- Das Restaurant am Ende der Wildnis
Die Gastronomie-Szene blickt staunend nach Skandinavien. Dort hat der 27-jährige Magnus Nilsson das Spitzenrestaurant "Fäviken Magasinet" eröffnet – mitten in der Wildnis
New Nordic Cuisine heißt der neueste Trend in der Gastronomie: Gerichte aus Naturprodukten, die regional angebaut, frisch geerntet oder geschlachtet und meist roh verzehrt werden. Kochkunst mit Nachhaltigkeitsanspruch, sozusagen.
Die Neue Nordische Küche wird meist gleichgesetzt mit René Redzepi und seinem Kopenhagener Restaurant Noma. Doch es gibt einen weiteren, mindestens ebenso begabten und sogar noch jüngeren skandinavischen Spitzenkoch, der in der Abgeschiedenheit der schwedischen Wildnis, knapp unterhalb des Polarkreises, ganz Erstaunliches leistet.
Magnus Nilsson, 27, verbrachte seine Lehrjahre in zwei der besten Pariser Restaurants, dem L’Astrance und dem L’Arpège. Nun betreibt er in einer uralten Scheune ein kleines Lokal namens Fäviken Magasinet, von dem aus man über einen See auf ein 8400-Hektar-Privatgrundstück blickt. Fäviken liegt abgelegen und abwegig in der schwedischen Provinz Jämtland, die an Lappland grenzt; ein geschmackvoller Rückzugsort, umgeben von unberührter Wildnis und schneebedeckten Gipfeln, rund 600 Kilometer nordwestlich von Stockholm. Es ist das vermutlich abgeschiedenste Spitzenrestaurant der Welt. Bären durchstreifen das Umland, auch wenn man nur ganz selten einen zu Gesicht bekommt; eher schon erblickt man einen der Wölfe, die durch die angrenzenden Wälder streunen.
Kulinarisch gesehen ist Fäviken ein Paradies, wegen der Fülle an frischen, teils wilden Naturprodukten, die man gleich vor der Haustür bekommt: Forelle, Aal, Elch, Feldhase und Birkhuhn, aber auch eine verlockende Vielfalt von Pilzen, Kräutern und Gemüsearten. Von einer nahegelegenen Insel bei Trondheim in Norwegen werden riesige Jakobsmuscheln und Hummer geliefert, am Rande des Grundstücks produziert „Mr. Duck“ Geflügelfleisch. Über 100 weitere Zulieferer sorgen mit ihren köstlichen Naturprodukten dafür, dass die opulente Speisekammer des Restaurants stets gut gefüllt ist.
In weniger als drei Jahren hat sich Fäviken Magasinet in der Spitzengastronomie einen Namen gemacht; auf der San-Pellegrino-Rangliste der 100 weltbesten Restaurants landete es auf Platz 71. Nilsson ist überzeugt: In Stockholm hätte er das alles schon nach einem einzigen Jahr geschafft. Doch inzwischen ist Fäviken so berühmt, dass die bis zu zwölf Gäste pro Abend mit Privatjets einfliegen, um Nilssons Kochkunst zu genießen und fischen zu gehen, Auerhähne zu jagen oder einfach in den Wäldern zu wandern.
Auf polierten Granitplatten servierter Fischrogen
Fävikens Küche ist weder karg noch minimalistisch, und ihre einzigen importierten Zutaten sind Zucker, Salz, Essig und eine beeindruckende Auswahl an Weinen und Kaffee. „Viele erwarten so etwas Ähnliches wie das Noma. Doch so viele Gemeinsamkeiten gibt es gar nicht. Wir achten wahrscheinlich noch stärker darauf, regionale Spitzenprodukte zu verwenden, als die es tun“, sagt Nilsson. „Unsere Küche ist schlicht, aber präzise. Und es gehört schon fast zum Ritual, nichts im Voraus zuzubereiten. Wir hängen das Fleisch direkt über den Grill, und das ist das Einzige, was wir damit machen. Ich gehe lieber ein größeres Risiko ein und erziele – meistens jedenfalls – ein besseres Ergebnis.“
Natürlich steigert die Abgeschiedenheit von Fäviken die Konzentration und Erwartung. Doch es sind vor allem die Verwegenheit und zugleich äußerste Schlichtheit von Nilssons Gerichten, die einen Trip dorthin zu etwas Besonderem machen. Sobald man an dem kleinen Komplex von traditionellen Gebäuden eintrifft, bekommt man ein traumhaftes Begrüßungspicknick aus geräucherter Forelle, deftiger, hausgemachter Pastete, Käse, selbstgemachten Konfitüren, frischgebackenem Brot und frischer Butter sowie einer Schüssel Möweneiern. Das ist zwar nichts im Vergleich zu dem, was später folgt – doch es versetzt einen in den richtigen Gemütszustand: hochwertige Naturprodukte, ebenso gradlinig wie unvergesslich dargeboten.
Bei unserem Besuch in Fäviken wurde der erste Gang des Abendmenüs auf polierten Granitplatten im Erdgeschoss eines alten Kornspeichers aus dem 18.Jahrhundert serviert: Rogen von Wildforelle in einem winzigen Zylinder aus getrocknetem Schweineblut, der eine fast pergamentartige Konsistenz hatte; dazu knusprige Flechten, Scheibchen von gepökeltem Schweinebauch und, um das Ganze abzurunden, frittierte Drosselköpfe, die wir ganz aufaßen, bis auf den Schnabel.
Anschließend führte uns eine steile Treppe hinauf in den oberen Speisesaal, wo getrockneter Fisch, Schweinshaxen, mit Schimmelkruste umhüllte Würste und Kräuterbunde von den Dachsparren herabhingen. Im Hintergrund spielte lebhafte Volksmusik. Der Hauptgang war genauso außergewöhnlich wie die Vorspeisen, angefangen bei den im eigenen Saft gegrillten Jakobsmuscheln, die auf einem Bett von Birken- und Wachholderzweigen serviert wurden, bis zu den riesigen Hummern auf geröstetem Getreide, dem hausgemachten Käse und der mit schwarzer Johannisbeere getränkten Crème Brulée, die einen herrlichen Karamellgeschmack hatte. Dazu gab es regionales Bier und superbe Weine aus den begehrtesten burgundischen Anbaugebieten.
Die nächsten zwei Gerichte klingen etwas bizarr, wenn nicht schwierig, doch wir haben sie mit sichtlicher Zufriedenheit vollständig aufgegessen. Das erste bestand aus dünnen Scheiben von rohem Rinderherz, begleitet von frisch geriebener Karotte und zerkochtem Rückenmark, effektvoll aus großen Knochen gewonnen, die auf den Tischen zerhackt wurden. Anschließend wurde Ziegenleber mit in Honigwein mariniertem Nackenfleisch auf Wachholder und Thymian serviert. Zugegeben, das klingt eher nach einer durchgedrehten Schlachthaus-Fantasie, doch so war es nicht. Zum Dessert gab es Kuchen aus Pinienrinde mit gefrorener Butter, die vor unseren Augen in einem alten Holzfass zubereitet wurde, und geschlagenes Entenei mit Himbeerkompott.
Ein neuer Heston Blumenthal?
Magnus Nilsson wird inzwischen zu internationalen Kochevents eingeladen, doch auch wenn wir seine Gerichte schon außerhalb von Fäviken gegessen haben – die kulinarischen Höhenflüge, zu denen er in seinem eigenen Restaurant anhebt, sind anderswo nicht möglich. Er weiß das, ist aber überzeugt, seine Botschaft auch jenseits der zwölf Gäste pro Abend verbreiten zu müssen. Nilsson glaubt fest daran, dass es ein nachhaltiges Interesse an Neuer Nordischer Küche gibt, auch wenn er weiß, dass sie wohl nicht so einflussreich sein wird wie der Modernismus eines Heston Blumenthal oder eines Ferran Adrià mit seinem derzeit geschlossenen Restaurant El Bulli.
„Ich denke, für ein oder zwei Jahre werden sich alle auf die Neue Nordische Küche stürzen, dann wird das Interesse wieder nachlassen. Das Neue verliert schnell seinen Reiz, was schade ist, auch wenn wir jetzt von der Aufmerksamkeit profitieren“, sagt Nilsson. „Ich werde aber genauso kochen, wenn wir nicht mehr im Trend liegen. Es ist die einzige Art zu kochen, die ich beherrsche.“
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