() Jean-Claude Juncker
Der Europamacher
Jean-Claude Juncker ist dienstältester Regierungschef der Europäischen Union und heimlicher EU-Präsident. Daher hat der Luxemburger Premier wenig Verständnis für Europaskeptiker. Er kämpft für die Union und damit für seinen nächsten Karriere-Schritt
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Herr Juncker, was entgegnen Sie jenen EU-Bürgern, die europamüde sind?
Ich will ihnen meine eigene Geschichte erzählen. Ich wurde 1954 als Sohn eines Stahlarbeiters geboren. Bis zur Mitte der sechziger Jahre waren die Löhne so, dass Arbeiterfamilien sich keine großen Sprünge erlauben konnten. Wenn ich eine neue Hose bekommen sollte, merkte ich schon, dass an anderer Stelle gespart werden musste. Insgesamt würde ich sagen: Wir waren nicht arm, aber auch nicht wohlhabend – ergo glücklich.
Das war in Ihrer Generation kein außergewöhnliches Schicksal.
Mein Vater war als Soldat im Zweiten Weltkrieg zwangsverpflichtet. Meine Mutter, die 1928 geboren wurde, hat den Krieg bewusst miterlebt. Beide haben die Wiederaufbauphase des weitgehend zerstörten Landes mitgemacht. Und so erklärt sich auch, warum sich meine Eltern für ihre Kinder ein besseres Leben wünschten. Heute vermitteln viele Eltern ihren Kindern das Gefühl, ihnen werde es eines Tages schlechter gehen. In Europa schleicht sich eine Art islamischer Fatalismus ein.
Das macht die EU nicht wirklich attraktiv.
Wir sind schwache Erben einer gewaltigen Lebensleistung unserer Vor-Generation. In meiner Kindheit gab es noch Grenzen. Wenn wir nach Deutschland oder nach Frankreich wollten, standen wir mindestens eine halbe Stunde an der Grenze. Diese Erfahrung haben junge Luxemburger und junge Europäer nicht mehr.
Sie ärgern sich über die Undankbarkeit der Jüngeren?
Manchmal, wenn ich schlecht gelaunt bin, weil mir das Luxemburgisch-Europäische auf den Wecker geht, würde ich am liebsten in Brüssel den Vorschlag machen, einfach für sechs Monate die Grenzen wieder einzuführen. Damit die Menschen merken, was das ist. Oder den europäischen Binnenhandel zurückzudrehen – dann wären wir alle ärmer. Heute denken ja viele, wir seien schlechter dran. Dabei hat sich insgesamt alles zum Positiven gewendet. Negativ daran ist nur, dass das niemand glaubt. Die, die heute unter zwanzig sind, spüren, lesen und hören immer wieder, dass unser heutiger Wohlstand so nicht zu halten sein wird.
Verstehen Sie nicht, dass die Globalisierung Angst macht?
Je globalisierter die Welt wird, umso ängstlicher werden die Menschen in Europa. Als ob Chinesen, Inder und viele andere nicht auch ein Recht auf ein bisschen Sonne hätten. Diese europäische Vorstellung, dass die Sonne allein für uns scheint, und die Schattenseite so groß ist, dass da alle Chinesen und Inder bequem Platz finden, die mag ich nicht.
Was heißt das praktisch?
Solange zwei Milliarden der Menschheit mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen und jeden Tag 25000 Kinder an Hunger sterben, so lange muss Europa wissen, dass wir diese Probleme angehen müssen. Sonst werden sie in Zukunft so groß sein, dass wir sie nicht mehr bewältigen können. Ich bin für eine in den Griff genommene Globalisierung und nicht gegen die Globalisierung.
Es gibt also keine Alternative zur Europäischen Union?
Mit dem ganzen Brimborium, das wir oft völlig unnötigerweise in Brüssel aufführen, erwecken wir bei vielen Bürgern innerhalb und außerhalb der EU den Eindruck, als seien wir auf einem Schlachtfeld. In Wahrheit haben wir etwas geschafft, wovon andere nur träumen können. Wir haben aus einem blutigen einen strahlenden Kontinent geschaffen.
Ist für Sie die Zukunft Europas als Friedenskontinent garantiert?
Dass der Frieden eine europäische Tugend sei, wird eigentlich alle zehn Jahre auf fürchterliche Weise dementiert. Wir hatten vor weniger als zehn Jahren Krieg im Kosovo. Davor in Bosnien-Herzegowina. Jetzt in Georgien und Südossetien. Das ist in unserem Vorgarten. An dem Tag, an dem Kinder mit niemandem mehr über ihre eigenen Erfahrungen in Krieg und Frieden reden können, wird sich die atmosphärische Lage in Europa sehr verändert haben. Deshalb muss man heute die europäischen Dinge festmachen, statt sie sich selber zu überlassen. Wenn die europäischen Dinge sich selber überlassen werden, dann werden die Europäer auch verlassen werden. Und weil viele aus den jüngeren Generationen glauben, Friede sei eine ausgemachte Sache, sozusagen eine europäische Tugend, rate ich für die Augenblicke, in denen man an Europa und der Notwendigkeit der europäischen Integration zweifelt, Soldatenfriedhöfe zu besuchen.
Das Gespräch führte Johannes von Dohnanyi
Jean-Claude Juncker verkörpert wie kaum ein anderer den Anspruch vom einigen, friedensstiftenden Staatenbund. Der 53-jährige polyglotte Christdemokrat wirkte federführend am Maastrichtvertrag mit, ist Chef der Euro-Gruppe und lenkte schon zwei EU-Ratspräsidentschaften. Der Luxemburger gilt neben dem ehemaligen britischen Regierungschef Tony Blair, dem irischen Premier Bertie Ahern und dem belgischen Ex-Premier Guy Verhofstadt als Kandidat für den Posten des EU-Ratspräsidenten, der mit dem Vertrag von Lissabon neu geschaffen würde. Doch der neue Grundlagenvertrag der Europäischen Union wurde am 12. Juni in der Volksabstimmung in Irland abgelehnt. Ob er jemals in Kraft tritt, ist offen.
Foto: Picture Alliance
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