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Sexualität in der arabischen Welt - „Um Männer zu verstehen, müssen wir sie erst einmal kennenlernen“

Nach den Ereignissen von Köln wurde viel über die Sexualmoral muslimischer Männer diskutiert. Autorin Shereen Elfeki erforscht seit acht Jahren die Hintergründe der tabuisierten Sexualität in der arabischen Welt und stellt fest, dass der Wandel bereits in vollem Gange ist

Autoreninfo

Riham Alkousaa ist eine syrisch-palästinensische Journalistin. 

So erreichen Sie Riham Alkousaa:

Cicero: Warum fürchten sich so viele Menschen vor der Sexualität arabischer Männer?
Shereen Elfeki: Es ist eine toxische Mischung. Menschen, die sich vor Fremden fürchten, dämonisieren sehr häufig deren Sexualität. Das kennen wir aus der Geschichte. In den sechziger Jahren war das ein typisches Klischee weißer US-Bürger gegenüber männlichen Afroamerikanern. Und die arabische Kultur wurde über tausend Jahre als sexuell ausschweifend und liberal dargestellt. Das hat sich gewandelt: Der Orientalismus ist neu verpackt worden. Heute wird er gegenteilig dargestellt. In der Form, dass Sexualität in der arabischen Kultur so massiv unterdrückt wird, dass es nicht verwundert, solches Verhalten von ihren Männern zu sehen. Niemand wird bestreiten, dass wir sexuelle Tabus, öffentliche Kontrolle und staatliche Zensur haben. Was viele Medien aber nicht abbilden: In einigen Ländern gibt es allmählich Veränderungen. Das hängt auch mit dem politischen Wandel zusammen. Was im Privatleben passiert, wird dort nicht bleiben. Aber es braucht seine Zeit.

Wie meinen Sie das genau?
Nehmen Sie das Beispiel in Ägypten: Frauen werden dort verstümmelt, um deren Sexualität einzuschränken. Die Zahlen gehen aber langsam zurück. Vor 15 Jahren wurden dort noch 95 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren genital verstümmelt. 2008 waren es „nur noch“ rund 75 Prozent, 2014 knapp 66 Prozent. In der ganzen Region kämpfen Menschenrechtsorganisationen für ledige Mütter, für Homosexuelle. Da, wo Regierungen zu starken politischen Druck ausüben, richtet sich der Protest eben gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, gegen Regeln im Privatleben. Es ist nicht einfach, sich gegen derartige Ordnungen aufzulehnen. Aber es passiert.

Fast jede Frau in Ägypten, 99,3 Prozent, wurde schon einmal sexuell belästigt. Wie erklären Sie sich das?
Ja, das stimmt leider. Die meisten dieser Frauen meinten damit verbale Belästigungen. Die sind zwar genauso wenig akzeptabel. Aber es handelt sich eben nicht um sexuelle Gewaltverbrechen, über die europäische Medien diskutieren. Zweifellos hat es Vorfälle von Gruppenvergewaltigungen gegeben. Insbesondere auf dem Tahrir-Platz während der politischen Umwälzungen in den Jahren 2011 und 2013. Diese sind glücklicherweise aber eher die Ausnahme als die Regel.

Sind Medien Schuld daran, dass viele männliche Flüchtlinge als sexuell übergriffig stigmatisiert werden?
Unter den Flüchtlingen sind sehr viele ledige Männer. In Europa entsteht der Eindruck, dass die das Gleichgewicht der Geschlechter stören könnten. Was in der Diskussion verloren gegangen ist: Diese jungen Männer, die aus unserer Region nach Europa kommen, stecken in verzwickten Abhängigkeitsverhältnissen. Sie sind keine glücklichen Junggesellen. Ganze Familien sind von ihnen abhängig. Diese Jungs dürfen es nicht vermasseln.

Es ist doch komisch: Im vergangenen Jahr war das Bild des syrischen Mannes das eines trauernden Vaters. Wir erinnern uns an das Foto des toten Flüchtlingsjungen Ilan Alkurdi am Strand von Kos. Ein halbes Jahr später haben wir ein anderes Bild: männliche Flüchtlinge, die wegen Sexualdelikten einen Gefängnis-Overall tragen und abgeschoben werden sollen. Das ist eine Verschiebung von einem Extrem zum anderen. Und aus diesem Grund brauchen wir mehr Informationen darüber.

Sie meinen über diese Männer, die nach Europa kommen?
Ja. Ich führe eine Studie unter 10.000 Männern und Frauen in vier Ländern der arabischen Region durch. Um männliche Haltungen und Verhaltensweisen zu ändern, müssen wir erst einmal die Motivation ihres Handelns ergründen. Männer sind der Mittelpunkt unserer öffentlichen Welt, die Säulen des Patriarchats. Dennoch wissen wir sehr wenig über sie. Viel weniger jedenfalls, als wir über Frauen wissen.

Haben Sie schon etwas herausgefunden?
In einer früheren Studie zwischen 2009 und 2013 haben wir in mehr als 20 Ländern herausgefunden: Die Vorstellung, dass Männer hart sein müssen, gibt es nicht nur in der arabischen oder muslimischen Welt. In Brasilien sind Krankenhäuser nicht männerfreundlich, weshalb Männer selten dort hingehen oder ihre Frauen dorthin begleiten. Aufgrund dieser Informationen hat das dortige Gesundheitsministerium seine Krankenhäuser umgerüstet und um entsprechende Bereiche für Männer erweitert. Was wir auch an Ländern wie Ruanda, Mali, Bosnien oder Kroatien sehen konnten: Männer, die gewalttätig werden, haben selbst einmal Gewalt erfahren. Dabei spielt es keine Rolle, wo sie auf der Welt sind.

Vor fünf Jahren begann der arabische Frühling. Wenn er auch politisch wenig veränderte – hat er wenigstens mehr sexuelle Freiheiten gebracht?
Ich habe das untersucht, aber festgestellt, dass es falsch ist, eine Verbindung zum arabischen Frühling herzustellen. Es gab keinen Raum für eine gesellschaftliche oder soziale Revolution.

Die Ereignisse von 2011 haben jedoch einen Prozess angestoßen. Obwohl die Regierungen versuchen, diesen Prozess auf politischer Ebene zu stoppen, schreitet er auf persönlicher und individueller Ebene weiter voran. Allein die Tatsache, dass wir jetzt über sexuelle Belästigung in der arabischen Region sprechen, ist ein gutes Indiz dafür. Das gab es vor zehn Jahren noch nicht.

In Ihrem Buch schreiben Sie: Wenn Männer sich selbstbestimmt und verantwortlich fühlen, verändert sich ihr Verhalten gegenüber Frauen drastisch zum Positiven. Ist eine Besserstellung der Frau im arabischen Raum nur möglich, wenn Männer mehr Freiheiten erhalten?
Wenn sich Menschen in ihrem Privatleben freier fühlen, ist es schwieriger, sie im öffentlichen Leben zu kontrollieren. Mein Buch ist sehr beliebt in Indien. Denn dort ähneln die Frauenprobleme denen in der arabischen Region. Indien ist eine Demokratie. Es hat alles, wovon wir im arabischen Frühling geträumt haben: ein Parlament, eine gewählte Regierung, eine relativ freie Presse und das Recht, zu demonstrieren. Wie auch immer lassen sich wenige dieser Formen von Demokratie nicht auf die Familie oder das Privatleben übertragen. In der arabischen Welt sollten wir Dinge im Privatleben ändern, an denen wir in der Öffentlichkeit nicht arbeiten können. Was können Frauen durch ihr Recht zu wählen ausrichten, wenn sie nicht einmal das Selbstbestimmungsrecht über ihre eigenen Körper besitzen? Wie können junge Menschen unsere Gesellschaft anführen, wenn wir ihnen permanent das Recht auf sexuelle Freiheit verwehren? Politik und Privatleben sind eng miteinander verwoben.

Wie das? In Form einer erneuten politischen Revolution?
Die Leute vergessen, dass Europa auch viel Zeit gebraucht hat, sich zu wandeln. Es gab – bildlich gesprochen – keinen Hubschrauber, der plötzlich alle gesellschaftlichen Tabus hinter sich ließ und in die Freiheit flog. Es war ein sehr großes Flugzeug, das eine sehr lange Startbahn benötigte. Diese zu errichten, dauerte Jahrhunderte – politischen und wirtschaftlichen Wandels. In der arabischen Welt haben wir dieses Flugzeug noch nicht. Es gibt auch noch keine Startbahn, über die in der nächsten Generation unsere Flugzeuge abheben könnten. Wenn es soweit ist, werden unsere Flugzeuge womöglich auch nicht in genau dieselbe Richtung fliegen wie die europäischen.

Viele der Flüchtlinge möchten in ihre Heimatländer zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist. Könnte das auch etwas in der Sexualmoral verändern?
Das ist gut möglich. Nach meiner Erfahrung sind sehr oft Frauen die Träger dieses Wandels. So fordern viele weibliche Saudis, die in Europa oder in den Vereinigten Staaten studiert haben, nach ihrer Rückkehr das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper ein. Sie werden unabhängiger und wollen ihre eigenen Entscheidungen treffen. Bei Männern ist das für gewöhnlich nicht so leicht. Sie besetzen in der traditionellen Gesellschaftsstruktur eine privilegierte Position, die sie versuchen aufrechtzuerhalten. Frauen müssen da mehr kämpfen. Frauen sind es, die das Pflänzchen der Veränderung setzen. Frauen sind es auch, die später die Ernte einfahren.

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Shereen Elfeki reiste acht Jahre lang durch die arabische Welt, um mit den Menschen vor Ort über Sex zu sprechen. Frei nach dem Motto: Willst du Menschen wirklich kennenlernen, wirf einen Blick in ihre Schlafzimmer. 2013 erschien ihr Buch „Sex and the Citadel“. Sie vergleicht die Sexualität im arabischen Raum mit einer Zitadelle – kontrolliert, verriegelt, uneinnehmbar. Elfeki untersuchte auch, inwieweit die arabische Revolution sich auf das soziale Leben und die Sexualität vor Ort auswirkte. (Foto: Olivia Harris)

 

Riham Alkousaa hat die ägyptisch-britische Autorin interviewt.

Übersetzung: Nils Leifeld

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