- Keine Spur von Selbstkritik
Ein Jahr nach Beginn der Wulff-Affäre ist alles immer noch beim Alten: Die Medien wissen, wer der Böse ist. Selbstkritik – auch die berechtigten Zweifel in der Bevölkerung – wurden weggewischt. Die Aufarbeitung des Falls, der auch eine Medienaffäre war, hat noch nicht einmal angefangen. Dabei wäre sie überfällig
Wenn es darum geht, das eigene Handeln zu hinterfragen, sind Journalisten eigentlich gewissenhaft. Manchmal allerdings neigen sie zu verkürzter Reflexion. In der Wulff-Affäre, die vor genau einem Jahr mit dem ersten Bericht in der Bild-Zeitung begann, waren sich die Journalisten weitgehend einig: Abgesehen von kleineren Patzern haben sie alles richtig gemacht.
Als der damalige Bundespräsident die Berichterstattung erst in dem TV-Interview Anfang Januar kritisierte und in seiner Abschiedsrede dann davon sprach, dass diese ihn und seine Frau „verletzt“ hätte, konterte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Christian Wulff habe sich politisch selbst zerstört.
Denn er hatte sich in ein Netz aus Gefälligkeiten und Halbwahrheiten verstrickt. Da war der unerlaubte Kredit für sein Privathaus – ein Vorgang, über den er den niedersächsischen Landtag getäuscht haben soll. Wulff spielte im Nord-Süd-Dialog eine zwielichtige Rolle und soll bei reichen Freunden Gratis-Urlaube verbracht haben. Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt nicht nur gegen den Ex-Bundespräsidenten, sondern auch gegen dessen damaligen Pressesprecher Olaf Glaeseker und den Filmproduzenten David Groenewold.
Die FAZ aber rühmte sich, dass keine einzige deutsche Qualitätszeitung über die schmutzigen Gerüchte um seine Frau Bettina berichtet hatte. Nicht einmal die Bild. Was so nicht ganz stimmte: In einem längeren Artikel versteckte auch die FAZ den Hinweis, wie man die zwielichtigen Texte im Netz aufstöbern kann. Später mussten sowohl die Berliner Zeitung als auch der Stern Unterlassungserklärungen abgeben.
Der Mainzer Kommunikationsforscher Hans Mathias Kepplinger ist sich sicher: Es habe auch auf Seiten der Medien „viel Falschspielerei“ gegeben. So unterstellten viele Medien, bei Wulffs Versuch, einen Zeitungsbeitrag zu verhindern, habe es sich um eine einzigartige Entgleisung gehandelt. Einige stilisierten den Anruf gar zu einem „Eingriff in die Pressefreiheit“. Studien zufolge hätte aber fast die Hälfte der Berliner Korrespondenten schon Ähnliches erlebt, sagt Kepplinger. Der Anruf des CSU-Sprechers beim ZDF im Oktober war etwa ein solcher Fall.
Und doch sahen die Medien selbst nur wenig Anlass zur Kritik. Die Bild-Zeitung fühlte sich gar genötigt klarzustellen: Es habe weder einen „Machtkampf“ noch eine „Medien-Kampagne“ gegen Wulff gegeben, schrieb Chefredakteur Kai Diekmann.
Ähnlich argumentierte der Deutsche Journalisten-Verband. Die Intensität der Berichterstattung sei „die Folge von zahllosen Ungereimtheiten und möglicherweise auch strafrechtlich relevanten Vorgängen von Wulffs Amtsführung“ gewesen, erklärte Verbandsvorsitzender Michael Konken. Damit verfestigte er den Eindruck, wonach sich die Medienindustrie von Anfang an selbst ein mustergültiges Verhalten bescheinigte.
Dabei ist dieser Fall ein Paradebeispiel dafür, was der Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann einmal ein „selbstreferentielles System“ nannte. Die Medien verstricken sich so sehr in ihr eigenes Weltbild, dass ihnen die Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und öffentlicher Fremdwahrnehmung gar nicht mehr auffällt.
Denn Mitte Januar hielten viele Deutsche trotz aller Medienberichte ihrem Präsidenten noch die Treue. In Umfragen forderten weniger als die Hälfte der Befragten (46 Prozent) seinen Rücktritt. Zugleich aber hielten 53 Prozent den Umgang der Presse mit Wulff für „unfair“.
Inzwischen ist das Rätsel um den genauen Wortlaut der Nachricht, die Christian Wulff auf Diekmanns Mailbox hinterließ, so gut wie gelöst. Die Hintergründe dazu sind bei Cicero Online sowie in der Januar-Ausgabe des Magazins zu lesen, das am 20. Dezember erscheint. Doch nicht einmal jetzt bekennen sich die Leser klar zur Rechercheleistung der Medien. So schreibt ein Kommentator, man könne sich auf das, was in Zeitungen geschrieben stehe, nicht ausreichend verlassen. Ein anderer fragt: „Die Presse soll Kontrollorgan in unserem Staat sein, aber wer kontrolliert die Presse und ihre Inhalte?“ Er bringt das Bauchgefühl vieler Wähler und Medienrezipienten auf den Punkt.
Seite 2: Als wäre man in einem Spiel zugleich Linienrichter, Stürmer und Kommentator
Die Journalisten reagierten auf die Kritik ihres Publikums zunehmend genervt. Tagesspiegel-Autor Matthias Kalle fragte: „Kann man uns eigentlich nicht einfach in Ruhe lassen? Damit wir unseren Job erledigen?“ Und „Freitag“-Herausgeber Jakob Augstein bemerkte, wenn die Presse „von vielen nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems empfunden“ werde, sei der lachende Dritte Christian Wulff.
Auch für die Sachbuch-Verlage war die Affäre frühzeitig abgeschlossen. Einer der investigativen Journalisten, der einiges zur causa Wulff zu sagen gehabt hätte, suchte einen Verleger für seine Geschichte. Er bot auch an, weitere Details zu recherchieren. Vergeblich. Niemand hatte mehr Interesse daran.
Das erste und bisher einzige Buch zu diesem Thema ist „Affäre Wulff: Bundespräsident für 598 Tage – Die Geschichte eines Scheiterns“ vom Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag. Es ist das Rechercheprotokoll der beiden preisgekrönten Bild-Reporter Martin Heidemanns und Nikolaus Harbusch.
Fassen wir zusammen: Es war die Bild-Zeitung, die erfolgreich die Recherchen zum Hauskredit führte, Kai Diekmann, der die Auszüge von Wulffs Mailbox-Nachricht an FAZ und Süddeutsche lancierte, Diekmann, der ein Kunstwerk des Wutausbruchs anfertigen ließ; und es waren Bild-Reporter, die nun die Hoheit über die historische Einordnung des Skandals haben.
Ist es nicht genauso, als wäre man in einem Spiel zugleich Linienrichter, Stürmer und Kommentator?
Nicht nur die Bild-Zeitung steckt in dieser befangenen Rolle, sondern die gesamte Presse. Dies erklärt zugleich das Dilemma aller „Wulff und die Medien“-Berichte: Es fehlt an Aufarbeitung.
Wo also bleibt der außenstehende Dritte? Wo die Medienforschung? Bislang findet sich auf keiner einzigen Webseite großer universitärer Institute ein Hinweis darauf, dass Medienforschung zur Wulff-Affäre im Gange oder geplant sei.
Kurz erblickte man sie bei Zeit Online nach dem Rücktritt des Präsidenten: Da versicherte Kommunikationsforscher Bernd Gäbler jenen Journalisten, die – Gott bewahre! – womöglich noch irgendeinen Anflug von Reue verspürt hätten – dass im Wesentlichen „kein Anlass zur Buße“ bestanden habe.
Natürlich muss man die Rechercheleistung der Presse würdigen. Was aber ist mit jenen teils obsessiven Leitartiklern, die noch vor Bekanntwerden der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen den Rücktritt des Präsidenten forderten? Was ist mit der fragwürdigen Performance der Moderatoren in dem ARD-ZDF-Interview? Was ist mit eben jenem Spiel der Bild-Zeitung, die Wulff in seiner Niedersachsen-Zeit noch hofiert hatte? Und warum haben eigentlich alle Medien ihre Recherchen eingestellt, als die Staatsanwaltschaft mit ihren Ermittlungen begann und Wulff den Rücktritt bekanntgab? Gäbe es dazu nicht auch noch offene Fragen?
An seinem Institut habe eine erste Magisterarbeit den Einfluss der Skandalisierung auf die Mimik von Wulff untersucht, sagt Medienforscher Kepplinger. „Für eine weitere Magisterarbeit haben wir alle Vorwürfe in den Medien gegen Wulff aufgelistet und prüfen, welche bestätigt, widerlegt oder einfach vergessen wurden.“ Seine These: Viele Vorwürfe seien während der Affäre plötzlich aufgetaucht – und dann genauso schnell wieder verschwunden. Das gelte nicht nur für die alberne Behauptung, Wulff habe sich über ein geschenktes Bobby-Car erkenntlich gezeigt.
„Wenn zwei Bundespräsidenten nacheinander wegen medialer Kritik zurücktreten, bleibt das langfristig nicht ohne Schaden für das Image des Amtes, der Politik und der Medien.“ Kepplinger beobachtet eine schleichende Machtverlagerung von der Politik auf die Medien. „Wenn im Kern zwei treibende Personen – Kai Diekmann und Frank Schirrmacher – in der Lage sind, einen Bundespräsidenten aus dem Amt zu heben, stellt sich die Frage: Kann ein solches System auf Dauer funktionieren?“
Update vom 14.12.2012: Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Fallstudie der Otto-Brenner-Stiftung, die zu folgendem Fazit kommt: „Wer die 'Bild' im Fall Wulff für guten Journalismus lobt, muss Stalker für ihre Treue, Schwarzfahrer für umweltfreundliches Verkehrsverhalten und Schmuggler für das Überwinden von Grenzen auszeichnen.“
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