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Streit um Bioethiker - Lasst Peter Singer reden!

Kisslers Konter: Peter Singer relativiert das Lebensrecht von Säuglingen. Deshalb darf eine Veranstaltung mit ihm aber nicht unterbunden werden! Denn auch falsche Meinungen und schlimme Denker müssen in der Öffentlichkeit geduldet werden – um eines höheren Gutes willen

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Neben der Empörungs- gibt es eine Skandalroutine. In beiden Disziplinen herrschen ungekrönte Könige, die wissen, wie man eine Herde steuert oder deren Zorn sich zuzieht. Meister aller Skandalklassen ist, zumindest auf dem Gebiet des öffentlichen Denksports, ein australischer Bioethiker mit österreichischen Wurzeln namens Peter Singer. Er hat sich seinen von der Gegnerseite ins Diskursspiel gebrachten Beinamen „Tötungsphilosoph“ dadurch verdient, dass er die Tötung behinderter Säuglinge durch deren Eltern für „sehr oft überhaupt kein Unrecht“ hält.

Peter Singer: Im posthumanen Sperrgebiet


Ich gestehe: Außerhalb des streckenweise anrührenden Erinnerungsbuches „Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien“ las ich keine Zeile von Peter Singer, die mich intellektuell beeindruckt oder menschlich eingenommen hätte. Singers moralische Darlegungen zeigen, dass oft die Bioethik die letzte Ausfahrt ist für Philosophen, die vor der strengen Arbeit am Begriff zurückschrecken. Und sie sind an vielen Stellen von einem erschütternd rohen Pragmatismus. Singer zeigt in aller Öffentlichkeit das düstere Ende zweckrationalen Denkens: Es landet im posthumanen Sperrgebiet, im Vorhof der Barbarei.

Dabei vereint Singers Denken Voraussetzungen, die in anderen Kontexten skandaluntauglich sind, ja als Ausweis hochmoderner Reflexionskunst gelten. Wenn er etwa den Begriff des Lebens durch jenen der Lebensqualität ergänzt wissen will und hierbei Abstufungen vornimmt, fiele ihm kaum ein Bischof ins Wort. Auch kirchlicherseits wird gerne angesetzt zum Lob der Lebensqualität.

Oder aber wenn er für vollgültiges Menschsein die Fähigkeiten voraussetzt, Schmerz empfinden und Gedanken artikulieren zu können: Sagen denn unsere stabil im Mainstream angelnden Adepten der menschlichen Autonomie und des selbstbestimmten Sterbens etwas gar so Anderes?

Der menschliche Speziesismus


Drittens führt auch eher in die Mitte denn die Ränder unserer Gesellschaft, was Singer zum Ethos der Tierhaltung zu sagen hat. Er sieht in den Affen echte Brüder des Menschen, kämpft für Vegetarismus und gegen Tierversuche, deutet die Menschenwürde nicht als Anker unserer Rechtsordnung, sondern als Ausdruck gattungsspezifischen Hochmuts, den er Speziesismus nennt. Er konturiert eine gattungsübergeifende „Gemeinschaft der Gleichen“, über deren Zugehörigkeit „Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein“ entscheiden sollen.

Viertens plädiert er für die absolute Oberhoheit der Frau über den in ihr wachsenden Embryo, findet weder an Abtreibung noch Pränatalforschung etwas auszusetzen, da das Set menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten beim Embryo noch nicht ausgebildet sei.

Mögen die Singer’schen Grundannahmen falsch sein und töricht, meinetwegen sehr falsch und absolut töricht – außergewöhnlich sind sie in unseren Breitengraden, unserem Äon keineswegs. Wer sich über Singer rechtschaffen empört, müsste auch seine eigenen Einstellungen zum absoluten oder relativen Wert des menschlichen Lebens auf die Anklagebank setzen: Radikaler Utilitarismus und zugespitzte Interessenethik begegnen uns auf vielen Feldern. Zum Skandal wird erst die Nutzanwendung.

Singer schlägt vor, Menschen erst ab dem 28. Tag nach ihrer Geburt das volle Lebensrecht zuzusprechen. Er beruft sich auf eine „Idee aus dem antiken Griechenland“, und „in Japan war es lange völlig normal, Kinder zu töten, wenn Geburten zu dicht aufeinander folgten“ – sagt Singer. Von den Vordenkern der Vernichtung, die im Dritten Reich die Euthanasieprogramme zu legitimieren halfen, sieht er sich dadurch unterschieden, dass nur die Eltern, nie Staaten über das Lebensrecht der Neugeborenen entscheiden sollen dürfen.

Peter-Singer-Preis für Peter Singer


Es bleibt ein monströses Gedankenexperiment, das sich selbst richtet. Kein Tier wird besser behandelt, kein Schwein weniger geschlachtet, wenn Geburtsklinik und Kinderkrematorium Hand in Hand arbeiten. Und welche Mutter reichte dazu wirklich die Hand? Insofern ist es keine falsche Intuition, wenn ein Auftrittsverbot für Peter Singer gefordert wird. „Kein Forum für den ‚Euthanasie‘-Befürworter Peter Singer!“ heißt das Motto. Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der „Grünen“, fordert einen „Aufstand der Anständigen“. Unterstützung unterhält sie aus den Reihen der Linkspartei, der CDU und der Behindertenverbände. Ein überparteiliches Bündnis der Menschenwürde will die Absage einer Veranstaltung mit Peter Singer erreichen.

Diesem soll am Dienstag kommender Woche in Berlin der erstmals ausgelobte „Peter-Singer-Preis“ verliehen und ein Scheck über 10.000 Euro überreicht werden. Die vollendete Tautologie eines Singer-Preises für Singer macht deutlich, dass wir es mit einem hermetischen und selbstreferentiellen kleinen System zu tun haben.

Der gemeinnützige „Förderverein des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung“ mit Geschäftsstelle in Mainz, initiiert von dem Tierrechtsaktivisten Walter Neussel, erklärt hierzu, Singer habe „unzweifelhaft“ mit seinem Buch „Befreiung der Tiere – eine neue Ethik zur Behandlung der Tiere“ eine „grundsätzliche und folgenreiche Strategie zur Minderung von Tierleid entwickelt.“ Beim Preisträger und Preisnamensstifter handele es sich um den „meistbeachteten und weltweit honorierten Philosophen der modernen Tierbefreiungsbewegung“.

10.000 Euro wegen reinen Quarks


Die Laudatio soll der Publizist Michael Schmidt-Salomon halten, Vorstandssprecher der weitgehend in der Versenkung verschwundenen „Giordano-Bruno-Stiftung“ – einer Gemeinschaft der religionskritischen Altvorderen, die gerne den Schulterschluss probt zum radikalen Tierschutz und so den Kirchen als den Sachwaltern von Menschenwürde und Lebensschutz eins auswischt.

Ebenfalls 10.000 Euro erhielt Singer (gemeinsam mit der Philosophin Paola Cavalieri) bereits im Juni 2011 in Frankfurt am Main geschenkt. Auch damals war es ein frisch aus der Taufe gehobener Preis, der „Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung“, auch damals waren „Verdienste um die Tierrechte“ das offizielle Motiv, besonders im Rahmen der Bewegung „Menschenrechte für Menschenaffen“. Im „Manifest des evolutionären Humanismus“ der Bruno-Stiftung heißt es, es „wäre kaum zu begründen, würde man die Interessen der Tiere (...) nur deshalb geringer gewichten, weil die dahinterstehenden Individuen nicht Mitglieder unserer eigenen Spezies sind“. Das ist reiner Quark von Singers Quark.

Es wäre eine Niederlage, Singer das Wort zu verbieten


Sollen wir also unserer Intuition nachgeben und alles dransetzen, dass die Veranstaltung am 26. Mai in der Berliner „Urania“ abgesagt wird? So schwer es fällt: Nein.

Auch mitleidlose Zyniker und schlimme Denker haben, solange sie zu keiner Straftat aufrufen, dasselbe Recht, ihren Unsinn zu verbreiten wie etwa Angela Merkel ihre Mär von der Alternativlosigkeit des Euro. Wir müssen, ich muss Singer aushalten. Wir müssen Peter Singers krude Auffassungen tolerieren – inhaltlich ablehnen, aber in der Öffentlichkeit dulden um der höheren Einsicht willen in ein größeres Gut, die Freiheit unseres republikanischen Zusammenlebens. Nicht respektieren, nicht gutheißen, nicht unkommentiert an uns vorbeiziehen lassen. Tolerieren aber doch.

Es ist immer eine Niederlage, kein Triumph der Demokratie, wenn misshellige Meinungen zum Schweigen gebracht werden. Es wäre eine Niederlage, Peter Singer das Wort zu verbieten.

Die Losung kann nur heißen: Singer reden lassen, ihm zuhören, ihm widersprechen, energisch und fundiert, gesittet und geschärft. Die Wahrheit setzt sich durch auf offenem Feld – und sie stirbt in den Hinterzimmern, wohin all jene abgedrängt werden sollen, die mit keinem Applaus rechnen.

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