- Im Herzen der Finsternis
Was hinter dem Rauschen der Nachrichten bislang verborgen blieb, das findet erst jetzt seinen Ort in der Literatur. Ronald Düker geht der Frage nach, was uns Romane von den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten erzählen
Es gibt für die Gewalt im Nahen Osten vielleicht keine bessere Chiffre als den libanesischen Bürgerkrieg. Nirgends haben die Fronten zwischen arabischen Nationalisten, militanten Islamisten, Sunniten und Schiiten und dem von außen intervenierenden Militär des Westens einen dichteren Raum durchpflügt als in Beirut, das seiner Schönheit und Eleganz wegen zuvor als Paris des Nahen Ostens galt. Wie auch Bagdad oder Kabul war dies einmal eine kosmopolitische Stadt, in der verschiedene Kulturen und Religionen friedlich nebeneinander existierten. Der schier endlos währende Bürgerkrieg machte auf scheinbar irreparable Weise das längst Gewachsene zunichte. Wer hier eigentlich gegen wen kämpfte und mit welchem Ziel, das war 1989, im vierzehnten und vorletzten Jahr der Gewalt, kaum noch zu ermitteln. Offenbar nährte sich der Hass längst aus sich selbst heraus.
In diesem Jahr schrieb der britische Science-Fiction-Autor J. G. Ballard seine Erzählung «Kriegsfieber», in der er die Kriegsgegenwart futuristisch verzerrt. Beirut, das ist in Ballards Phantasmagorie eine ins Infernalische gewendete Disney World: In der von Stadtplanern als durchschnittliche Metropole entworfenen Stadt (inklusive McDonald’s, Hilton, Holiday Inn und Sportstadion) massakrieren Söldner, Milizen und religiöse Fanatiker einander ohne Sinn und Verstand. Was die Krieger nicht wissen: Beirut ist eine Art «Truman Show» zu wissenschaftlichen Zwecken, denn das durch und durch artifizielle Gelände wurde von den Vereinten Nationen überhaupt erst angelegt – als Versuchslabor. Beirut ist eine Kampfzone ohne Ausweitung. Nur wenn das Wissen um die menschliche Verderbtheit im Krieg studiert und bewahrt werde, so der Beschluss der UN, könne der fragile Weltfrieden auch künftig vor ihr geschützt werden. Dazu also Beirut. Dazu der kontrollierte Ausnahmezustand.
Ballards «Kriegsfieber» erschien vor über zwanzig Jahren, aber erst nach dem 11. September 2001 schoss die Kriegsfieberkurve in die Höhe. Der Nahe und Mittlere Osten ist uns als Haupt-Kriegsschauplatz mittlerweile zur schrecklichen Gewohnheit geworden. Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und nun Mali – zwar unterscheiden sich Anlässe und Gemengelagen, bestimmte immer wiederkehrende Szenen sind aber längst emblematisch geworden: In weite Gewänder gehüllte Rebellen, die mit ihren umgehängten Kalaschnikows auf der Ladefläche eines Toyota-Pickups posieren, ausgebrannte Militärfahrzeuge in der Wüste, Selbstmordattentäter, die sich auf überfüllten Wochenmärkten in die Luft sprengen, die beige-braunen Camouflage-Uniformen der hochgerüsteten Soldaten aus dem Westen – daran haben wir uns gewöhnt.
Und doch scheint es, als seien die Geschichten dieser Kriege längst noch nicht erzählt. Was hinter dem Rauschen der Nachrichten, dem politischen Kommentar, der militär-strategischen Analyse oder kultur- und religionskämpferischen Polemik bislang verborgen blieb, das findet erst jetzt (und mit einer dem Medium gemäßen Verzögerung) seinen Ort in der Literatur. Soeben erscheinen Abbas Khiders «Brief in die Auberginenrepublik», Fawwaz Haddads «Gottes blutiger Himmel», Linus Reichlins «Das Leuchten in der Ferne» und «Die Sonne war der ganze Himmel» von Kevin C. Powers. So viel Himmel? Womöglich sollen die kitschigen Romantitel die Verkauf der Bücher befördern, sie deuten aber noch auf etwas anderes hin: Der Bezug aufs allumspannende – und unseren kleinen Menschensorgen gegenüber wohl gleichgültige – Firmament kündigt an, dass es in dieser Literatur nicht um Parteinahmen oder vereindeutigende Erklärungen gehen kann. Das Rätsel des Krieges zu lösen, ist nicht die Aufgabe von Romanen.
«Das Leuchten in der Ferne» von Linus Reichlin ist von diesen Büchern das einzige rundum missglückte. Dabei meint es der Autor, der bislang vor allem mit unterhaltsamen Kriminalromanen hervorgetreten ist, durchaus ernst. Sein Protagonist Moritz Martens ist ein in Berlin lebender Kriegsreporter und schon länger auf dem absteigenden Ast. Kaum noch Aufträge, allgemeine Weltfremdheit: Seitdem er in allen möglichen Krisen- und Kriegsgebieten der Welt, auch in Afghanistan, dem Tod ins Auge geschaut hat, findet er sich in der komfortablen Normalität seines deutschen Alltags kaum mehr zurecht. Er will weg. Zurück in den Ausnahmezustand, der ihm allein die Freiheit verspricht. Zum Glück trifft er die geheimnisvolle Fotografin Miriam Khalili, die aus Afghanistan stammt und nun wüste Versprechungen macht. Im Hindukusch habe sich eine Frau, die als Junge erzogen worden sei, eine sogenannte Bacha Posh, leichtsinnigerweise den Taliban angeschlossen. Nun ziehe sie in Männerkleidung mit einer Gruppe bärtiger Kämpfer durch die Berge. Zu dieser Frau könne Miriam ihn, Martens, führen. Wie sich zeigt, ist alles gelogen. In Afghanistan liefern sich die beiden einem Taliban-Führer aus, der sich aber nicht nur als Miriams Verwandter entpuppt, sondern auch deren Exmann als Geisel gefangen hält. Die Geschichte ist verwickelt.
Die Taliban indessen hat Reichlin aus der gröbsten Schablone gesägt. Dass sie immerzu rauchen, verstößt gegen ein selbst auferlegtes Gesetz. Aber sie müssen ja auch auf kalten Lehmböden schlafen und überhaupt allerhand entbehren. Vielleicht, so räsoniert Reichlins Protagonist, sind die Mudschaheddin ja «nicht die Letzten einer alten Zeit, sondern die Ersten einer neuen. Es war durchaus möglich, dass in fünfzig, siebzig Jahren Männer wie sie in Städten wie Paris, London und Berlin regierten, mit der Hand auf dem Koran und die Gesetze der Scharia vollziehend. (…) Man musste sich nur die demografischen Daten ansehen.» So ist «Das Leuchten in der Ferne» nicht zuletzt ein Thesenroman mit xenophobem Hintergrundrauschen.
Wie Linus Reichlin lebt auch Abbas Khider in Berlin, im Unterschied zu ihm weiß dieser aber durchaus Genaueres über die Gegenstände seines Schreibens (siehe Interview S. 32). Der 1973 in Bagdad geborene Schriftsteller wurde als Abiturient beim Verteilen politischer Flugblätter erwischt und saß zwei lange Jahre in Saddam Husseins Gefängnissen. Dort wurde er mit Elektroschocks gefoltert. Davon handelte sein hoch gelobter Roman «Die Orangen des Präsidenten»; dessen ebenfalls autobiografisch geprägter Vorgänger «Der falsche Inder» erzählte von Khiders Flucht aus dem Irak und seiner jahrelangen Irrfahrt durch den Mittelmeerraum. Ohne Pass hatte sich der Schriftsteller in Jordanien, Libyen, Tunesien, der Türkei, Griechenland und Italien durchgeschlagen. Vor zwölf Jahren landete er schließlich in Deutschland und lernte in kurzer Zeit die Sprache so gut, dass ihm gleich sein erster auf Deutsch verfasster Roman den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis eintrug. Khiders soeben erschienener «Brief in die Auberginenrepublik» ist ein Briefroman der buchstäblichen Art.
Ein Brief, geschrieben von einem in Libyen lebenden Exil-Iraker und adressiert an dessen in Bagdad verbliebene Geliebte, ist der eigentliche Protagonist des Romans. Da es am Vorabend des ersten Golfkriegs unmöglich scheint, das Schreiben auf dem Postweg zu versenden, ohne dass der irakische Geheimdienst es in die Finger bekäme, muss Salim einen besonderen Service in Anspruch nehmen. Gegen die Zahlung des unanständigen Portos von 200 Dollar bringt Salim den Brief zu einem Landsmann, einem Reisebüroleiter, der auf verschlungenen Wegen auch die Post der irakischen Exilanten in die Heimat organisiert.
Das Schicksal eines Briefs zwischen Absender und Empfänger: In dieser genial einfachen Romankonstruktion zeichnet Abbas Khider ein vielstimmiges Gesellschaftsbild. Jedes Kapitel hat einen eigenen Erzähler und dieser, gemäß dem Bildungs- und Erfahrungshorizont der jeweiligen Figur, seinen ganz eigenen Ton: der Bauarbeiter, der Taxi- und der LKW-Fahrer, der Reisebüroleiter, der Sicherheitspolizist, der irakische Oberst mit direktem Draht zu Saddam Hussein – und seine Frau, die das Schriftstück zuletzt in die Finger bekommt und beschließt, die betroffene Familie vor Schwierigkeiten zu bewahren. Schließlich ist der Geheimdienst dem klandestinen Postweg längst auf die Schliche gekommen. Wenn Khider den Oberst sprechen lässt, der seine Familie liebt, im Dienst aber für grausame Misshandlungen verantwortlich ist, dann schöpft der Schriftsteller aus Erfahrungen, die er mit seinen Folterknechten ganz unmittelbar gemacht hat. Woher er trotzdem die Empathie nimmt, eine solche Figur nicht als monströsen Täter darzustellen, sondern als in sich zerrissenen Vertreter der waltenden Verhältnisse, diese Frage zielt ins Herz des Überlebens-Geheimnisses dieses Autors.
nächste Seite: Die Suche nach dem verlorenen Sohn
Hatte der Irak unter Saddam aber schon den denkbar schlimmsten Ausnahmezustand erlebt? Wie das Land im dritten Golfkrieg völlig außer Kontrolle geriet und schließlich zum Hauptschauplatz des islamistischen Terrorismus wurde – davon erzählen die Romane von Fawwaz Haddad und Kevin C. Powers.
«Vater, glaubst Du an Gott?», lautet die Gretchenfrage, auf die Haddads Ich-Erzähler im Nachhinein lieber weniger ausweichend geantwortet hatte. Der ihn gefragt hatte, war sein eigener Sohn Samer, gerade dem Schulalter entwachsen und am Anfang einer beruflichen Karriere, die sich im bürgerlichen Milieu von Damaskus gewöhnlich nach westlichem Muster gestaltet hätte. Aber nein, der Vater glaubt nicht an Gott, hatte er doch als radikaler Student nächtelang über Haupt- und Nebenwidersprüche diskutiert und vom Sturz des Imperialismus geträumt. Zuletzt aber übersah er den aufkeimenden, ganz anders gearteten Idealismus seines Sohnes: Das Fasten, die kleine Wallfahrt nach Mekka – als Samer aber plötzlich verschwindet, informiert ihn erst der Geheimdienst vom Ernst der Lage. Da ist Samer bereits im Irak, wo er sich einer al-Qaida-Gruppe um den gefürchteten Abu Musab az-Zarqawi angeschlossen hat.
Von der Suche nach dem verlorenen Sohn handelt dieser Roman. Der Vater reist in den Irak, lässt sich vom amerikanischen Militär helfen, wohnt in der grünen Zone von Bagdad und erfährt das Elend aus nächster Nähe. Autobomben, heillos überfüllte Lazarette, aber auch die Gräueltaten, die vor allem von privaten amerikanischen Sicherheitsfirmen verübt werden, das Gefängnis von Abu Ghraib: Immer tiefer stößt der Ich-Erzähler vor ins Herz der Finsternis, provoziert schließlich seine eigene Entführung und gelangt auf Umwegen in die Gefangenschaft von al-Qaida. Hier sitzt er dem berühmten Terroristenführer az-Zarqawi auf einmal in einer Höhle gegenüber und begegnet am Ende auch Samer. Kurzum: Der Handlungsverlauf sprengt den Rahmen des Wahrscheinlichen. Angestrengter wirkt aber Haddads Bemühen, die Dinge stets von allen Seiten zu beleuchten. Den religiösen Fanatikern von al-Qaida wird ein fundamentalistischer Militärprediger auf Seiten der Amerikaner gegenübergestellt, die Radikalisierung des Sohnes trägt Züge der politischen Vergangenheit des Vaters. Das Böse gibt es also auf allen Seiten, und schließlich ist ein weltanschauliches Grundsatzgespräch auch zwischen einem Atheisten und dem al-Qaida-Führer möglich – all das scheint leider allzu gut gemeint.
Kevin C. Powers hingegen will zur Völkerverständigung ganz offenbar gar nichts beitragen. «Die Sonne war der ganze Himmel» heißt der atemberaubende Debütroman dieses Irak-Kriegs-Veteranen, der, den autobiografischen Indizien nach, ungefähr 1983 geboren sein muss, auch wenn der Verlag sein Alter nicht verrät. Als Maschinengewehrschütze war Powers zwei Jahre lang im irakischen Mosul und Tal Afar stationiert, und so ergeht es auch seinen Protagonisten John und Daniel. Die sind 21 und 18 Jahre alt und haben sich aus freien Stücken für die Armee und diesen Krieg entschieden. Es ist ein Krieg, der beide zerreißen wird. John und Daniel beherrschen die arabischen Wörter «Shukran», «Afwan» und «Qumbula» (Danke, Bitte, Bombe) und feuern in unübersichtlichem Gefecht auf ihre Gegner, die im Jargon der amerikanischen Soldaten einfach nur die «Haddschis» sind. Durch Angst und Amphetamine betäubt, können die beiden nur um Menschen trauern, die sie persönlich gekannt haben. «Alle anderen Toten in Tal Afar», sagt der Ich-Erzähler John, «waren in unseren Augen Teil der Landschaft». Dieser Krieg ist aber kein Videospiel. Die Gräuel, die die Soldaten sehen und anrichten, ziehen sie immer weiter in den Albtraum.
Der jüngere von beiden, Daniel, verliert zuerst die Nerven. Er entledigt sich seiner Kleidung und läuft den Feinden in der belagerten Stadt wie ein nacktes Gespenst in die Arme. John wird den zu Tode Gefolterten am nächsten Tag dort im Staub finden, die Gliedmaßen verrenkt, die Extremitäten abgeschnitten. Dass John die Leiche in den Fluss wirft, um die unerträglichen Todesumstände des Kameraden zu verschleiern, bringt ihn nach seiner Rückkehr nach Amerika ins Militärgefängnis.Doch sind ihm die dort üblichen Begriffe von Moral, Ehre und Strafe zutiefst fremd geworden. Angesichts des Ausnahmezustands, den er als Kampf in seinem Innern mit nach Hause genommen hat, haben die alten Gewissheiten ihren Mittelpunkt verloren. «Jenseits der Bäume», so wundert sich John bei einem Blick aus dem Fenster, «drehte sich die Welt ahnungslos weiter, verschloss die Augen vor unserem kleinen, miesen Krieg.» Kevin C. Powers ist mit diesem Roman etwas Grandioses gelungen: Er hat teilgenommen an diesem kleinen, miesen Krieg, und er hat zu einer Sprache gefunden, die dem Horror auf den Grund geht. Er ist im Krieg zu einem Anderen geworden.
Vielleicht muss man, um den Krieg zu begreifen, genau deshalb diese Romane lesen: Sie sind das Andere der sogenannten Wirklichkeit und bringen zum Vorschein, was sonst unsagbar bliebe. Powers, Haddad, Khider, Reichlin – keiner dieser Autoren ist so weit gegangen wie J. G. Ballard, der den Krieg in den Fiebertraum von einem psychologischen Laborversuch übersetzte. Doch zeichnet jeder dieser Romane ein ganz eigenes Bild. Das kann missglücken, wenn Linus Reichlins Taliban-Roman vor allem Karikaturen hervorbringt, es kann unterhaltsam sein wie bei Fawwaz Haddad, der das Phantom eines al-Qaida-Führers in die naturalistische Nahaufnahme zoomt. Es kann, dank Abbas Khiders Fabulierkunst, eine ungeahnte Leichtigkeit bekommen oder durch Kevin C. Powers’ psychologischen Scharfsinn die Innenansicht eines heillos Traumatisierten eröffnen. Kurzum: Es ist, ob es gut geht oder nicht, den Versuch wert. Mit der Waffe der Fiktion erklärt die Literatur dem Krieg den Krieg.
Lesen Sie auch das Interview mit Abbas Khider bei Cicero Online.
Kevin C. Powers
Die Sonne war der ganze Himmel. Roman
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. S. Fischer, Frankfurt 2013. 240 S., 19,99 €
Fawwaz Haddad
Gottes blutiger Himmel. Roman
Aus dem Arabischen von Günther Orth. Aufbau, Berlin 2013. 352 S., 22,99 €
Abbas Khider
Brief in die Auberginenrepublik. Roman
Edition Nautilus, Hamburg 2013. 155 S., 18 €
Linus Reichlin
Das Leuchten in der Ferne. Roman
Galiani, Berlin 2013.
300 S., 19,99 €
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