lesen: Journal - Mit Molière in Amerika

Da erblassen alle Kehlmänner: Peter Carey schickt ein ungleiches Männerpaar in die Jahre des revolutionären Beginns der Moderne – ein fulminantes Schelmenstück über Stand und Würde. Roman

In der Mitte dieses grandiosen Epos – wir haben bereits die Französische Revolution, Napoleons Diktat, die Rückkehr der Bourbonen sowie manche abenteuerliche Überfahrt und Flucht durchgestanden – begegnet sie plötzlich, «jene für dieses Land so unvermeidliche Apparatur, dieses grässliche Monument demokratischer Ruhelosigkeit – ein Schaukelstuhl». Olivier de Garmont, ein liebenswürdig eitler Snob, sichtlich nach dem Bilde und der Biografie von Alexis de Tocqueville modelliert, übersieht in seiner Interpretation wie stets das Wichtigste: Was der Schaukelstuhl nämlich eigentlich symbolisiert, das ist die Poetologie von «Parrot und Olivier in Amerika» selbst. Einem stolzen Boot gleich steuert diese ruhelose Erzählung, die sich vor keinem der epischen Denkmäler des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zu verstecken braucht, über das Auf und Ab der Wellen, parodiert mit dem Genie eines Dickens die wohl berühmteste Reise nach Amerika.

Historische Akkuratesse und selbstbewusste Autonomie sind dabei zu einem Ornament verschlungen. So ist etwa Oliviers Anliegen ganz originalgetreu das Studium amerikanischer Strafanstalten, die wir in einer Michel Foucaults würdigen Weise auch zu sehen bekommen. Eigent­lich aber sind dem Adligen Amerikas Segnungen völlig schnuppe, denn der wirkliche Grund der Reise ist, dass die besorgten Eltern ihn, das Muttersöhnchen, im egalitär brodelnden Frankreich aus der Schusslinie nehmen wollen. Wie der lebensuntaugliche «französische Kommissär» nun überheblich durch das Reich der Barbaren stolziert und bald Herz wie Verstand verliert, einzig darauf aus, der Geliebten Molières hofkritischen «Tartuffe» im Original zu rezitieren, den es aber in ganz New York nicht gibt – das ist so randvoll mit geistreicher Tändelei und ironischem, ja: brüllend komischem Witz, dass alle Kehlmänner erblassen müssten. Schließlich schafft es dieses Buch auch noch, zugleich ein gewiefter aktueller Kommentar zu sein – von morscher Häuserarchitektur bis hin zu dem, «was Amerikaner ihren Mägen einverleiben».


Ein Plädoyer für das Wagnis der Kunst

Wir hängen also am Scharnier der Moderne, schaukeln zwischen Alter und Neuer Welt, zwischen Demokratie und Monarchie, zwischen dem brutal pragmatischen homo oeconomicus und dem lieblich verknöcherten Feudal-Adel, doch mehr als alles andere stellt Peter Careys Roman die ideologiesprengende Kraft der Freund­schaft ins Zentrum. Die wichtigste Abweichung von den geschichtlichen Begebenheiten nämlich bildet die Ersetzung des standesgleichen Mitreisenden Tocquevilles durch einen Schalk erster Güte: den fast fünfzigjährigen, dem gemeinen englischen Volk entstammenden Diener Parrot, der samt unberechenbarer Frau und unverwüstlicher Schwiegermutter die große Fahrt antritt.

Gemeinsam führt das ungleiche Paar das alte Spiel von Narr und König auf, allerdings in einer närrischer werdenden Welt: Alternierend berichten sie ihre Version der Geschichte, die jeweils voller charmanter Demütigungen des anderen steckt, zumal Olivier auch an Parrots hübscher Frau Gefallen findet. Der aus dem Fälscher­milieu stammende, welterfahrene Diener ist seinem Brotgeber «Lord Migräne», welcher ihm gleichwohl immer mehr ans Herz wächst (wie auch umgekehrt), bis zuletzt intellektuell überlegen; doch nicht nur das, denn Parrots eigentliches Talent liegt im Zeichnerischen. So eröffnet sich zunehmend eine weitere Dimension – vielleicht die Einzige, die hier ganz ernst gemeint ist, denn am Horizont dieser Geschichte leuchtet ein furioses Plädoyer für das erfüllende Wagnis der Kunst.

Carey erfindet das Erzählen nicht neu, aber er führt mit diesem brillant übersetzten Wunderwerk die von Swift über Sterne und Dickens führende Tradition des satirischen Realismus in einer Weise fort, dass man ihm dafür – auf der Shortlist stand es bereits – den dritten Man Booker Prize gern gegönnt hätte. 

 

Peter Carey Parrot und Olivier in Amerika
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2010. 560 S., 24,95 €
 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.