- Leonardo, der Welterfinder
Warum das Lächeln der Mona Lisa so rätselhaft ist und Leonardo als Vordenker der virtuellen Realität gelten kann – Stefan Klein erkundet die Aktualität des Renaissance-Künstlers
«Mona Lisa Overdrive», so nannte der Science-Fiction-Autor William Gibson 1988 den letzten Roman seiner «Neuromancer»-Trilogie, in der er, wie nebenbei, den Cyberspace erfunden hatte. Zwar bestehen seine Protagonisten noch immer zum größten Teil aus organischem Körpermaterial (die Adepten des digitalen Lebens nennen diesen anachronistischen Rückstand des Menschen verächtlich Wetware). Weil neuronale Prozesse aber auch durch digitale Implantate gesteuert werden, agieren Gibsons Geschöpfe an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine und auf der Grenze zwischen handgreiflicher und virtueller Realität. Indem der Autor bereits im Romantitel die Mona Lisa und damit ihren Schöpfer Leonardo da Vinci ins Spiel bringt, kündigt er eine Reise zurück in die Zukunft an: Gibson verschaltet die Epoche der Renaissance mit dem bevorstehenden digitalen Zeitalter.
Die Ansicht, dass das Universalgenie Leonardo ein Visionär seiner Zukunft und unserer Gegenwart gewesen ist, gehört mittlerweile zur kulturgeschichtlichen Folklore. Schließlich hat er zumindest auf dem Reißbrett Uhrwerke, Baukräne und gewaltige Katapulte entworfen, zudem Gerätschaften, die seinen Zeitgenossen als Luftschlösser erscheinen mussten: Taucherglocken, von Federkraft angetriebene Automobile und Flugmaschinen. Heute ist dieser Künstler zum gesunkenen Kulturgut geworden; alles Mögliche, das sich mit dem Nimbus der Innovation umgeben möchte, hat sich nach Leonardo benannt, darunter eine Hotelkette und ein Hersteller von Trinkgläsern. Ein EU-Programm zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der Berufsbildung hört auf den Namen Leonardo da Vinci, die zunehmende Mobilität von Akademikern wird als Leonardo-Effekt bezeichnet.
Die Neurologie des Lächelns
Dass der Microsoft-Chef Bill Gates 30 Millionen Dollar für die
Ersteigerung des Codex Leicester ausgegeben hat (ein 36-seitiges
Konvolut von Blättern, auf denen Leonardo die Entstehung der Welt
skizziert), bezeugt eine symptomatische Geistesverwandtschaft: Die
Emanzipation von den Bedingungen tatsächlicher Machbarkeit in Zeit
und Raum, der Entwurf einer eigenständigen Realität im Virtuellen –
das haben die Entwurfsskizzen des Meisters aus Vinci und die
künstliche Welt des Internet gemein.
Ist Leonardo daher so aktuell wie nie und der Zukunftsentwurf der
Renaissance ein Schlüssel zum besseren Verständnis der
Lebensbedingungen unserer Gegenwart? Davon geht der
Wissenschaftsjournalist Stefan Klein aus. «Da Vincis Vermächtnis
oder Wie Leonardo die Welt neu erfand» lautet der vollmundig
formulierte Titel seines Buches, das den Meister vor allem anhand
seiner, zumeist als Rötelzeichnung ausgeführten, technischen
Skizzen vorstellt und eine höchst anregende Einführung in den
visionären Gehalt seines Denkens gibt. Wer in Leonardo bislang vor
allem den Künstler gesehen hat und daher zunächst an die Mona Lisa,
das letzte Abendmahl, die Felsgrottenmadonna, Johannes den Täufer
oder die Anna Selbdritt denkt, sieht den Meister hier von einer
anderen Seite.
Dabei ist es nicht so, dass Klein Leonardos malerisches Werk ignoriert. Er schreckt auch vor dem geheimnisvollen Lächeln der Mona Lisa und der Tatsache, dass die Literatur dazu bereits ganze Bibliotheken füllt, nicht zurück. Dabei geht es dem Autor vor allem um die naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die sich Leonardo in akribischer Arbeit angeeignet hat und ohne die dieses Portrait seine Wirkung auf den Betrachter kaum entfalten würde: Der Künstler hatte sich anhand zahlreicher Skizzen in der Morphologie des menschlichen Antlitzes geschult und das ganze Spektrum der mimischen Variationen anhand von Zeichnungen grotesker Gesichtsausdrücke pointiert zur Anschauung gebracht.
Mimik sei Leonardo schließlich nicht als Ausdruck eines beseelten Wesens erschienen, sondern als Effekt einer hochkomplexen – und doch erklärbaren – Mechanik: der Mensch als Maschine. Die Faszination des vielbeschworenen Lächelns der Mona Lisa verdankt sich dann keinem numinosen Kunstgenie, sondern einem kalt kalkulierten Effekt. Erst der hirnphysiologische Kenntnisstand der Gegenwart, sagt Klein, macht verständlich, wie virtuos Leonardo die feine Asymmetrie zwischen den Mundwinkeln der Mona Lisa eingesetzt hat. Aus dem spiegelverkehrten Steuerungsmechanismus des Gesichts durch linke und rechte Gehirnhälfte schließt die Neurologie auf die Bedeutung eines schiefen Lächelns: Es ist das Resultat einer Schieflage von Emotion und Verstand und verrät sich so als vorgetäuschtes Gefühl.
Um einen solchen Gesichtsausdruck auf die Leinwand zu bringen, das unterstellt Klein, reicht gewöhnliche Beobachtungsgabe kaum hin. Leonardo müsse zumindest eine Vorahnung dessen gehabt haben, was erst die Hirnforschung unserer Tage auf den wissenschaftlichen Begriff bringen kann. Sein Handwerkszeug, das zudem auf einem überaus detaillierten Wissen über die Gesetze der Optik fußt, könne daher als früher Prototyp der aktuellen Computergrafik verstanden werden: Mit künstlich erzeugten Bildern aus der digitalen Retorte habe die Mona Lisa mehr gemein als mit der Malerei, die Leonardos Zeitgenossen produzierten.
Aus der Vogelperspektive
Wenn Klein hier eine Biografie vorgelegt hat, dann ist es eine Biografie als Werkgeschichte. Der Autor interessiert sich dafür, wie Kunst durch Wissen generiert wird und referiert die Lebensumstände Leonardos nur dort ausführlicher, wo sie zur Klärung dieses Zusammenhangs beitragen. Die Frage etwa, welche historische Figur sich hinter dem Bildnis der Mona Lisa verbirgt, spielt dabei keine Rolle, und so schließt sich Klein kurzerhand der landläufigen (mittlerweile aber glaubhaft widerlegten) Vermutung an, es handele sich um Lisa Gherardini, die Ehefrau eines florentinischen Seidenhändlers. Leonardos Zeit in Diensten des blutrünstigen Cesare Borgia, der Niccolò Machiavelli für seine Schrift Il Principe Pate gestanden hatte, und die daraus resultierende Freundschaft zwischen Machiavelli und Leonardo böte ausreichend Stoff für einen umfangreichen historischen Roman; bei Klein bildet sie den bloß spärlich umrissenen Hintergrund für die Diskussion einer Zeichnung, die der Meister 1502 von der Stadt Imola anfertigte.
Erstmals stellt dieses Bild einen Ort nicht von schräg oben, sondern aus der Vogelperspektive dar. Präzise Vermessungsarbeiten und eigens zu diesem Zweck entwickelte Gerätschaften hatten Leonardo zu dieser revolutionären Abstraktionsleistung befähigt; sein Stadtplan von Imola – davon hat sich Klein als Spaziergänger vor Ort überzeugt – ist fast auf den Meter genau und ermöglichte es Borgia, seinen Eroberungsfeldzug mit bis dahin unmöglicher Präzision vorauszuplanen. Leonardo mochte verschiedene Katapulte und Feuerwaffen entwickelt haben – Klein bewundert ihn aber dafür, dass er die Kriegsmaschine durch Datenverarbeitung effizienter machte. Auch hier erscheint der Künstler als Visionär unserer Informationsgesellschaft.
Kleins Glücksformel
Der Autor stellt noch eine ganze Reihe weiterer Erfindungen vor (darunter die Skizze zu einer Wasseruhr, deren komplizierter Mechanismus die Funktionsweise digitaler Rechenmaschinen vorwegnimmt), die den Leser auf sehr anschauliche Art davon überzeugen, dass Leonardo da Vinci nicht bloß ein zu seiner Zeit herausragender Künstler und Ingenieur gewesen ist, sondern vielmehr der – womöglich erste – Vertreter eines genuin modernen Denkens. Ganz offensichtlich zielt der Wissenschaftsjournalist und gelernte Physiker Klein mit diesem Buch nicht darauf ab, die akademische – und schon gar nicht die kunstgeschichtliche – Leonardo-Forschung zu revolutionieren. Auch besticht es kaum durch sprachliche Eleganz. Wie in seinen letzten Büchern «Die Glücksformel», «Alles Zufall» und «Zeit. Der Stoff, aus dem das Leben ist» zielt Klein auf ein großes Publikum, das bildungshungrig ist, vor ausgewiesener Fachliteratur aber zurückschreckt.
Dabei besteht sein Kunststück darin, in populärer Aufmachung
eine durchaus vielschichtige Studie zu verpacken; die lebendige
Darstellung eigentlich trockener Sachverhalte geht nicht auf Kosten
ihrer Komplexität. Dass der Verlag sich aber für den Titel «Da
Vincis Vermächtnis» entschieden hat, wo doch da Vinci kein
Eigenname, sondern eine Herkunftsbezeichnung ist, kann wohlwollend
als Einsatz eines Trojanischen Pferdes im Dienste massenwirksamer
Wissensvermittlung verstanden werden.
Offenbar dockt man sich hier an Dan Browns Bestseller «Da Vinci
Code» an und hofft auch auf solche Leser, die schon mit einer
Fortsetzung dieses Mystery-Thrillers gut bedient wären. Stefan
Klein würde dieser Effekt wohl freuen – wo einem freischaffenden
Wissenschaftsjournalisten ein Bestseller gelingt, da stimmt auch
seine Glücksformel.
Stefan Klein
Da Vincis Vermächtnis oder Wie Leonardo die Welt neu
erfand
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2008. 336 S., 18,90 €
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