- Die traurige Nomadin
Mit „Wüstenblume“ schrieb Waris Dirie einen Welt-Bestseller, ihr Kampf gegen die Beschneidung von Mädchen brachte ihr weltweite Anerkennung. Heute irrt das somalische Ex-Topmodell rast- und ziellos umher – ihre Projekte scheitern, einstige Unterstützer wenden sich ab.
Nach außen hin bin ich die starke Waris, die Kämpfernatur, immer schön, immer lächelnd. Innen aber bin ich verletzlich, unsicher, nach wie vor fremd in dieser großen, bunten Welt.“ Diese Sätze stammen aus dem vor drei Jahren erschienenen Buch jener strahlenden Frau, die soeben in Addis Abeba aus einer weißen Stretchlimousine steigt und ihr Profilächeln aufsetzt. Die Frau aus der Limousine ist Waris Dirie. In wenigen Minuten wird sie mal wieder ihr eigenes Leben an sich vorbeiziehen sehen. Sie ist Ehrengast bei der Afrika-Premiere von „Wüstenblume“, der Verfilmung ihres autobiografischen Weltbestsellers.
Ich hatte Waris Dirie, das ehemalige Supermodel, die bekannteste Kämpferin gegen weibliche Genitalverstümmelung, die jetzt mit den Kameras flirtet und auf Öffentlichkeitsmodus geschaltet hat, zum ersten Mal vor ein paar Wochen in Äthiopien getroffen. Ihr Leben schien schon seit längerem ein wenig aus den Fugen geraten zu sein. Allzu überrascht war ich also nicht, als mich einige Tage nach unserer ersten Begegnung eines Morgens ein gemeinsamer Bekannter anruft: „Frau Dirie zahlt ihre Hotelrechnung nicht. Es gibt einen Eklat mit dem Manager“, berichtet er mir am Telefon. Ich fahre hin, um nach dem Rechten zu sehen. Keine Luxusherberge für Ausländer, sondern ein eher familiäres Hotel ohne großen Komfort. Als ich an der Zimmertür klopfe, ruft von drinnen eine heisere Stimme: „Komm rein!“ Waris Dirie sitzt im gebatikten Tanktop und Puma-Trainingsanzugshose auf dem Bett, trinkt duftenden, somalischen Tee aus einer großen Tasse. Sie sieht erschöpft aus. Vor drei Tagen hat sie in Berlin ihr neues Buch „Schwarze Frau, weißes Land“ präsentiert und kam schwer erkältet nach Afrika zurück.
Ich frage, was denn los sei. „Oh, this fucking manager drives me crazy. You have to help me, baby“, erzählt Waris Dirie, als plötzlich ein vielleicht elf Jahre altes Mädchen in einem türkisen Kleid und mit rotem Kopftuch ins Zimmer gerannt kommt. „Sie ist die Tochter meines kleinen Bruders Burhan. Ihre Mutter will sie beschneiden lassen. Ich bin hier, um sie zu retten. Hilfst du mir?“, fragt Dirie mich, den Fremden.
Das hübsche Mädchen sieht so aus, wie Waris Dirie einmal ausgesehen haben könnte, als sie als Nomadenmädchen in Somalia Ziegen und Kamele hütete. Dem zartgliedrigen Kind soll erspart bleiben, was ihrer berühmten Tante vor etwa 40 Jahren widerfuhr und ihr Leben bis heute bestimmt. Damals nahm Waris Diries Mutter Faduma ihre Tochter im Morgengrauen an die Hand und lief mit ihr in die somalische Wüste. Niemand durfte die Schreie hören, wenn das Mädchen auf brutale Weise „zur Frau“ gemacht werden sollte. Mit einer abgebrochenen Rasierklinge, auf der noch das dunkle Blut eines anderen verstümmelten Mädchens klebte, schnitt eine alte Frau der kleinen Waris an diesem Morgen die Klitoris und die Schamlippen ab. „Dann spürte ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile fortgeschnitten wurden. Ich hörte den Klang der stumpfen Klinge, die durch meine Haut fuhr“, beschrieb Dirie die schlimmsten Sekunden ihres Lebens später.
Die kleine Waris fiel in Ohnmacht, die Beschneiderin nähte die Wunde mit Akaziendornen bis auf eine winzige Öffnung für Urin und Menstruationsblut zu. Die totale Kontrolle der weiblichen Sexualität. Schätzungsweise bis zu 8000 Mädchen fallen der brutalen Tradition täglich zum Opfer; später werden die Nähte oft erst in der Hochzeitsnacht vom frisch angetrauten Ehemann mit einem Messer wieder aufgetrennt. Zumindest diese Demütigung aber wollte Waris Dirie nicht über sich ergehen lassen: Als ihr Vater kurz davorstand, sie als Dreizehnjährige für fünf Kamele mit einem viel älteren Mann zu verheiraten, rannte sie davon. Allein irrte sie durch die somalische Wüste, kam irgendwie in die Hauptstadt Mogadischu – und von dort aus mit ihrem Onkel nach London. Ganz auf sich allein gestellt und ohne je eine Schule besucht zu haben, schlug sie sich mit Gelegenheitsjobs durch. Als Putzfrau bei McDonald’s wurde sie Mitte der achtziger Jahre von einem Fotografen entdeckt. Mit einer Cover-Aufnahme für den Pirelli-Kalender wurde aus dem Wüstenmädchen ein weltberühmtes Model, Ende der neunziger Jahre kam durch ihre Autobiografie „Wüstenblume“ der weltweite Ruhm als Schriftstellerin dazu. Und ihr Kampf gegen die Genitalbeschneidung machte aus Waris Dirie eine vielgefragte Menschenrechtsaktivistin. Und jetzt bittet mich diese Frau, ihr dabei zu helfen, ihre Nichte zu retten?
Die Nichte ist nicht der einzige Grund, warum Dirie nach Afrika zurückgekehrt ist. Waris Dirie ist, wieder einmal, auf der Suche nach sich selbst, auf der Flucht vor einer Welt, die ihr auch nach 30 Jahren noch fremd ist, unterwegs in einer Umgebung, die sie nach drei Jahrzehnten nicht mehr versteht. So richtig dazu gehört sie nirgendwo, irgendwie steht sie immer dazwischen. In „Schwarze Frau, weißes Land“ beschreibt Dirie, dass sie nach Afrika zurückkehren will, um den Frauen ihres Kontinents zu helfen. So wie jetzt ihrer eigenen Nichte.
„Weißt du, wo die somalische Botschaft ist? Wir müssen da hin. Sofort. Ich brauche einen Pass für meine Nichte. Ruf uns ein Taxi“, bestimmt Dirie. 15 Minuten später stehen wir vor dem Wellblechtor der heruntergekommenen somalischen Vertretung. „Close. Come Monday“, sagt der mit einer alten Kalaschnikow ausgerüstete Wachmann. Waris Dirie flucht, aber es nutzt nichts. Die Botschaft bleibt auch für die berühmteste Tochter des Bürgerkriegslandes geschlossen.
Im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung hat wahrscheinlich niemand mehr erreicht als Waris Dirie. Seit mehr als 13 Jahren schreibt und spricht sie über ihre Geschlechtsorgane, die zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden sind. Jedes Mal ist es eine Qual, doch Dirie hört nicht damit auf. Als das gefeierte Model 1997 der Marie Claire erstmals von jenem Morgen in der Wüste erzählte, entschied sie sich für die Rolle der Märtyrerin. Seither gibt es keinen Weg zurück. Dirie ist gefangen in der Rolle der „Beschnittenen“. Sie ist die ewig Ausgestellte; als Kind das hilflose Opfer, als Frau die mutige Kämpferin. Doch der Kampf hat seinen Tribut gefordert. Nicht immer kann sie erfüllen, was Millionen Bewunderer auf der ganzen Welt von ihr erwarten.
Als sie im März 2008 in Brüssel vor einem Auftritt mit der damaligen amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice für drei Tage spurlos verschwand, sagte sie, sie sei verschleppt worden, ihr Peiniger habe versucht, sie zu vergewaltigen. Doch die belgische Polizei stellte die Ermittlungen ein. Was genau passierte, wird wohl immer ein Rätsel bleiben, denn in „Schwarze Frau, weißes Land“ schreibt Dirie über die Tage in Brüssel recht geheimnisvoll: „Ich weiß nur eines: Ich möchte nie wieder in meinem Leben über das Erlebte reden müssen.“
Auch sonst ist das Buch wenig aufschlussreich. Auf den 334 Seiten philosophiert die Autorin unter anderem über Umweltzerstörung (nicht gut), das Modebusiness (nicht gut, dabei erzählte sie mir: „Ich mache meine Nichte zu einem ganz großen Model!“), klassische Entwicklungshilfe (nicht gut, weil die meisten Gelder angeblich auf den Konten afrikanischer Regierungschefs landen, was sie jedoch nicht davon abhielt, sich vom Staatsoberhaupt Dschibutis auf dessen Privatjacht einladen zu lassen, Rassimus (nicht gut), Kindererziehung („Kinder dürfen nicht vor dem Fernseher aufwachsen. Kinder müssen möglichst oft und viel draußen spielen“). Schlauer ist man nach der Lektüre kaum, ein großer Lesegenuss ist das vor Banalitäten strotzende Buch („Alles Leben braucht Wasser. Ich brauche Wasser, unsere Tiere brauchen Wasser, die Bäume brauchen Wasser. Ohne Wasser gibt es kein Leben. Wasser ist Leben“) nicht. Bislang wurden erst rund 40 000 Exemplare davon verkauft. „Wir hatten uns mehr erhofft“, gesteht der Verlag ein. „Wüstenblume“ fand weltweit mehr als elf Millionen Käufer.
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