 27 Gouverneurssitze mit Muslimbrüdern besetzte, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Opposition des Landes. Das neue Machtmonopol der Armee dagegen quittieren dieselben politischen Kräfte nun mit Schweigen.

Was bedeutet der Rücktritt von Vize-Präsident Mohammed el Baradei für das Land?

Er ist die tragische Figur in dem ägyptischen Drama. Angetreten als selbst gekürter Retter der Demokratie, ist Mohammed el Baradei stattdessen zu einem der Totengräber der jungen Demokratie am Nil geworden. Sechs Wochen nach seiner Kurzkarriere als Übergangsvizepräsident trat der 71-Jährige am Mittwoch zurück. Für den Westen war el Baradei das liberale Gesicht Ägyptens, auch wenn er meist hinter den Kulissen und aus sicherer Deckung heraus agierte. Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2012 machte er im letzten Moment einen Rückzieher. Stattdessen gründete er seine eigene „Verfassungspartei“. Im Post-Mubarak-Ägypten entwickelte er sich zu einem kompromisslosen Gegner der Muslimbrüder und zum wichtigsten Gegenspieler von Staatschef Mursi. Den frommen Mächtigen hielt er vor, ihre Regierung sei unqualifiziert. Ägypten sei auf dem Weg in einen gescheiterten Staat. Die öffentliche Ordnung zerfalle, die Wirtschaft stehe vor dem Ruin. Seit dem Frühjahr beteiligte er sich an den geheimen Vorgesprächen mit der Generalität im illustren Marine-Offiziersclub am Kairoer Nilufer. Bei der Fernsehansprache von Armeechef Abdel Fattah El-Sissi saß el Baradei mit auf der Bühne, rechtfertigte die Machtübernahme des Militärs anschließend als „unausweichlich“. Mursi habe leider seine eigene Legitimität ausgehöhlt. „Und so gerieten wir in einen Faustkampf, statt in einen demokratischen Prozess.“

Wie reagiert der Westen?

Eher ratlos und frustriert klingen die westlichen Appelle nach dem dritten und bisher schwersten Massaker der Sicherheitskräfte an den Muslimbrüdern. Deutschland, Frankreich und Großbritannien bestellten die ägyptischen Botschafter ein. US-Außenminister John Kerry, der vor zwei Wochen noch das Eingreifen der Generäle als einen Schritt „zur Wiederherstellung der Demokratie“ qualifiziert hatte, spricht jetzt von „widerlichen Vorgängen, die die Wünsche der Ägypter nach Frieden und wirklicher Demokratie unterlaufen“. Dann aber wiederholte er lediglich das Mantra, die neue Führung in Kairo müsse eine Lösung suchen, die alle politischen Lager mit einbezieht.
Unter den EU-Ländern fiel am Donnerstag vor allem Dänemark mit einer deutlichen Reaktion auf das gewaltsame Vorgehen der Militärs auf. Der dänische Entwicklungsminister Christian Friis Bach kündigte an, dass Kopenhagen zwei Entwicklungshilfeprojekte zunächst auf Eis legen werde. Er erklärte zudem, dass seine Regierung auch beabsichtige, sich vorerst nicht mehr an den Brüsseler Hilfszahlungen für Ägypten zu beteiligen.

Im Moment gibt es indes keine Anzeichen dafür, dass Brüssel die EU-Hilfe für Ägypten insgesamt einfrieren könnte. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton appellierte zwar an die Übergangsregierung, „den Ausnahmezustand so schnell wie möglich zu beenden, damit das normale Leben wieder aufgenommen werden kann“. Auf die EU-Finanzhilfen für Kairo ging die Britin in ihrer Reaktion aber nicht ein. Ende vergangenen Jahres hatte die EU Kairo Hilfen über fünf Milliarden Euro für die marode Wirtschaft zugesagt.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU) regte an, Teile der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Ägypten zu überdenken. Es stelle sich die Frage, ob es Bereiche der Kooperation gebe, die zeitweilig suspendiert werden könnten, „um ein Zeichen zu setzen“, sagte Polenz. Gemeinsame Projekte bei der Entwicklungszusammenarbeit – etwa zur Verbesserung der Trinkwasserversorgung – sollten aber trotz der politischen Entwicklung in Kairo fortgeführt werden.

Einige Unternehmen, darunter der Autokonzern GM und der Haushaltsgeräte-Hersteller Elektrolux kündigten bereits an, die Produktion in Ägypten vorerst zu stoppen.

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