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(Nils Klinger) Der Ort des Geschehens: das Fridericianum in Kassel

documenta-Rundgang (1) - Kann Scheitern produktiv sein?

Am Samstag eröffnet in Kassel die 13. Ausgabe der Weltkunstausstellung Documenta. Ein erster Rundgang durch das Fridericianum, in dem die künstlerischere Leiterin, Carolyn Christov-Bakargiev, dem Besucher schon mal viel abverlangt

"Liebe Carolyn, ich schreibe Dir mit einem schlechten Gewissen, denn ich habe das Gefühl, Du könntest denken, ich hätte Dich betrogen." Man kann nicht sagen, der Künstler Kai Althoff habe es sich besonders leicht gemacht, als er seine Teilnahme an der Documenta (13) abgesagte: Auf mehreren handbeschriebenen Seiten legt er der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev dar, warum er ihre Einladung nicht annehmen kann. Er habe grundsätzlich keine Ahnung, wie es weitergehen soll in seinem Leben, und überhaupt habe er für 2012 schon viel zu viel zugesagt. Skepsis, Verweigerung, Scheitern und die Ablehnung von Möglichkeiten wird man auf dieser Documenta häufig begegnen. "Es geht darum, Zweifel zu säen, Sicherheiten in Frage zu stellen", sagt Christov-Bakargiev.


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Der Brief von Kai Althoff liegt in einer Vitrine ausgebreitet, die Vitrine steht in einem großen, ansonsten leeren Raum im Fridericianum, dem Austragungsort der Ur-Documenta von 1955. Es ist das Erste, was man sieht, wenn man den Rundgang durch die Kunsthalle beginnt. Ein Statement. Umweht wird diese Ansage von der Luft dieses alten Ausstellungshauses, die durch eine Windmaschine des Künstlers Ryan Gander bewegt wird. Das Luftige, das Vage, das Unfassbare in den Interviews mit der Kuratorin wurde im Vorfeld zur Documenta (13) kritisiert. Hier wird es zur Ausstellung - und behauptet tatsächlich eine eigene Schönheit.

Zur Perfektion wird diese gesteigert durch ein Lied aus dem Nachbarraum: die Soundarbeit "Til I get it Right" von Ceal Floyer. Sie hat aus einer Zeile eines Tammy-Wynette-Songs die Worte "falling in love" herausgeschnitten, so dass die Verse nun lauten: "I'll just keep on / 'til I get it right".

[gallery:Collapse and Recovery - dOCUMENTA (13)]

So sehr auf das Scheitern vorbereitet - was natürlich auch ein wenig kokett ist von den Ausstellungsmachern - geht es durch das Haus. Schon in einem nächsten Raum begegnet der Besucher dem ersten Wissenschaftler: Epigenetik -Forscher Alexander Tarakhovsky hat eine Maschine aufgestellt, die menschliche DNA-Proben produziert, die hier in 80.000 Plastikröhrchen ausgestellt sind. Der "neue Mensch", Ziel vieler Künstler in der langen Kunstgeschichte, wird längst entworfen auch von der Wissenschaft. Dass diese Wirklichkeit kaum greifbar ist für einen normalen Menschen, sollen wahrscheinlich zwei Gemälde des Surrealisten Salvadore Dali bezeugen (die in dieser Laboratmosphäre allerdings ziemlich blass wirken - aber um Aura geht es bei dieser Documenta nun wirklich nicht).

Auch im ersten Stock Versuchsanordnungen: Hier zeigt der Quantenphysiker Anton Zeilinger, wie sich Licht darstellen lässt, nämlich als Teilchen oder als Welle. Beide Darstellungen sind gleichermaßen richtig und falsch. In einem weiteren Experiment werden zwei verschränkte Photonen in zwei Nachbarräume geschickt, und siehe da, sie bleiben miteinander verbunden und verhalten sich doch jeweils anders. Solche Ergebnisse deuten "auf eine Erneuerung der Diskussion über die Definition der Realität", steht im Documenta-Führer. Und diese Qualität würde die Quantenphysik mit der Kunst teilen. Nur, dass man den Messgeräten und der Interpretation des beigesellten Assistenten glauben muss, ohne als Laie zu wirklicher Anschauung zu gelangen. Aber das ist im Nachbarraum bei den Arbeiten des Künstlers Mark Lombardi, die auf großformatigen Zeichnungen die Verwicklungen von Finanzwelt und Politik darstellte (die aktuelle Ausgabe von Monopol widmet ihm ein Porträt), auch nicht anders.

Lesen Sie weiter über das Herzstück der Documenta...

Aber der Wechsel von abstrakt und konkret, kühl und atmosphärisch, leer und dicht gelingt hier im Fridericianum. Das Herzstück der Ausstellung hier, vielleicht das Herzstück der gesamten Documenta (13), ist die Rotunde des Hauses, in dem eng gestellt kleine Objekte präsentiert werden, die auf die Themen dieser Ausgabe der Weltkunstschau verweisen: Zerstörung und Wiederaufbau, Materialität, Feminismus und die Verständigung von Natur und Mensch. Carolyn Christov-Bakargiev nennt diese Ausstellung in der Ausstellung "Brain" und nicht Herz, aber vieles erschließt sich nicht nur durch den Intellekt, sondern in sehr losen Assoziationen: Hier sind im libanesischen Bürgerkrieg zerstörte Objekte zu sehen, die berühmte Aufnahme der Fotografin Lee Miller, wie sie 1945 in Hitlers Münchner Wohnung badet, ein Schriftzug von Lawrence Weiner, Prinzessinnen-Figuren aus dem heutigen Afghanistan, die 2000 vor unser Zeitrechnung entstanden und die sich zu größeren Einheiten zusammenstecken lassen. Und in dieser Wunderkammer findet der Besucher dann doch noch - oh, Wunder! - ein Bild von Kai Althoff, die er kurz vor der Eröffnung geschickt hat.

[gallery:Collapse and Recovery - dOCUMENTA (13)]

Die Documenta wirkt im Fridericianum ein wenig angestrengt. Als solle etwas bewiesen werden. Dass Scheitern produktiv sein kann etwa, dass die Frage nach dem Wesen von Kunst heute neu definiert werden muss, wie Trauma und Krieg bewältigt werden durch Ausdruckswille, wie Künstler Welthaltigkeit herstellen und sich mit der Vergangenheit verbinden. Dennoch zeigt sich in diesem Haus auch der Mut, solche Fragen mit Stimmung und Atmosphäre zu begegnen ("Poesie" würde es wahrscheinlich Christov-Bakargiev nennen), etwa in den Räumen, in denen die Gouachen der in Auschwitz gestorbenen Charlotte Salomon auf die flamboyanten Zeichnungen und Collagen der nomadisch lebenden Anna Boghiguian treffen. Oder in den Installationen von Kader Attia, in denen er ethnologische Präsentationsformen aufgreift. Und manchmal schafft die Ausstellung dann doch auch etwas wie Aura, etwa mit der gestickten Landkarte von Alighiero Boetti, die der Künstler Mario Garcia Torres hier hat aufhängen lassen und die Boetti 1972 bei seiner Teilnahme bei der Documenta 5 nicht zeigen konnte, weil sie nicht rechtzeitig fertig wurde (das Juni-Heft von Monopol erzählt auch diese Geschichte).

Doch diese Documenta dehnt wie angekündigt unseren Begriff davon, was eine Ausstellung ist. Fast nostalgisch wirkt deshalb eine Aufnahme, die zwei Besucher der zweiten Documenta 1959 zeigt, wie sie Skulpturen des Bildhaues Julio Gonzáles betrachten. In einem wieder sehr leeren Raum im Erdgeschoss hängt dieses Bild, und daneben sind noch einmal diese drei Arbeiten ausgestellt. Im Grunde genommen hat sich dann doch nicht viel geändert: Die Herausforderung, so etwas wie Kunst zu verstehen, waren schon damals gewaltig.

Documenta, Kassel, 9. Juni bis 16. September. Das Kunst-Magazin Monopol beschäftigt sich in der Ausgabe 6/2012 ausführlich mit der Ausstellung für zeitgenössische Kunst.

Rundgang (2): In der Documenta-Halle
Rundgang (3): Im Kulturbahnhof
Rundgang (4): Bunker und Terrassen, Friedrichstraße, Grimm Museum
Rundgang (5): Neue Galerie

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