- Leben voller Risse
Anna Katharina Hahn erzählt von den Beziehungen wohlsituierter Paare und Familien im satten Stuttgarter Süden
In der Oktoberdämmerung erleuchtete Fenster erlauben Einblicke in die Wohnräume der Nachbarn: «Angezogen von fremder Wärme, von der Verheißung einer Privatheit, die die eigenen vier Wände niemals bieten können», schaut Leonie ihrer Nachbarin Judith und deren Familie beim Abendessen zu. Tischdecke, Kerze, dampfende Suppenschüssel, Brotkorb, zwei brave kleine Söhne, ein umsorgender Ehemann – «die heilige Familie» hat sie die Nachbarn getauft, beinahe täglich schaut sie zu ihnen hinüber.
Am Esstisch in Leonies eigener Familie sieht vieles anders aus. Die Töchter nörgeln über das Essen, das Geschirr poltert zu Boden, und wie so oft kommt ihr Mann, ein arbeitsamer Aufsteiger, viel zu spät von der Arbeit nach Hause. Die großzügige Wohnung mit der einzigartigen Stuckdecke können sie sich leisten, weil beide voll arbeiten. Neben ihrem Beruf bei der Bank und dem Haushalt hat Leonie sich folglich mit der Gewissheit herumzuschlagen, zu wenig für ihre Kinder da zu sein; der Vergleich mit der offensichtlich vollkommenen Vollzeitmutter Judith schmerzt ein wenig.
Judith und Leonie sind die tragenden Figuren in Anna Katharina Hahns Roman «Kürzere Tage». Im gleichen Maße, in dem es hier um den Glanz glückender Lebensentwürfe geht, deutet die Autorin auf die Risse in diesen Fassaden. Dabei ist Leonie nicht die Einzige, in deren Alltag sich Brüche zeigen. Judith, so sehr sie auch nach außen strahlt, kämpft gegen den düsteren, immer wieder aufkeimenden Wunsch an, «eine Mumie zu sein, reglos und starr». Gegen ihre Versagensängste nimmt sie Tabletten, die gut getarnt sind durch ein Etikett für kräftigende Biotin-Kapseln. Auch sich selbst hat Judith umetikettiert: Eigentlich heißt sie Jutta, stammt aus einer liebevollen, aber verständnislosen Familie vierzig Kilometer südlich von Stuttgart, scheiterte an ihrer Magisterarbeit in Kunstgeschichte und floh aus dem «dreckigen Osten» Stuttgarts direkt in die Wohnung ihres jetzigen Mannes – statt einer tablettensüchtigen Studienabbrecherin ist sie nun die geliebte Ehefrau eines Universitätsprofessors und anthroposophische Mustermutter.
Urbane, wohlsituierte Lebenswelten idealer Eltern und ihrer «Business-Babes» werden in «Kürzere Tage» von innen heraus ausgehöhlt. Erträumte Strukturen, die auch die Romanfiguren selbst anmuten wie «in Pastelltönen gezeichnete Werbetrailer», lässt der Roman schnell und effektiv implodieren. Äußerst ökonomisch geht die Autorin dabei mit ihren erzählerischen Ressourcen um: Die Handlung spielt innerhalb weniger Tage um Halloween herum, die Schauplätze sind überschaubar in einer fiktiven Straße im satten Süden Stuttgarts angesiedelt, und neben den beiden Müttern braucht kaum weiteres Personal in Szene gesetzt zu werden.
Eine bedrückende Leere
Die Inszenierung der Figuren wird assoziativ ergänzt: Jede Figur flicht einen eigenen Kanon aus Bruchstücken von Kirchenliedern, Achtzigerjahre-Hits, Grimms Märchen oder Fernsehsendungen in den Roman ein. Auf diese Art schafft Anna Katharina Hahn facettenreiche Charaktere. Allerdings hätte dem Roman der Verzicht auf den einen oder anderen Einschub gut getan, gerade wegen der sonstigen Reduziertheit wirken manche Details zu dick aufgetragen. Das stört vor allem dann, wenn einige Ausmalungen nur einen Pinselstrich vom Klischee entfernt sind und so der Atmosphäre bedrückender Leere, die hinter allem lauert, der Schrecken genommen wird.
Den mitreißenden Sog der Geschehnisse schwächt dies jedoch nicht. Ob klischeehaft oder nicht – unaufhaltsam laufen die Risse, die sich vom Leben der einzelnen Figuren symbolisch bis in die Stuckdecke auf dem Titelbild des Buches hineinziehen, immer weiter aufeinander zu, bis sie alle aufeinandertreffen. Ein Todesfall, ein Mordversuch, Ehebruch und Kindesmisshandlung werden in einem beinahe zu furiosen Showdown offenbar, der alle Gewissheiten sorglosen Lebens in sich zusammenstürzen lässt.
Anna Katharina Hahn
Kürzere Tage
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009. 223 S., 19,80 €
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