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Auf den Trümmern des Osmanischen Reiches - Eine Welt versinkt im Chaos

Kolumne: Grauzone. Der Kampf um das Erbe des Osmanischen Reiches hat knapp 100 Jahre nach seinem Untergang begonnen. Zwischen religiösem Fanatismus und ethnischen Konflikten tummeln sich die USA, die mit ihrer Konzeptlosigkeit die Probleme befeuern

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist ein Jahr her, da gedachte die Welt des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. Und natürlich wurde munter diskutiert über Schuld und Verantwortung für diese „Urkatastrophe“. Doch spannender als die Ursachen sind die Folgen dieses Krieges. Denn sie bestimmen – auch nach beinah 100 Jahren – auf dramatische Weise die aktuelle Politik. Das gilt für den Balkan, den Kaukasus, vor allem aber für Nordafrika und den Nahen Osten.

Auf den Trümmern des Osmanischen Reiches – von Libyen bis nach Mesopotamien – wird ein erbarmungsloser Kampf um die ideologische, ökonomische und militärische Vorherrschaft geführt. Während die Region in Chaos und Anarchie versinkt, wirkt die verbliebene Weltmacht planlos, widersprüchlich und ohne jede erkennbare Strategie. Dabei zeigt ein oberflächlicher Blick in die Geschichte, dass Konzeptlosigkeit die Lage in dieser Weltgegend stets noch schlimmer gemacht hat, als sie ohnehin schon war.

Das Paradebeispiel dafür lieferten die Briten: Für ihren Aufstand gegen die Türken hatten sie den Arabern ein Großsyrisches Reich versprochen. Zugleich hatte man den zionistischen Siedlern in Palästina in der Balfourt-Deklaration von 1917 zugesagt, eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk zu errichten. Und schließlich hatten Frankreich und Großbritannien ein Jahr zuvor im Sykes-Picot-Abkommen den Nahen Osten unter sich aufgeteilt.

Weltanschauliche Importe aus dem Abendland


Da die drei Abkommen sich faktisch ausschlossen, begann man zu improvisieren. So installierten die Briten die von den Sauds aus Arabien vertriebene Dynastie der Haschimiten als Herrscher über Transjordanien. Im Mandatsgebiet Mesopotamien, dem späteren Irak, verhalf man einem Haschimiten, dem zwischenzeitlichen König von Syrien Faisal I., zu einem neuen Thron. Im Norden des Jemen gründete man ebenfalls ein Königreich. Und aus Aleppo, Damaskus, dem Drusen- und dem Alawetenstaat sowie Großlibanon zimmerten die Franzosen das spätere Syrien.

Nicht nur die willkürlichen Eingriffe in die politische Geographie waren auf Dauer fatal. Als mindestens ebenso verhängnisvoll erwiesen sich die weltanschaulichen Importe aus dem Abendland: Nationalismus und Sozialismus, gerne in Kombination.

Doch Panarabismus und arabischer Sozialismus waren intellektuelle Todgeburten. Sie dienten vor allem korrupten Machteliten zur Stabilisierung ihrer Gewaltherrschaft – man denke nur an die Baath-Parteien in Syrien und im Irak.

Fatales Geflecht aus Zweckbündnissen
 

In das intellektuelle und machtpolitische Vakuum, das der Panarabismus hinterließ, stieß der Islamismus. Wie der europäische Klerikalfaschismus hat er seine ideologischen Wurzeln in den 1920er Jahren. 1928 gründete Hasan al-Banna die Muslimbruderschaft. Sein jüngstes Produkt, der „Islamische Staat“, fordert nicht nur die westliche Welt heraus, sondern vor allem die traditionellen arabischen Machteliten, von denen er allerdings durchaus finanziert wird.

Angeheizt wird das Szenario dadurch, dass sich die islamisch-nationalistisch regierte Türkei, das wahhabitische Saudi-Arabien und der schiitische Iran – letzterer mittels Milizorganisationen wie Hisbollah, Huthi-Rebellen und den Quds-Brigaden – rücksichtslos Einflusszonen in Mesopotamien zu sichern versuchen.

Das Resultat ist ein ebenso fatales wie unübersichtliches Geflecht aus Bündnissen, Zweckbündnissen und Feindschaften. Und mittendrin: die USA, die, nach dem übereilten Rückzug aus dem Irak, unter Präsident Obama anscheinend jede außenpolitische Orientierung verloren haben und die Situation durch Konzeptfreiheit noch anheizen.

Im Nordjemen liefert sich Saudi-Arabien, unterstützt durch die USA, einen Stellvertreterkrieg mit dem Iran. Währenddessen wird der Südteil des Landes längst von al-Qaida kontrolliert wird. Gleichzeitig bombardiert die US-Luftwaffe Stellungen des IS im Irak, um vom Iran geleitete Operationen gegen den IS zu unterstützen, während in Syrien von den Saudis ausgerüstete Milizen gegen die Hisbollah vorgehen.

Wahnsinn ohne Methode
 

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, liefern die USA Waffen an die Kurden, damit diese den IS stoppen, erklären aber das türkische Bombardement von PKK-Kurdenstellungen zu einem Akt der Selbstverteidigung – wohl wissend, dass ein nicht unerheblicher Teil des Nachschubs für den IS über die von den Kurden nicht kontrollierte Grenze zwischen der Türkei und Syrien läuft. In Abwandlung eines einschlägigen Shakespeare-Zitats muss man wohl sagen: „Es ist Wahnsinn und hat nicht einmal Methode.“

Der Kampf um das Erbe des Osmanischen Reiches, lange gedeckelt durch Kolonialordnung und Kalten Krieg, hat begonnen – 97 Jahre nach seinem Untergang. Er wird befeuert durch religiösen Fanatismus, ethnische Konflikte, mächtige Großfamilien und nach Einfluss gierenden Regionalmächten.

Die einzig verbliebene Weltmacht laviert, versucht punktuell pragmatisch zu handeln und verstrickt sich so in konzeptionelle Widersprüche. Das ist fatal. Denn es ist genau diese „Politik“, die diese Region in den Abgrund geführt hat. Es wird dringend Zeit umzusteuern. Doch das wird nicht passieren. Europa kümmert sich sowieso lieber um sich selbst – während rundherum die Welt in Flammen steht.

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