- Porträt einer Namenlosen
Seit Jahrhunderten bezaubert Jean-Étienne Liotards „Schokoladenmädchen“ seine Betrachter. Für sein berühmtestes Bild porträtierte der Hofkünstler eine unbekannte Bedienstete
Der Schweizer Künstler Jean-Étienne Liotard reiste im Jahr 1743 an den Hof der Königin Maria Theresia, der späteren Kaiserin von Österreich, um sie und ihre Familie zu porträtieren. Mit seiner ungewöhnlichen Erscheinung – er trug einen Turban und einen langen Bart – muss er in Wien für Aufsehen gesorgt haben, was ihm nur recht war. Er pflegte sein exotisches Image. Die orientalischen Gepflogenheiten hatte er aus Konstantinopel mitgebracht, wo er erst kürzlich einige Jahre gelebt hatte. Nun malte er die willensstarke Herrscherin, die im Lauf ihrer Ehe 16 Kinder zur Welt bringen würde, und ihr Gefolge, mit Pelzkragen und Brillanten im Haar, aber auch im Kostüm einer Türkin.
Die Kunst des Pastells beherrschte Liotard meisterhaft. Dabei verleugnete er den Duktus seiner Hand oft so sehr, dass er erstaunlich realistische Bilder schuf. Von vielen wurde er deshalb „peintre de la vérité“ genannt. Als einer der gefragtesten Porträtisten und Miniaturisten seiner Zeit bereiste er später noch viele Höfe der europäischen Aristokratie und konnte im Alter als reicher Mann in Paris leben. Er starb mit 86 Jahren im Juni 1789, einen Monat vor dem Sturm auf die Bastille.
Liotards berühmtestes Bild ist ausgerechnet eine namenlose Bedienstete: das überaus reizende Schokoladenmädchen. Er hat das Bild, ein Pastell auf Pergament, wohl im Dezember 1744 gemalt, kurz bevor er Wien verließ und nach Venedig aufbrach, und zwar ganz ohne Auftrag. Mit diesem Beweis seiner Kunst konnte er sich in Italien besser vorstellen als mit der schönsten Visitenkarte. In Venedig blieb das Lob nicht aus. Die berühmte Pastellmalerin Rosalba Carriera sagte gar, es sei das schönste Bild in dieser Technik, das sie überhaupt je gesehen habe. Liotard fand schnell einen Käufer für das Schokoladenmädchen, den Grafen Francesco Algarotti, der Einkäufe für den großen Kunstmäzen August III tätigte, den Kurfürsten von Sachsen und König von Polen. So überquerte das Schokoladenmädchen schon im Februar 1745 wieder die Alpen und gelangte in die Dresdner Gemäldesammlungen.
Dort bezaubert es sein Publikum seit Jahrhunderten: Eine rosa Seidenhaube bedeckt das Haar des Mädchens, eine weiße Schürze ihren grauen, bodenlangen Rock. Zum gelben Mieder trägt sie einen weißen Kragen. Alles ist sauber und adrett, die Haut ist pudrig zart und an den richtigen Stellen gerötet. Mit ihren jugendlichen Händen hält sie das kleine Lacktablett mit einem Glas Wasser und einer heißen Schokolade wie eine Kostbarkeit. Die japanisch inspirierte Porzellantasse, vielleicht ist es sogar Meißener Porzellan, steht neben etwas Gebäck in einer Trembleuse, einem Gestell, das dazu dient, die wertvolle Tasse auch bei zitternden Händen vor dem Verschütten zu schützen. Heiße Schokolade war wie auch Schokolade in Pralinenform im 18.Jahrhundert noch der High Society vorbehalten. Man trank sie morgens mit einem Glas Wasser. Sie galt als wohltuender Heiltrunk.
Der Genuss an dem Bild wird durch die schöne Vorstellung gesteigert, dass das Mädchen dem Betrachter selbst die Tasse Schokolade serviert. Allerdings nicht auf die Weise, auf die Schokolade heute vermarktet wird. Nicht eine lüsterne Sünde bringt das Mädchen an den Kaffeetisch, nein, eher eine Medizin. Hat sie nicht auch etwas von einer liebenswerten Krankenschwester? Diese Ausstrahlung hat ihr dazu verholfen, dass ihr Bild schon seit dem 19.Jahrhundert auf Millionen von Schachteln und Dosen nachgedruckt wird. Jedes Mal steht sie für die gleiche Botschaft: Nein, Schokolade ist keine Sünde, sie ist gut für dich.
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