- Wie Viktor Orbán Ungarn putinisiert
Viktor Orbán zerstört Ungarns Demokratie systematisch. Schritt für Schritt schränkt er Freiheitsrechte ein, während die demokratische Opposition sich selbst zerfleischt. Und die EU schaut tatenlos zu, wie ihr Mitgliedsland abdriftet
Der Chef steigt die Stufen der Kanzel hinauf, legt seine Mappe aufs Pult und blickt einen Augenblick schweigend in den Saal. Dann beginnt er zu sprechen. Seine Stimme klingt noch ernster und fester als gewöhnlich. Während er auf die Zuhörer blickt, hebt er den Kopf weit hoch. So wirkt er visionär, strahlt noch mehr Autorität aus.
„Chef“ – so nennen sie parteiintern den ungarischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden des „Bundes Junger Demokraten“, Fidesz. Gerade ist Viktor Orbán im Parlament von den Abgeordneten seiner Partei als Regierungschef wiedergewählt worden, hat feierlich den Eid auf Ungarn und die Verfassung abgelegt. Nun hält er seine Antrittsrede – Budapest, am 10. Mai 2014, das Staatsfernsehen überträgt natürlich live.
Schon die ersten Sätze sind gewaltig. Orbán erklärt sich zum Machthaber über die Worte. Jede neue Regierung, sagt er, müsse bei ihrem Amtsantritt sicherstellen, dass die Worte in ihrer richtigen Bedeutung benutzt würden, sonst herrsche Unordnung, und sie könne nicht präzise handeln. Nachdem Orbán dies klargestellt hat, bedankt er sich bei seinen Wählern und seinen Parteifreunden für das Wahlergebnis – ein Ergebnis, das die Tradition des Unabhängigkeits- und Freiheitskampfs im „tausendjährigen ungarischen Staat“ fortsetze. Dann knöpft sich der Regierungschef die Opposition vor.
Eine Nation wird zur Heimatliebe erzogen
Parteiintern hat es in den Wochen zuvor Diskussionen darüber gegeben, ob man mehr auf die sozialistisch-liberale Opposition zugehen solle. Nun erklärt Orbán die Opposition für null und nichtig und gibt den Wertekanon Ungarns vor: „Wir haben genug debattiert, jetzt ist es an der Zeit zu arbeiten. Mit ihrem Votum haben die Wähler bekräftigt, dass die ungarische Wirtschaft nicht auf Spekulation, sondern auf Arbeit basieren soll. Dass wir statt nach den Doktrinen des Liberalismus im Geiste der gegenseitigen Verantwortung handeln. Dass wir für die Bewahrung unserer nationalen Unabhängigkeit kämpfen, statt uns den globalen Kräften zu unterwerfen. Dass wir unsere Kinder zur Heimatliebe statt zum Internationalismus erziehen. Ich werde jede Politik, die das tausendjährige Ungarn auf dem Altar der Vereinigten Staaten von Europa opfern will, als gefährlich für das ungarische Volk und als extremistisch betrachten.“
Bis heute ist Orbáns Rede im Ausland so gut wie unbeachtet geblieben. Genau wie die Maßnahmen, mit denen er den Staat in den folgenden Monaten veränderte. Formal ist das Land eine Demokratie. Praktisch regiert Orbán in autoritärem Stil – gedacht und gemacht wird, was der Chef vorgibt und wünscht. Vielfach agiert der Staat unberechenbar und willkürlich, setzt sich über Befugnisse und geltendes Recht hinweg. Flankiert wird das Ganze von nationalistisch-ungarozentristischer Rhetorik.
Ungarn sei inzwischen eine „gelenkte Demokratie“, urteilt der ungarisch-amerikanische Politologe und ehemalige US-Regierungsberater Charles Gati, den Orbán einst hoch verehrte und als seinen Mentor bezeichnete. Die ehemalige EU-Kommissarin für Justiz und Grundrechte, Viviane Reding, in der Europäischen Volkspartei immerhin Parteifreundin von Orbán, spricht von einer „Putinisierung Ungarns“ und einer „systematischen Gleichschaltung, wie sie in totalitären Regimen stattfindet“. Der linke Budapester Philosoph Gáspár Miklós Tamás, einer der brillantesten Denker in Mittelosteuropa, sagt, der Charakter der Orbán-Regierung werde vielfach verkannt – sie sei in Wirklichkeit „autoritär, chauvinistisch, xenophob und rechtsextrem“.
Selbst manchen Fidesz-nahen Intellektuellen ist die Lage in Ungarn bisweilen nicht mehr geheuer. „In der Tat wendet Orbán viele überraschende, von westeuropäischen Bräuchen abweichende Maßnahmen an“, sagt der Politologe Ágoston Mráz, der das Budapester Meinungsforschungsinstitut Nézöpont leitet. „Aber das haben die Wähler Staatsmännern wie de Gaulle auch gestattet und sie dafür wiedergewählt. Wenn in Ungarn dennoch etwas problematisch ist, dann nicht die Demokratie, sondern der Mangel an politischem Wettbewerb.“
Vom Musterreformland zur schleichenden Gleichschaltung
Welch ein Wandel: Vor zweieinhalb Jahrzehnten war Ungarn das Musterreformland in Osteuropa. Damals zogen viele westeuropäische und amerikanische Politologen es als Beispiel für einen irreversiblen Demokratisierungs- und Transformationsprozess heran. Das hat sich als großer Irrtum erwiesen.
Seit Orbán im April 2010 die Parlamentswahl mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewann, hat er Ungarn radikal umgekrempelt. Im Staats- und Verwaltungsapparat sowie im öffentlichen Dienst fand ein flächendeckender Eliten- und Personalwechsel statt. Die öffentlich-rechtlichen Medien wurden gleichgeschaltet, Lokalverwaltungen und öffentlicher Dienst weitgehend unter Regierungskontrolle gestellt. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde beschnitten, das Verfassungsgericht mit regierungstreuen Richtern besetzt, ein Wahlgesetz geschaffen, das Orbáns Partei Fidesz begünstigt.
Ordnungspolitisch ließ Orbán vieles einführen und umsetzen, was ursprünglich die rechtsextreme Jobbik-Partei forderte: eines der strengsten europäischen Strafgesetzbücher, ein Gesetzespaket zur drastischen Disziplinierung von Sozialhilfeempfängern, von denen sehr viele Roma sind, eine gelockerte Selbstjustiz sowie Kompetenzerweiterungen für Bürgerwehren.
Auch ideologisch rückten Orbán und seine Partei immer weiter nach rechts: Durch die Reden des ungarischen Regierungschefs und anderer Fidesz-Spitzenpolitiker zieht sich seit langem eine Ungarn-über-alles- und Ungarn-den-Ungarn-Rhetorik; mit ihren Tiraden gegen „Spekulanten“ und das „internationale Finanzkapital“ wecken sie antisemitische Ressentiments. Orbán selbst attackiert Brüssel permanent als „neues Moskau“, die EU-Kommission als „Reichsbürokratie“, Europa sieht er als dekadenten Kontinent, der an zu viel Einwanderung, Toleranz und Atheismus krankt.
Chef gibt die Linie vor
Wer irgendeine Illusion über Orbán hatte, den belehrte der ungarische Regierungschef im Juli dieses Jahres eines Besseren – mit einer Rede im rumänischen Ba˘ile Tus¸nad, wo Politiker der ungarischen Minderheit Rumäniens jedes Jahr eine Sommeruniversität veranstalten, zu der auch Orbán regelmäßig anreist: In Ungarn seien die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts und der Wohlfahrtsstaat nunmehr abgeschafft, verkündete er. An ihrer Stelle würden ein „illiberaler Staat“, eine „illiberale, nationale Demokratie“ und eine „Arbeitsgesellschaft“ aufgebaut, ein Staat, der sich künftig mehr an „nichtliberalen oder nichtdemokratischen Erfolgsnationen“ wie Russland, China, Singapur, Indien und der Türkei orientieren werde als an der EU.
Wenige Wochen nach dieser Rede folgten Taten: Anfang September stürmten Polizeieinheiten die Büros der Budapester Stiftung Ökotárs und einer kleinen Nichtregierungsorganisation. Beamte beschlagnahmten Unterlagen und Computer der beiden Vereinigungen, angeblich hätten sie Gelder veruntreut. Der Hintergrund: Die Ökotárs-Stiftung vergibt im Auftrag des norwegischen Staatsfonds Norway Grants, der osteuropäische NGOs unterstützt, Projektgelder an ungarische Aktivisten. Darunter seien vor allem Regierungskritiker, wirft die ungarische Regierung Norwegen seit langem vor. Aber selbst nach derzeitiger ungarischer Gesetzgebung sind die Razzien illegal.
Doch der „Chef“ hatte wieder einmal die Linie vorgegeben: In seiner Rede in Ba˘ile Tus¸nad hatte Orbán ungarische NGO-Mitarbeiter pauschal als „bezahlte politische Aktivisten“ diffamiert. Es sei wichtig, hatte er verklausuliert gedroht, dass beim „Umbau Ungarns von einem liberalen zu einem nationalen Staat deutlich wird, wer die wahren Charaktere hinter den Masken“ von NGO-Leuten seien.
Nicht ohne Grund hatte Orbán über NGOs gesprochen – sie sind die letzte unabhängige Instanz und Autorität in Ungarn, die den politischen und sozialen Zustand des Landes glaubwürdig kritisch analysiert. Die demokratische Opposition hingegen braucht Orbán nicht zu fürchten: Sie versinkt immer tiefer in einem weitgehend selbst verschuldeten Zerfleischungsprozess und ist durch acht Jahre sozialistisch-liberaler Misswirtschaft von 2002 bis 2010 noch immer diskreditiert.
Es war kein Geringerer als US-Präsident Barack Obama, der sich zu den Razzien gegen die Budapester NGOs äußerte. Er nannte Ungarns Umgang mit NGO-Mitarbeitern als Negativbeispiel in einer Reihe mit China, Russland und Aserbaidschan. „Von Ungarn bis Ägypten ist die Zivilgesellschaft zunehmend Ziel von endlosen Vorschriften und offener Einschüchterung“, sagte er. Kurz darauf verhängte die US-Regierung Einreiseverbote gegen sechs hochrangige ungarische Beamte und Unternehmer wegen des Verdachts der Korruption – eine für ein EU-Land beispiellose Maßnahme.
Orbán hat dies wenig beeindruckt. Vielmehr präsentierte er sein neues Vorhaben – ein Gesetz für eine Internetsteuer. Mit der geplanten Steuer hätte sich der Internetzugang für viele Ungarn deutlich verteuert, sodass ihn sich Ärmere nicht mehr hätten leisten können; durch Zugriff auf Nutzerdaten bei der Steuererhebung hätte die Regierung einen besseren Überblick über das Nutzerverhalten gehabt; nicht zuletzt sollten private Internetanbieter vom Markt gedrängt werden – für sie wäre dann der Staat eingesprungen. Schon heute ist das Internet für viele Ungarn das einzige freie Medium in einer weitgehend gleichgeschalteten Medienlandschaft.
Nichts außer kosmetischen Zugeständnissen
Das ging den Ungarn denn doch zu weit. Zehntausende Menschen über alle Parteigrenzen hinweg demonstrierten landesweit gegen die Steuer. Und Orbán gab – erstmals in seiner politischen Karriere – klein bei. Jedenfalls vorläufig. Denn er plant, die Steuer nächstes Jahr im Zuge einer „nationalen Konsultation“ doch noch einzuführen.
Immerhin hat der Streit um die Internetsteuer dazu geführt, dass die EU-Kommission nach langer Zeit ihr Schweigen zu Ungarns antidemokratischen Abwegen brach. Die scheidende Kommissarin für Digitales, Neelie Kroes, etwa bewertete die Steuer als Bestandteil wachsender Freiheitseinschränkungen in Ungarn.
Zuletzt hatte die EU 2012 Ungarn für seine demokratischen Defizite kritisiert und unter anderem Änderungen am Mediengesetz, an der Verfassung und im Justizwesen gefordert. Orbán blieb gelassen und reagierte mit kosmetischen Zugeständnissen.
Die Verstöße der Orbán-Regierung gegen demokratische Grundwerte waren vor zwei Jahren noch Anlass dafür, dass die EU zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Debatte darüber führte, ob das sogenannte Artikel-7-Verfahren zu reformieren, es also zu ermöglichen sei, Mitgliedstaaten schneller und härter zu sanktionieren. Die Debatte blieb jedoch aufgrund der vielschichtigen Interessenlage in der EU ohne Folgen.
Die EU ist müde
Vor allem in der EVP-Fraktion, dem Zusammenschluss der konservativen Parteien, dem auch CDU und CSU angehören, braucht man Ungarn als Partner. Orbán hat sich dort erfolgreich als Garant gegen die Machtübernahme der rechtsextremen Jobbik-Partei und für Stabilität verkauft. Nach Meinung vieler EVP-Politiker begründet: Immerhin hat sich Jobbik als zweitstärkste politische Kraft Ungarns etabliert und bekam in den Parlaments- und Kommunalwahlen dieses Jahr jeweils rund 21 Prozent.
„Insgesamt ist die EU müde geworden“, sagt der Soziologe Pál Tamás von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. „Sie hat andere Probleme als Ungarn, innere Probleme, Probleme in Westeuropa, zugleich ist sie in die Ukrainekrise gestolpert und kann sie nicht lösen. All das ist radikal schwerwiegender als Orbán.“
Dennoch gibt es in der Union auch prominente Mahner, die davor warnen zu ignorieren, was in Ungarn stattfindet. „Wenn wir das einfach geschehen lassen“, sagt die ehemalige EU-Kommissarin Viviane Reding, „macht das Beispiel eines Tages Schule.“
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