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John C. Mather:
"Der Urknall ist kulturell interessant"
Beginnen wir beim Alltäglichen. Dort, im Alltag, leisten wir ihn uns bekanntlich immerfort – den Glauben. Ohne Glauben könnten wir gar nicht leben. In der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft lebt jeder, was das Wissen betrifft, aus zweiter oder dritter Hand. Bei den meisten Dingen, die unseren unmittelbaren Lebens- und Kompetenzbereich überschreiten, bleibt uns nichts anderes übrig, als an das Wissen der anderen – zu glauben. In den meisten Angelegenheiten sind alle dazu verurteilt, gläubige Mitwisser zu sein. Da jeder nur Spezialist für Bestimmtes ist und Laie in Bezug auf den riesigen Rest, wächst mit der spezialisierten Wissensgesellschaft auch die Glaubensgemeinschaft. Je mehr Wissen, desto mehr Glauben an das Wissen der anderen. Diese Art des Glaubens hat also auf jeden Fall eine große Zukunft.
Es gibt in der Wissensgesellschaft Felder, wo in diesem Sinne besonders intensiv geglaubt wird. Wenn die Wirtschaftsweisen im Fernsehen wie Schamanen aus den Kulissen treten und ihre Orakelsprüche verkünden, dann sollen wir an die verkündeten Konjunkturprognosen glauben. Aber so glauben wir auch an die Psychoanalyse, an den Urknall, an das Chaos in der Natur, an die künftige Klimakatastrophe, an die Entropie samt kosmischem Wärmetod, an die egoistischen Gene und an vieles andere mehr.
Zwar könnte man sagen, das seien nur Formen des Für-wahrscheinlich-Haltens, die deshalb wenig mit dem religiösen Glauben zu tun hätten. Und doch nähern wir uns dabei dem religiösen Feld, weil es hier um Zuversicht oder Angst in Bezug auf Themen geht, die lange Zeit genuin religiöse Themen waren. Wer an den Urknall glaubt, hält nicht nur eine wissenschaftliche Hypothese für wahrscheinlich, sondern glaubt daran wie an die göttliche Weltschöpfung. Und an die Entropie-Hypothese mit dem schließlichen Wärmetod kann man auch glauben wie an die Apokalypse.
Noch in einem anderen Sinne leben wir alltäglich aus dem Glauben. Der Mensch ist das Tier, das versprechen kann, hat Nietzsche einmal gesagt. Der eine verspricht, der andere glaubt ihm. Glauben ist auf beiden Seiten im Spiel, denn auch der Versprechende muss an sich selbst glauben, genauer: an sein künftiges Selbst, das ein gegebenes Versprechen einhalten soll. Ich verspreche, weil ich an mich glaube und du glaubst mir, weil ich verspreche. Diese Art des Glaubens zirkuliert zwischen den Menschen und ist so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Es ist ein Glaube, dem wir im Interesse unserer Lebensfähigkeit eine Zukunft wünschen müssen. Der Mensch lebt, anthropologisch gesehen, auf Kredit.
Die zivilisatorische Macht der Wissenschaften kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere grundlegenden Stellungnahmen zum Leben nicht wissenschaftlicher Natur sind, sondern aus Moral, Religion, Lebensgefühl gespeist werden. Jeder findet, hat der große Soziologe Max Weber einmal gesagt, früher oder später seinen eigenen Dämon, der „seines Lebens Faden“ hält. Für das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft aber kommt es darauf an, dass diese Dämonen nicht zu Tyrannen werden. Die pluralistisch-demokratische Gesellschaft ist gegen diese Gefahr einstweilen noch ganz gut abgesichert. Auch die religiösen ‚Wahrheiten‘ haben inzwischen Bescheidenheit und die Kränkung ertragen gelernt, dass sie auf offenem Markte als bloße ‚Meinungen‘ oder ‚Gesinnungen‘ gehandelt werden. Eine päpstliche Enzyklika konkurriert mit den Do-it-yourself-Lebenshilfen und die Bibel mit den übrigen esoterischen Schriften. Wir sind eingetreten in das Zeitalter eines säkularisierten Polytheismus. In der pluralistischen Gesellschaft gibt es viele Götter, viele Wertorientierungen, eine Vielzahl von religiösen und halb-religiösen Sinnbestimmungen. Der eine Gott, der einst den geistigen Zusammenhang der abendländischen Gesellschaft verbürgte, ist zersprungen in die vielen kleinen Hausgötter. Die großen Kirchen leeren sich, aber das Angebot für den religiösen Hobbykeller wächst.
Wo aber die Kirchen öffentlich agieren, tun sie es in der Regel als durch Steuergelder finanzierte Verantwortungsträger, die das gesellschaftliche Guthaben an Spiritualität bewirtschaften. Wenn die großen Kirchen heute um gesellschaftliche Akzeptanz werben – beispielsweise auch mithilfe von Werbeagenturen –, dann kann Zweifel aufkommen, ob es hier überhaupt noch um Religion geht.
Das offizielle Christentum ist in der Regel von einem ‚heißen‘ zu einem ‚kalten‘ Religionsprojekt geworden. Was verstehe ich unter einer ‚heißen‘ Religion? Eine ‚heiße‘ Religion nenne ich die, die auf eine Erlösung von dieser Welt setzt. Sie ist für diese Welt, erklärt aber von sich selbst, dass sie nicht von dieser Welt ist. Für die ‚heiße Religion‘ bedeutet In-der-Welt-Sein nichts anderes als In-der-falschen-Veranstaltung-Sein. Darum ist das Herzstück einer ‚heißen‘ Religion: Erlösung von der Welt. Das Christentum war über lange Zeit eine solche ‚heiße‘ Religion.
Paulus, der eigentliche Begründer des Christentums als Weltreligion, hat dieses Herzstück so formuliert: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich“ (1 Kor. 15,14). Diese Glaubenssätze vom Gottesopfer, Tod und Auferstehung waren nicht symbolisch, psychologisch oder sonst wie verdünnt gemeint. Dieses andere Leben sollte ebenso wirklich sein wie dieses: nur eben an einem anderen Ort und zu anderer (künftiger) Zeit. Dieses Anderswo, Anderswann ist jenseitig, aber so faktisch wie das Diesseits. Wenn das diesseitige Hier nur als Provisorium, als Transitraum verstanden wird, dann ändert sich auch die Moral. Es geht jetzt nur noch darum, ‚rein‘ zu bleiben bis zur Erlösung, bis zur Apokalypse. Eine Moral, welche das Überleben einer Gesellschaft über einen längeren Zeitraum gewährleistet, ist nicht nötig. Eine typische Moral für den religiösen Transitraum enthält zum Beispiel die Bergpredigt. In einer Welt, die von Selbstbehauptungskämpfen bestimmt ist – und es gibt auf Erden keine anderen – hat man mit der Bergpredigt auf Dauer keine Überlebenschancen. Aber darauf kommt es einer ‚heißen‘ Religion auch gar nicht an. Ein ‚heiße‘ Religion ist in ihrem Selbstverständnis keine Einrichtung zur Stabilisierung irgendwelcher gesellschaftlicher Ordnungen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“
Mit dieser ‚heißen‘ Ekstatik und Apokalyptik des Christentums ist es ziemlich vorbei. Aus dem Christentum ist weit gehend das kalte Projekt der Zivilreligion geworden. Spiritueller Flankenschutz bei der Bewältigung innerweltlicher Probleme, vor allem Moral, Schicksal und Sinn betreffend. Die ‚kalte‘ Religion kommt ohne ernsthafte Transzendenz aus. Sie ist immanent gerichtet, pragmatisch, karitativ, rhetorisch. Die Glaubenswelt ist so weit psychologisiert und soziologisiert, dass daraus ein Gemisch wird aus Sozialethik, institutionellem Machtdenken, Psychotherapie, Meditationstechnik, Museumsdienst, Kulturmanagement, Sozialarbeit. Hoffnungen auf Erlösung haben sich, wo es sie noch gibt, von der äußeren auf die innere Bühne verlagert.
Diese Verinnerlichung, Psychologisierung, Therapeutisierung gehört zur Geschichte der Abkühlung der Religion und hängt zusammen mit dem abendländischen Tiefenereignis der „Trennung der Wertsphären“ (Max Weber); getrennt haben sich die Sphären von Religion und Wissenschaft, von Religion und Politik. Seit der frühen Neuzeit hat sich, wenn auch nicht konfliktfrei, jenes „Zweikammersystem“ der Kultur etabliert, das Nietzsche so beschrieben hat: Eine höhere Kultur, sagt er, müsse dem Menschen „gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nichtwissenschaft zu empfinden: nebeneinander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. In einem Bereich liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung vorgebeugt werden“.
‚Kalte‘ Religionen sind solche, die dieses Wechselspiel von Überhitzung und Abkühlung nicht nur äußerlich, sondern innerlich akzeptiert haben, die vernünftig geworden sind, die sich auf das Gesellschaftsdienliche herunterkühlen lassen. Mit einem Wort: die von dieser Welt und allein für diese Welt sein wollen.
Anders die ‚heiße‘ Religion: Ihre Wahrheit will das Ganze des Lebens erfassen und verwandeln; hier gibt es keine Trennung der Wertsphären. Ihr geht es ums Ganze und sie greift nach dem ganzen Menschen. Sie will ihn von dieser Welt erlösen. Sie lockert die Weltbindung und löst sie vielleicht sogar ganz auf, entweder sanft und mystisch oder terroristisch und zerstörerisch.
Inzwischen wissen wir, dass wir heute den islamischen Fundamentalismus ins Auge fassen müssen, wenn wir eine ‚heiße‘ Religion in Aktion sehen wollen. Hier kommt wieder, wie einst im Christentum, ihr ekstatischer und apokalyptischer Aspekt zum Vorschein. Diejenigen, die in die Türme von New York geflogen sind, waren gewiss Apokalyptiker, im wörtlichen Sinne ein Himmelfahrtskommando. Sie verachten die westliche, dekadente, heidnische Kultur, so wie Christen einst die Heiden verachtet haben. Jetzt aber sind wir, die Angehörigen der säkularisierten westlichen Kultur, die Heiden. Der Anschlag vom 11. September 2001 war – neben vielem, was er auch noch war – ein Rachegericht von religiösen Apokalyptikern über eine in ihren Augen nihilistische, dekadente Zivilisation.
Zur Zeit der Taliban-Herrschaft in Afghanistan berichtete ein deutscher Journalist von dem Gespräch mit dem „Außenminister“ der Taliban, der auf die Frage, weshalb das Regime keine Anstrengungen unternehme, das zerstörte Land wieder aufzubauen, mit einem Gleichnis antwortete. Wenn Sie, sagte er, bei einem Rückflug nach Deutschland in einem unwirtlichen Land abstürzen, aber überleben und die Gewissheit haben, dass Sie in absehbarer Zeit zurückgeholt werden – dann würden Sie doch auch nicht damit anfangen, an dem Absturzort etwas aufzubauen. Das, so sagte der Außenminister, sei die Lage der Taliban: Sie würden bald ins Himmelreich eingehen. Es lohne nicht, an diesem hiesigen Elend noch etwas zu ändern. Das ist exakt jenes Transitraum- und Warteraumbewusstsein, das uns noch bekannt sein müsste aus der ‚heißen‘ Phase des Christentums.
Das ist die barbarische Version der Entschlossenheit zur Transzendenz. Selbstverständlich gibt es für das religiöse Warte- und Transitraumgefühl auch eine sanfte, milde innerweltliche Ausdrucks- und Handlungsform: Man denke an die schon erwähnte Bergpredigt mit ihrer Ethik des Reinbleibens.
Fassen wir die abgekühlten Varianten des Religiösen ins Auge. Es gibt sie, weil es religiöse Erfahrung und ihr entsprechende religiöse Ausdrucksbedürfnisse gibt. Wie lässt sich religiöse Erfahrung definieren? Vielleicht als das durch Rituale, Institutionen, Symbole stabilisierte Gefühl der Zugehörigkeit zu einem übergreifenden und tragenden Sinnzusammenhang; es geht um authentische Beziehungserfahrung, Kontingenzbewältigung, Lebensorientierung. Man will in einem seelisch-geistigen Sinne zu Hause sein. Dieses Verlangen nach umfassender Sinnerfüllung ist wahrscheinlich grundlegend. Es kann unterschiedlich befriedigt werden. Und – was das Wichtigste dabei ist – dieses Verlangen nach Sinn und Zugehörigkeit kann auch auf perverse Weise befriedigt werden.
Religionen können pervertieren – man spricht dann von ‚Ersatzreligionen‘ oder Ideologien. Der Nationalsozialismus war neben vielem, was er sonst noch war, auch eine solche Ersatzreligion, ein aus religiösen Motiven gespeister Aufstand gegen die Zumutung einer säkularisierten, pluralistischen Moderne. Carl Friedrich von Weizsäcker schrieb kurz nach dem Ende der Naziherrschaft: „Der Nationalsozialismus war eine Religion. Glaubenssehnsucht, die die Kirche nicht mehr erfüllte, Glaubenskraft, die die Kirche nicht mehr band, sind in ihn eingeflossen.“
Wie lassen sich pervertierte und authentische Formen des Religiösen unterscheiden? Eine authentische Religion erzieht zur Ehrfurcht vor der Unerklärlichkeit der Welt. Im Lichte des Glaubens wird die Welt ‚größer‘, denn sie behält ihr Geheimnis und der Mensch versteht sich als Teil davon. Er bleibt sich selbst ungewiss. Für die Ersatzreligion schrumpft die Welt. Ihr Anhänger findet in allem und jedem Ding nur noch die Bestätigung seiner Meinung, die er mit der Inbrunst des Glaubens gegen den Rest der Welt und gegen die eigenen Zweifel verteidigt. Besonders gefährlich wird es, wenn diese Monomanie ins Politische durchschlägt und zur Methode wird, die Welt aus einem einzigen Punkt gewaltsam zu kurieren.
Die totalitären Ideologien des vergangenen Jahrhunderts – Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus – haben sich in diesem Sinne also als perverse Religionen erwiesen. Ihre Weltbilder beanspruchen, das wahre Wesen von Natur und Geschichte erkannt zu haben. Sie geben vor zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie wollen das Ganze begreifen und greifen nach dem ganzen Menschen. Sie geben ihnen die Geborgenheit einer Festung mit Sehschlitz und Schießscharte. Sie kalkulieren mit der Angst vor dem offenen Lebensgelände, vor dem Risiko der menschlichen Freiheit, die stets auch bedeutet: Ungeborgenheit, Alleinstehen, Ungewissheit. Sie wollen den Menschen von seiner schwierigen Freiheit, ein Einzelner zu sein, befreien und in ein Kollektiv eingliedern: Dort darf er sich zugehörig fühlen – im verfeindenden Gegensatz zu denen, die nicht dazugehören. Dieser Gegensatz ist von elementarer Bedeutung: Das Gefühl dieser Art Zugehörigkeit ist, genau besehen, nichts anderes als die Abgrenzung von den Feinden und dem Fremden. Die totalitären Ideologien als Religionsersatz wollen den Menschen von der Freiheit, die immer auch das Gefühl des Fremdseins und der Einsamkeit einschließt, befreien. Fremdsein und Einsamkeit sind verbunden mit der Erfahrung eines schwer definierbaren Mangels, von dem es in Georg Büchners Danton heißt: „Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür – aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?“