- Wenn Tierrechtler dogmatisch werden
Kolumne: Zwischen den Zeilen. Auch Wissenschaftler sind nicht frei von Dogmatismus. Gerade in der aktuellen Diskussion um Tierrechte ist eine Art Ideologisierung darwinistischer Positionen zu beobachten
Auf den Stufen vor dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße sitzt sie. Beziehungsweise steht sie. Und hackt. Die einbeinige Krähe kämpft mit den Überresten einer Stulle. Eine Taube wackelt herbei, hält ehrfürchtig Abstand. Einbeinige Krähe schlägt zweibeinige Taube. Eine zweite Taube taucht auf. Immer noch kein Eingreifen. Sie stehen zu zweit da und gucken blöd. Einbeinige Krähe schlägt zwei zweibeinige Tauben. Und wir reden hier von Bahnhofstauben, also den verruchten, zotteligen, nimmersatten, eigentlich mit allen Wassern gewaschenen Tauben.
Schließlich sind es fünf bescheuert glotzende Bahnhofstauben, die der einbeinigen Krähe das Futter überlassen. Einbeinige Krähe schlägt fünf zweibeinige Tauben. Die Gleichung ließe sich beliebig fortsetzen. Und während ich mich frage, wie viel dämliche Bahnhofstauben es wohl braucht, um einer einzigen einbeinigen Krähe das Futter streitig zu machen, schießt ein dicker Spatz ins Bild und pflückt sich wieselflink eine Brotkrume heraus. Die Krähe zuckt kurz. Die Tauben gucken weiter blöd.
Wenn dieses kurze Kammerspiel exemplarisch für das Ökosystem Bahnhof ist, müssten doch strenggenommen über kurz oder lang die einbeinigen Krähen die zweibeinigen Täubchen verdrängen. Zumindest an Bahnhöfen. Aber die Natur, die Evolution, ist dann doch irgendwie komplizierter.
Was auf den ersten Blick als Makel erscheint (das fehlende Bein), muss in einem anderen Umfeld kein Nachteil sein. Die Krähe ist vielleicht auf natürlichem Krähengebiet benachteiligt, auf Bahnhöfen scheint sie der Taubenkonkurrenz allerdings meilenweit voraus.
Warum ich das erzähle? Weil ich in letzter Zeit immer häufiger auf Menschen treffe, die behaupten, über die Natur Bescheid zu wissen. (Ich weiß es nicht und die Bahnhofstauben offensichtlich auch nicht.) Unter den Naturverstehern sind (Achtung Klischee!) häufig Veganer, die nicht nur auf tierische Produkte verzichten, sondern oftmals auch politische Rechte für Tiere fordern. Ein im Grunde löblicher und nachvollziehbarer Wunsch. Wenn ich mir dann aber das dahinterstehende Theoriegebäude angucke, stürzt das gut gemeinte Konstrukt dann doch irgendwie in sich zusammen.
Das darwinistische Dogma
Denn gar nicht mal so selten enden die Tiere-brauchen-Rechte-Diskussionen bei brennenden Häusern oder sinkenden Booten. (Wunderbar auch die Massentierhaltung-Holocaust-Vergleiche) Gemeint sind die in der Philosophie gängigen Gedankenexperimente, die das Handeln von Menschen in Extremsituation simulieren und aus denen sich wiederum ethische Positionen ableiten lassen.
Peter Singer, australischer Philosoph und bekennender Utilitarist, ist einer der oft zitierten Ethiker, wenn es darum geht, die Grenze zwischen Menschen und Tieren abzuschaffen. Er würde bei einem solchen Gedankenexperiment eher ein Kätzchen als ein behindertes Kind aus einem brennenden Hause retten. Denn die Katze habe aus utilitaristischer Sicht ein größeres Verlangen nach Zukunft.
Singer bedient sich dabei des sogenannten „Präferenzutilitarismus“. Hierbei bemisst sich der moralische Wert einer Handlung daran, inwieweit eine Entscheidung maximales Leid minimiert und maximale Freude initiiert. Weil das klassisch utilitaristische Kosten-Nutzen-Kalkül so furchtbar ökonomisch klingt, erweitert er es einfach um die moralisierende Kategorie „Leidensfähigkeit“. Das Ergebnis ist dasselbe: Lupenreine Selektion.
Lebewesen bilden also nicht mehr wie noch bei Kants liberaler Ethik die natürliche Grenze für das Handeln anderer, sondern können im Gegenteil dem Gesamtnutzen geopfert werden. Kein Zweifel: Der Hardcore-Utilitarist würde die zweibeinige Taube aus dem brennenden Haus der einbeinigen Krähe vorziehen. Blöd nur, wenn er sie anschließend dann in Bahnhofsnähe aussetzen würde.
Ein anderer Theoretiker, den Tierrechtler gerne ins Feld führen, ist der britische Evolutionsbiologe und Staratheist Richard Dawkins: Der riet neulich einer schwangeren Frau via Twitter, die wissen wollte, was sie mit ihrem Embryo mit Down-Syndrom tun solle: „Abort it and try again. It would be immoral to bring it into the world if you have the choice.“ Zu deutsch: Abtreiben und nochmals versuchen.
Autsch. Dawkins bedauerte zwar wenig später, eine „verkürzte Ausdrucksweise verwendet zu haben“. Blieb sich inhaltlich aber treu. Die stetige Auseinandersetzung mit christlichen Fundamentalisten scheinen Dawkins und Co. ins Absolute zu treiben. Kann es sein, dass die Abarbeitung an kreationistischen Positionen selbst zu einer Art Ideologisierung darwinistischer Positionen führt?
Die einbeinige Krähe habe ich im Übrigen nie wieder gesehen. Vermutlich sitzt sie in irgendeinem dieser brennenden Häuser fest, weil irgendein Tierfreund unbedingt die bescheuerte zweibeinige Taube befreien musste.
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