Kehlmann liest Die Simpsons und die Philosophie
Zitronenrevue
Jetzt aber wirklich zum allerletzten Mal. Als ich voriges Jahr im Spiegel einen Essay über die Fernsehserie „Die Simpsons“ veröffentlichte, hatte ich die Befürchtung, damit viel zu spät zu kommen und nur mehr offene Türen einzurennen. Welche These, dachte ich, wäre weniger kontrovers als die, dass es sich hier um ein modernes Meisterwerk handle?
Diese Einschätzung war falsch. Auf einen Schlag erreichten mich über ein Dutzend Interview- und Artikelanfragen, und sogar mehrere Dissertanten meldeten sich mit der Erkundigung, ob ich wohl diese hochoriginelle Position näher erläutern könne. Ein Schriftsteller, der die Simpsons gut findet, das scheint in Deutschland, wo, wie Thomas Mann einst schrieb, jeder Schulmeister sich über die Nation Walt Whitmans erhaben fühlt, immer noch Überraschung zu erregen – während in Amerika alle wichtigen Autoren bereits in der Serie aufgetreten sind.
Darum also hier, noch einmal, eine Simpsons-Empfehlung. In diesen Tagen läuft ja der Kinofilm an, und alle Zeichen deuten darauf hin, dass er zu lange und plotlastig, also eine Enttäuschung sein wird (aber auch hier könnte ich mich irren, es wäre nicht das erste Mal, dass die Simpsons-Autoren um Schöpfer Matt Groening uns alle überraschen). Wer sich jetzt noch einmal daran erinnern möchte, warum diese Serie zum Brillantesten gehört, was die nicht so reiche Weltkultur der vergangenen Jahrzehnte hervorgebracht hat, sollte den eben übersetzten Sammelband „Die Simpsons und die Philosophie“ lesen. Hier interpretieren Fachphilosophen ohne Herablassung, mit Witz und Sympathie die Tiefenschichten jener Figuren, die so viele von uns inzwischen besser kennen als so manchen unserer realen Verwandten, Kollegen oder Freunde.
Der Band ist in drei Teile gegliedert: Der erste analysiert die Figuren – etwa wie man an Homer Simpson Aristoteles verstehen lernen kann, was Lisas Schicksal mit Antiintellektualismus zu tun hat und wie Barts Weltzugang illustriert, was Denken beziehungsweise dessen Abwesenheit ausmacht. Im zweiten geht es um Probleme der Ethik; und tatsächlich ist die Frage nach der Möglichkeit des anständigen Lebens in einer gefallenen Welt ja der ernste Hintergrund des gesamten Simpsons-Universums. Hier findet sich ein wunderbarer theologischer Aufsatz über Mister Burns und das absolut Böse. Den dritten und ernstesten Teil bilden Interpretationen der Serie aus der Sicht unterschiedlicher philosophischer Schulen – besonders beeindruckend James M. Wallace’s fulminanter ideologiekritischer Aufsatz, der auf dem schmalen Grat zwischen Polemik und Parodie die Produktionsbedingungen einer Simpsons-Folge als typisch für postmoderne spätkapitalistische Unterhaltungsindustrie untersucht. Dass all dies nie lächerlich wird, ist vielleicht der beste Beweis für die Vielschichtigkeit dieser Fernsehserie, die eine solche Erklärungs- und Interpretationsfülle spielend verträgt.
Es wäre verführerisch zu sagen, dass man dieses Buch jedermann, und nicht nur Kennern der Serie, empfehlen kann. Aber das wäre Unsinn, natürlich ist es vor allem für hartgesottene Bewunderer und Leute, die wissen, wann Barney mit dem Trinken aufhörte, wie Krustys Vater heißt und wieso Bart mit seinen Scherzanrufen in Moe’s Taverne aufhörte. Aber solche Fanatiker gibt es ja gottlob genug. Und ich bin einer von ihnen.
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann las für Cicero: William Irwin u.a. (Hrsg.): „Die Simpsons und die Philosophie – Schlauer werden mit der berühmtesten Fernsehfamilie der Welt“, Tropen-Verlag, 2007
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