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Festtagsalternative - Weißwein zur Weihnacht

Der Festtagsbraten verlangt Ohrensessel-Weine, gehaltvoll, komplex, ausdauernd – und rot. Unsere Autorin ändert ihre Strategie: Sie probiert es diesmal mit Weißwein

Autoreninfo

Bergmann, Lena

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Der Rotwein gehört zum Winter wie der Rauschebart zum Weihnachtsmann, lehrt das deutsche Bildungsbürgerbrauchtum. In dieser Hinsicht war auch ich konservativ. Von der Ankunft der ersten Flocken bis zu jener der ersten Knospen sah man mich in vergangenen Jahren nach 17 Uhr nur selten ohne einen großen Kelch in der Hand. Das Rot darin meist mit Tendenz zur Tinte – denn ich liebe meine Weine effektiv: Nach zwei Gläsern sollten sie mich mit der Welt versöhnt haben. Das heißt: Ich sollte einen Zustand erreicht haben, den ich „die angenehme Grunddichte“ nenne. Und dann ab ins Bett.

Und dann kam alles anders. Es begann an einem nasskalten Oktobertag. Nach der Arbeit lenkte sich mein Auto wie automatisch zu einem guten Berliner Weinladen, wo ich mich vor dem Regal mit Cabernet Sauvignon aus
Kalifornien wiederfand. Wahrscheinlich deshalb, da ich aus finanzieller Vernunft gerade eine Einladung meiner Schwägerin ins Napa Valley ausgeschlagen hatte. Die Arbeit getan, die Hauptstadt grau, der Mann verreist: Eiche, mindestens 14,5 Prozent, dachte ich mir. Da entdeckte ich das Etikett auf einer Flasche Chardonnay von Lewis Cellars, rund, ein schwarzes „L“ mit festlichen Serifen auf goldenem Untergrund.

Die angenehme Grunddichte


Sofort war ich in Gedanken bei einem anderen regnerischen Abend. Mein Mann und ich, noch kinderlos und frei. Ein Wolkenbruch hatte uns in einem Fischerdörfchen in Neuengland Zuflucht in der Bar eines kleinen Hotels suchen lassen. Zum Wetter empfahl uns der Kellner eben diesen Lewis, der uns schon nach wenigen Schlucken tief in die Sessel am Kamin massierte. Mit seiner öligen Textur unsere Kehlen streichelnd, verlangsamte der Wein unser Gespräch, was wir als sehr angenehm empfanden.

Für mich war dieser Chardonnay ein Schlüsselerlebnis. So glücklich hatten mich bisher sehr besondere Rotweine gemacht. Da war sie, meine angenehme Grunddichte, diesmal kam sie in tiefem Gold. Dazu diese spezifische Geschmacksnote, die ich heute als jene von im Eichenfass ausgebauten Chardonnays kenne. Kein anderer Weißwein schmeckt ähnlich.

Warum beraten Weinläden nicht nach Wirkung?


So verließ ich den Weinladen an diesem Tag nicht mit einem Cabernet, sondern mit einer Kiste Chardonnay von Lewis – für deren Preis ich mir allerdings auch fast ein Ticket nach Kalifornien hätte leisten können. In diesem Winter, so beschloss ich, würden mich nur die Weißen wärmen – zum Nikolaus, an den Adventssonntagen und unterm Weihnachtsbaum.

Oft habe ich mich gefragt, warum Weinläden ihr Angebot nicht nach Wirkung auffächern, sondern nach Rebsorten und Regionen. Warum berät einen niemand bezüglich der vielen grundverschiedenen Arten der Trunkenheit, die sich durch den Konsum von Wein erzielen lassen? Warum regelt man das nicht wie in der niederländischen Cannabis-Industrie? Wer schon einmal in Amsterdam Marihuana gekauft hat, dem ist sicher angenehm aufgefallen, dass die Menükarten der Coffeeshops ihr Sortiment nach Effekt aufschlüsseln: „Sanftes, fröhlich stimulierendes High“. „Ebenso wunschlos wie reglos“. „Euphorisierendes, kommunikatives High“. Diesen Service wünsche ich mir auch vom deutschen Weinhandel.

Es sollte Standard werden, dass man als Kunde sagen kann: Lieber Weinhändler, ich brauche mal einen Expertenrat.

Kommunizieren will ich heute nach Feierabend nicht mehr, dafür mein Buch zu Ende lesen, etwa 70 Seiten Richard Yates. Ich will mit meinem Mobiliar eins werden. Dabei soll der Wein geschmacklich nicht stehen bleiben. Ich darf morgen keinen Kater haben. Nach zwei großen Gläsern will ich in mein Bett. Mit der angenehmen Grunddichte. Verstehen Sie?

Bei meinem Bekannten Guido Walter, Weinhändler in München, stößt mein Anliegen sofort auf Verständnis. Leider hat er seine Idee, ein Buch über unterschiedliche Wirkungsgrade von Alkohol zu schreiben, verworfen. Aber er berät mich am Telefon: „Du willst also keinen Sprinter.“ Ein Sprinter, erklärt er mir, ist ein typischer Vernissage-Wein. „Einer, der gleich da ist. Und dann kommt auch geschmacklich nicht mehr viel hinterher.“ Also ein Wein, der frisch, fruchtig und vordergründig ist. Dies sind die Eigenschaften, die man gemeinhin mit Weißwein assoziiert.

Weißer Favorit mit Wintertauglichkeit


Weine dieser Art befeuern Partys, Stehempfänge und Boutique-Eröffnungen, sind animierend und halten das Energielevel oben. Sie brauchen keine Essensbegleitung, sind sogenannte „Solo-Sipper“ zum unkomplizierten Runterschütten und können durchaus schmecken. Aber sie sind nicht das, was ich suche. Sie sind nicht meditativ. Sie rufen keine Gelassenheit hervor. Ich suche im Wein die Entspannung. Gerade jetzt, im Winter.

„Du suchst Ohrensessel-Weine“, sagt Guido. „Vielschichtige Weine, die deine Neugier halten. Gehaltvoll und konzentriert. Dies sind natürlich eher Rotwein-Attribute.“ Er schickt mir drei seiner weißen Favoriten in dieser Kategorie, die ich in den folgenden Tagen auf ihre Wintertauglichkeit teste. Für meine 70 Seiten Richard Yates zum Beispiel hat mir Guido einen Chardonnay „Tiglat“ von Heinz Velich am Neusiedlersee empfohlen, den ich – wo sonst – in meinem Ohrensessel verkoste. Beim Lesen halte ich mich grundsätzlich an reinsortige Weine, denn aus Erfahrung weiß ich, dass sich bei einer Cuvée auch die Gedanken bald zu einer solchen mischen. Im Glas tiefes Goldgelb mit Bronzestich, ein Chardonnay, wie ich ihn liebe: Getoastete Eiche, Textur ölig. Aprikose, Vanille, Haselnuss, Rosenblüte. Ich muss nur alle vier Buchseiten einen Schluck nehmen, so lange dauert der Nachhall.

Klar wie der Klang der Glocke


Am nächsten Morgen katerfrei, abends dann einen Blanc de Noir, so nennt man einen Weißwein, der aus roten Trauben hergestellt wird. In der Champagnerproduktion gang und gäbe, gilt dieses Verfahren bei stillen Weinen noch als Experiment. Der junge Winzer Benedikt Baltes gilt als experimentierfreudig, und mit dem „Blanc de Noir R“ des Weinguts Stadt Klingenberg hat er einen wahren Exoten auf die Flasche gezogen. Eleganter Rosé-Schimmer im Strohblond. Ein Schluck, und ich stehe im Wald: Duftende Nadelhölzer, Moos, gleichzeitig Frische. Derselbe Sinneseindruck, der mich beim Joggen im heimatlichen Taunus die Zivilisation vergessen lässt. Ein Wein wie ein deutsches Mittelgebirge. Und doch – höre ich da nicht ein Flattern? Nach längerer Zeit im Glas offenbart sich der Paradiesvogel, der im „R“ steckt: Karamell, Zitrus, Tropenfrüchte. Sicher ein guter Begleiter zu thailändischem Essen – aber eben auch zum Rehrücken oder zum Hirschgulasch, beteuert Guido am Telefon.

Am Mittwoch habe ich das Alleintrinken satt und lade mir eine bürogestresste, ausgehungerte Single-Freundin ein. Sie ist offen für alles. Für ein Käsefondue, zum Beispiel. Und noch eine dritte Frau ist an diesem Abend präsent: Die Winzerin Eva Fricke, die uns mit ihrem „Lorcher Schlossberg Riesling“ einen geschmeidigen Gruß aus dem Rheingau nach Berlin schickt: die Reichhaltigkeit einer Auslese, auch etwas von deren Süße. Klar wie der Klang der Glocke des Kirchturms in Kiedrich. Aprikose, Kirsche und ein leichtes Mousseux, das dem Käse die Schwere nimmt. Ein Langstreckenläufer, der es spielerisch mit einem Pfund Gruyère aufnehmen kann, ohne seine Komplexität zu verleugnen. Ohne sich unterzuordnen. Der Lorcher Schlossberg ist ein emanzipierter Wein. Und sehr Ohrensessel-tauglich. Zum Glück habe ich derer zwei, in die meine Freundin und ich uns mit einem letzten Schluck zurückziehen.

Am nächsten Morgen leichte Ausfall­erscheinungen. Weckruf vom Postboten: Eine weitere Guido-Sendung, unangekündigt. Ihm sei da noch so ein Champagner eingefallen, „Cuvée Louis“ von Tarlant, halb Chardonnay, halb Pinot Noir, mit seinen Brioche-Noten perfekt zur Gans mit Semmelfüllung – was zu meinen Plänen für Weihnachten passt.

 

 

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