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Siedlungsrecht - Der ethische Universalismus stößt an seine Grenzen

Kolumne Grauzone: Es ist eine Pflicht, Menschen in bedrängten Situationen zu helfen. Doch die globalisierte Moderne ist den Herausforderungen eines grenzenlosen Siedlungsrechtes nicht gewachsen 

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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Schon jetzt ist klar: Im November wird die Zahl der Flüchtlinge einen neuen Höchststand erreichen. Bis einschließlich letzten Dienstag zählte die Bundespolizei nach Angaben der „Welt“ 192.827 Migranten. Angesichts dieser Zahlen und der begleitenden Debatte ist es sinnvoll, sich einmal prinzipielle Fragen zu stellen. Das trägt nicht unmittelbar zu einer Lösung bei, kann aber helfen, die Gedanken zu sortieren – und vor allem Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Eine der vielen unausgesprochenen Fragen, die in den derzeitigen Diskussionen mitschwingen, aber selten klar formuliert wird, lautet: Ist es nicht anachronistisch und im schlimmsten Fall nationalistisch, Menschen die Aufnahme in die eigene Gemeinschaft, das eigene Staatswesen zu verweigern, nur weil sie nicht die passende Staatsangehörigkeit haben? Gibt es nicht ein Menschrecht auf uneingeschränkte Siedlungsfreiheit?

In der universalistischen Tradition der klassischen Aufklärung, so wird mitunter suggeriert, wäre die Frage mit einem klaren „Ja“ zu beantworten: Jeder Mensch hätte demnach im Grunde das Recht, überall auf diesem Planeten uneingeschränkt zu siedeln. Schließlich sind alle Menschen gleich. Eine Einschränkung dieses Rechts wäre nichts anderes, als Ausdruck von Diskriminierung, Ethnozentrismus oder egoistischer Wohlstandwahrung.

Demgegenüber steht das Recht der aufnehmenden Gemeinschaft, zu bestimmen, wer zu ihr gehören darf und wer nicht. Welches Recht ist nun höher zu veranschlagen? Oder variiert es, je nach Migrationsgrund? Gilt es für politisch Verfolgte, nicht aber für Menschen, die aus wirtschaftlicher Not fliehen?

Unterschiedliche Rechte
 

Als eine der größten Errungenschaften der Aufklärung gilt der ethische Universalismus, also die Überzeugung, dass allen Menschen, jederzeit und an jedem Ort, ungeachtet ihrer Herkunft, die gleichen Rechte zustehen.

Doch Rechte sind nicht gleich Rechte. Es gibt unterschiedliche Rechte. Grundlegend sind die Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat oder der Gemeinschaft, etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder freie Meinungsäußerung. Solche Rechte gelten als unveräußerliche und universale Rechte jedes Individuums.

Dem gegenüber stehen Leistungsrechte, die das Individuum gegenüber der Gemeinschaft hat. Diese sind nicht unumstritten, da die Gewährung solcher Rechte eine Einschränkung der Rechte Dritter darstellt. Ein unbeschränktes weltweites Siedlungsrecht wäre ein Leistungsrecht in diesem Sinne.

Von der Theorie zum Problem
 

In der Aufklärung wurde die Frage eines universalen Siedlungsrechtes kaum diskutiert, sieht man von Kants Problematisierung des „gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde“ in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ ab. Das hat zunächst historische Gründe: Das Bürgertum war vor allem an der Durchsetzung von Abwehrrechten gegenüber der absolutistischen Monarchie interessiert.

Hinzu kommt: Selbst weltgewandte Aufklärer neigten zu einem gewissen Eurozentrismus. Deutlich wird etwa an der zwiespältigen Haltung zur Sklavenfrage bei David Hume oder Voltaire. Und auch die Kolonialisierung, mithin die Landnahme fremder Kontinente durch Europäer, wurde lange Zeit als Recht des Stärkeren wahrgenommen und nicht weiter hinterfragt.

Vor allem aber war der ethische Universalismus, insbesondere ein weltweites Siedlungsrecht, aus technischen, kulturellen und demografischen Gründen bestenfalls ein theoretisches Problem – es stellte sich in der Praxis schlicht und ergreifend nicht.

Für eine zeitgemäße Politik
 

Das änderte sich mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert. Es ist nicht ohne Ironie, dass im Moment der tatsächlichen Globalisierung der ethische Universalismus an seine praktischen Grenzen stößt. Universale Leistungsrechte werden in dem Moment problematisch, wo sie das erste Mal in der Menschheitsgeschichte tatsächlich in Anspruch genommen werden könnten. Der Grund: Da Leistungsrechte das Selbstbestimmungsrecht derjenigen einschränken, die diese Leistung erbringen, gründen sie auf einem vertragsrechtlichen Fundament. Sie sind daher immer partikulare Rechte eines Angehörigen einer bestimmten, klar umgrenzten Gemeinschaft – etwa eines Staatsbürgers gegenüber seinem Staat.

Aus diesem Grund ist auch das Siedlungsrecht kein grenzenloses, universales Recht. Da es jedoch nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gibt, besteht eine Verpflichtung zur Nothilfe für Menschen in bedrängten Situationen – diese Pflicht zur Nothilfe ist allerdings nicht mit einer Pflicht zur dauerhaften Beherbergung gleichzusetzen.

Es gibt kein Zurück hinter die ethischen Standards der Aufklärung. Wir würden uns dabei selbst verraten. Ein ethischer Universalismus ist den Herausforderungen der globalisierten Moderne jedoch nicht gewachsen. Eine zeitgemäße Ethik – und eine zeitgemäße Politik – muss daher um partikuläre und asymmetrische Rechtselemente ergänzt werden. Alles andere wäre nicht nur naiv, sondern ein Verrat am Geist der Aufklärung.

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