Hilal Sezgin und Axel Brüggemann haben Bücher über die Provinz geschrieben, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Eines setzt auf die gänzlich unraffinierte Mischung von Großmutters Kochrezepten und Tiergeschichten während das andere Sex und Gewalt zum Thema auf dem Land macht.
Es ist erstaunlich, wie wenig es braucht, um die neu erwachte Sehnsucht der Deutschen nach dem Ländlichen zu befriedigen. Die Auflage des Magazins Landlust ist gerade dabei, die des Stern einzuholen – und das mit einer gänzlich unraffinierten Mischung aus Großmutters Kochrezepten, Tiergeschichten und Heimwerkertipps. Das entspricht in etwa auch den Themen von „Landleben“, dem gerade erschienenen Selbsterfahrungsbuch der Publizistin Hilal Sezgin. Es ist, um es vorwegzunehmen, eine sehr langweilige Lektüre.
Der Großstadt überdrüssig, verwirklicht sich die 36-Jährige einen Lebenstraum und bezieht ein Backsteinhaus tief in den Kartoffelfeldern der Lüneburger Heide. Und dort geschieht: nicht viel. Seitenweise werden Dinge im Gartencenter gekauft, werden Freundschaften mit den Anwohnern geschlossen und Einmachgläser mit Kompott gefüllt. Vor allem aber werden Tiere angeschafft. Denn Sezgin liebt Tiere, auch wenn das Zusammenleben manchmal schwierig ist: Die Gänse zwicken die Schafe, einige werden vom Fuchs gefressen, und Thorsten, dem Hahn, sterben drei Zehen ab. Zwischendurch räsoniert die Autorin über das Landleben früher und heute, über vegetarische Ernährung, Tierethik oder das Schaf an sich. Dies alles trägt sie mit großem Ernst und journalistischer Präzision vor. Das ist sympathisch und handwerklich elegant, liest sich aber wie die überlange Rundmail eines reisenden Freundes. 268 Seiten lang sitzt man im Tiergehege einer gebildeten Vegetarierin fest und fragt sich: Where is the beef?
Anders hingegen der Musikjournalist Axel Brüggemann, der auftischt, was man sich mangels Ereignissen auf Hilal Sezgins Hof insgeheim wünscht: Sex und Gewalt. In „Landfrust“ macht er sich auf die Suche nach den Tatsachen hinter der deutschen Neo-Landromantik und dekonstruiert mit sicherem Reporterinstinkt für schmutzige Geschichten die Illusion der heilen Welt im Hinterland.
Er tut das in drei nebeneinanderlaufenden, mundgerecht proportionierten Erzählformen: eine fiktive Kurzgeschichte, Reisereportagen aus der Provinz und schließlich Rechercheblöcke, die eine finstere Bilanz ziehen. Kluge Frauen treten hier die Landflucht an, Bauern gehen pleite, Kirchen und Schulen machen dicht, Dorfgemeinschaften zerbröseln, und zurück auf dem Land bleiben Bürger, mit denen kein Staat mehr zu machen ist: fremdenfeindliche Seniorenzirkel und sexuell frustrierte Junggesellen, die für einen Boom des Rotlichtmilieus sorgen.
Brüggemanns Reportagen führen zum verarmten Landadel in Rheinland-Pfalz, der mühsam Hausmeisterarbeiten im eigenen Schloss verrichtet; zu Rosenheimer Polizisten, die ihm erklären, warum Knechte mit der Mistgabel auf Bauern einstechen; zu ostdeutschen Lokalmatadoren, mit denen er durch trostlose Dorfdiscos tingelt. Oder zu jenem Ehepaar hinterm Jägerzaun, das gerne fremde Männer als Lustsklaven einlädt. Auch mit den parallel erzählten Romanhäppchen gibt sich der Autor redlich Mühe, die blühende Landnostalgie im Keim zu ersticken: Es ist die Geschichte vom Sündenfall einer doppelmoralischen Dorfgemeinschaft und einem Opfer, das Jahre später in den Ort zurückkehrt, um sich grauenhaft zu rächen. Spätestens dann denkt man, dass Brüggemanns Frust in Bezug auf die Provinz persönlich motiviert sein könnte. Vielleicht hat er damit zu tun, dass der Autor vor einigen Jahren aus Berlin weggezogen ist. Aufs Land.
Hilal Sezgin: „Landleben. Von einer, die raus zog“; Dumont, Köln 2011; 269 Seiten; 19,99 Euro
Axel Brüggemann: „Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz“; Kindler, Reinbek 2011; 272 Seiten; 14,95 Euro
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