Kurz und Bündig - Viola Roggenkamp: Familienleben

Jüdisches Leben in der deutschen Nachkriegs-Gesellschaft scheint bestimmt von bürgerlicher Normalität und historischem Trauma, Holocaust und Achtundsechziger-Aufstand, Dazugehören und Ausgeschlossensein – davon berichtet die dreizehnjährige Ich-Erzählerin Fania in Viola Roggenkamps Debüt-Roman «Familienleben».

Jüdisches Leben in der deutschen Nachkriegs-Gesellschaft scheint bestimmt von bürgerlicher Normalität und historischem Trauma, Holocaust und Achtundsechziger-Aufstand, Dazugehören und Ausgeschlossensein – davon berichtet die dreizehnjährige Ich-Erzählerin Fania in Viola Roggenkamps Debüt-Roman «Familienleben». Zusammen mit ihrer Großmutter Hedwig, Mutter Alma, dem Vater Paul Schiefer und der fast erwachsenen Schwester Vera lebt sie in einer heruntergekommenen Villa im Hamburger Stadtteil Harvestehude. Nach außen hin unauffällig, ist dieser kleine, von Frauen dominierte Kosmos in seinem Inneren ein Gebilde von explosiver Dynamik: Un­ent­wegt wird erzählt und gestritten, in geradezu hysterischen Diskussionen werden historische Erfahrungen wie die Diskriminierung der Juden vermengt mit dem Sechs-Tage-Krieg als aktuellem Ereignis und dem ritualisierten Schlagabtausch zwischen den Ge­nerationen. Denn wenn «Fami­lienleben» auch aus der Perspektive Fanias erzählt wird und deren Entwicklung vom Kind zur Frau den Rahmen der erzählten Zeit absteckt, ist doch jede der vier Frauen in dieser Geschichte eine Hauptfigur, ei­ne Königin. Und doch erscheint der Vater als einziger Mann und Nicht-Jude neben so­ viel Frauen-Power nicht etwa als Schwächling, im Ge­gen­teil: Er ist der umworbene Fremdling, dessen Größe darin besteht, dass er seiner Frau neidlos zu Glanz verhilft. Diese Konstellation ist kennzeichnend für die Erzählhaltung der Autorin: Roggenkamp bedient weder schlichte Freund-Feind-Sche­ma­ta, noch begnügt sie sich mit politisch oder ideologisch eindimensionalen Zuord­nungen. Stattdessen gelingt es ihr, durch eine Fülle einander wechselseitig spiegelnder, aufeinander verweisender De­tailgeschichten deutlich zu machen, wie das Zugleich von Tradition und Erneuerung, Au­torität und Rebellion, Intimi­tät und Fremdheit zur Basis einer eigenständigen Entwicklung werden kann. Wenn Fania einmal anmerkt, dass «Vera und ich uns sowieso nur schlecht an das erinnern können, was zu unserer eigenen Vergangenheit gehört, dafür können wir detailliert aus dem Leben un­serer Eltern erzählen, wir kennen Zusammenhänge und Namen von Leuten, die wir nie kennen gelernt haben», dann liegt darin kein Aufbegehren, weil ihnen etwa die eigene Geschichte vorenthalten worden wäre. Zum Ausdruck kommt darin vielmehr, dass der all­gegenwärtige Erzählstrom, der die­se Familie durchzieht, eine Form von Zugehörigkeit und Geborgenheit vermittelt, die Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen nicht etwa verei­telt, sondern begünstigt. Das gilt besonders für die Funktion der Mutter-Figur: Gerade durch ihre Stärke, die sie offensiv auslebt, fördert sie in ihrer quir­ligen Spontaneität letztlich das Selbstvertrauen ihrer beiden Töchter. Davon profitiert schließlich auch der Roman von Viola Roggenkamp, die sich als Publizistin schon mehrfach mit dem Holocaust und jüdisch-deutschem Leben be­schäf­tigt hat. Mutig folgt sie den beiden jungen Mädchen bei ihren erotischen Erkundungen, sinnlich präzise bis an Scham- und Tabugrenzen. So erzählt «Familienleben» nicht nur anschaulich von jüdisch-deutschem Leben, sondern ist auch als Zeugnis der Aben­teuer weiblicher Sozialisation aktuell.

 

Viola Roggenkamp
Familienleben
Arche, Zürich/Hamburg 2004. 437 S., 23 €

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