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Flüchtlingspolitik - Was legalisiert die Leichen der Illegalen?

Hätte es die heutige Asylpolitik schon in den neunziger Jahren gegeben, wäre Milad Karimi nie nach Europa gekommen. Der deutsch-afghanische Religionsphilosoph und Hegel-Bewunderer erinnert sich an seine Flucht, an Containerwohnen und an Hoffnungslosigkeit

Autoreninfo

Ahmad Milad Karimi (Foto Elif Kücük), geb. 1979 in Kabul, studierte Philosophie und Islamwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br. und wurde 2012 mit einer Arbeit über Hegel und Heidegger promoviert. Er ist ordentlicher Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster. Karimi ist stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster, Leiter der internationalen Muhammad Iqbal-Forschungsstelle. 2019 erhielt er den Voltaire-Preis für „Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“ der Universität Potsdam.

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Am 3. Oktober 2013 schien in der italienischen Küstenstadt Lampedusa eine Epidemie ausgebrochen zu sein; Leichen über Leichen, die – eingewickelt in blauen und grünen Kunststoffsäcken – das Bild der Insel prägten. Menschen waren nicht zu sehen. Jedenfalls habe ich kein Gesicht entdeckt, nicht einmal ein Name war zu hören. Ohne Gesichter, ohne Namen, ja ohne Geschichte sind die Flüchtlinge, beinahe so viele wie das Jahr Tage zählt. Das Mittelmeer raubte ihnen den Atem, verschleierte ihnen das Gesicht – für immer. Vielleicht fordert dies die Ordnung der Dinge: Flüchtlinge verflüchtigten sich von selbst, als wollten sie Michel Foucault recht geben, der einst wettete, dass der Mensch verschwinde, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.

Meeren gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt – spätestens seitdem das arabische Meer Osama bin Laden Asyl gewährte. Meere begraben jede Zivilisation, aber auch deren Gegenteil. Ich frage mich, was die Leichen der illegalen Menschen legalisiert? Etwa deren Tod? Wenn man ihnen vor einem halben Jahr prophezeit hätte, dass sie eines Tages eine Grabstätte in Italien bekämen, hätten sie es nicht für möglich gehalten. Die Flucht nahm ihnen alles, selbst den Namen. Die Leichen am Meeresufer rufen zuweilen bei Moralisten und Politikern Empörung hervor. Ja, empört Euch! Was ist aber mit bloßer Empörung gewonnen?  

Die Flucht ist der Anfang und das Ende jeder Biographie. Wer flüchtet, kann keinen Abschied nehmen. Weder gelingt es einem, vollständig zu flüchten, noch wird man sich später neu erfinden können. Was sie zurücklassen, sind nicht bloß ihre Familie und ihr Hab und Gut. Als ich einmal das Tagebuch von Anne Frank las, war mir klar, dass nur Flüchtlinge heute erahnen können, was es bedeutet, wenn Anne Frank am 20. Juni 1942 schrieb: „Juden müssen ihre Fahrräder abgeben.“ Es ist nicht bloß ein Gegenstand; weggenommen wird damit die Würde.

Entreißen und Entrissensein gehört zu meiner Geschichte


Mir wurde mein Geburtsort entrissen: Kabul. In gewisser Weise geht das Entreißen und Entrissensein weiter. Und niemals flüchten wir ganz. Ich ließ einen Teil von mir dort und nahm einen anderen Teil mit. Es ist eine afghanische Geschichte, die heute eine deutsche, ja europäische geworden ist. Dieser kleine Junge, der ich selbst war, ist mir verloren gegangen. Auch das gehört zu dieser Geschichte. Wo ist dieser Junge aus Kabul heute, der mit zitternden Händen flüchtige Welten formen wollte, Welten aus Worten, die sich von rechts nach links fortbewegten, sinnlich und zerbrechlich zugleich, ein Flüchtling, der mit seinem suchenden Blick, atemlos, fremde Landschaften berührt?

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Wir verbrachten über ein Jahr in der Flucht, reisten von einem Ort zum anderen: Indien, Russland, Kasachstan und schließlich Deutschland verlangten jeweils eine eigene Illegalität. Wäre schon damals die Dublin-II-Verordnung in Kraft gewesen, wonach Flüchtlinge einen Asylantrag nur in dem Land stellen dürfen, das sie zuerst erreichen, wäre ich auf der Strecke geblieben. Als ich zum ersten Mal in Neu Delhi hörte, dass wir kein Visum für Deutschland erhalten, sondern nur und wenn überhaupt illegal nach Deutschland kommen könnten, habe ich die volle Bedeutung der Illegalität, auf die wir zusteuerten, nicht begriffen. Deutsche Botschaften im Ausland gewähren Ausländern zweiter Klasse, zu denen wir gehörten, noch nicht einmal Eintritt.

Wir vertrauten uns selbstverständlich Schlepperbanden an. Sie verlangten nicht nur eine hohe, nahezu unbezahlbare Geldsumme, sondern auch unsere Bereitschaft zur Gefahr. Von einem Augenblick zum anderen befinden sich ehrliche Bürger mit ihrer ganzen Familie inmitten der Kriminalität. Ist das etwa der Augenblick, in dem sich Flüchtlinge selbst ihrer Würde entledigen, weil sie ihr Leben Menschenschleusern anvertrauen?

Von den Schleppern allein gelassen


Bereits nach einer Woche kamen meine Eltern mit einem Schleuser in Kontakt und einigten sich mit ihm. Der Plan war, dass wir zunächst von Neu Delhi nach Moskau fliegen, zwei Wochen später nach Polen fahren und schließlich zu Fuß durch den Wald nach Deutschland laufen würden. Sowohl in Moskau als auch in Polen sollten uns Kontaktmänner empfangen, die für die Abwicklung der weiteren Reise verantwortlich sein sollten. Der Aufenthalt in Moskau sollte nicht länger als zwei Wochen dauern. Unsere Schlepper ließen sich immer seltener sehen, und zu Beginn der vierten Woche hatten sie sich in Luft aufgelöst. Wir standen vor dem Nichts. Und das ist eine zutiefst vertraute Erfahrung für Flüchtlinge. Inzwischen meldeten sich nahezu täglich neue Schleuser, die ihre verzweifelten Kunden mit so fantasievollen wie unrealistischen Plänen lockten. Wir wurden Teil einer Flüchtlingskultur. Die festsitzenden Familien kamen sich näher, sie teilten das gleiche Schicksal und sie verfolgten auch das gleiche Ziel: Irgendwie aus Russland zu entkommen. Europa glich einer Festung, die keinen Eintritt für Menschen in Not kennt. Europa als Sinnbild für das kafkasche Gesetz. Der Eintritt in das Gesetz ist Flüchtlingen nicht gewährt. Vor dem Gesetz, „von Saal zu Saal“ lässt Kafka nämlich Türhüter stehen, „einer mächtiger als der andere“.

Nach dreizehn Monaten und vielen gescheiterten Versuchen vertrauten wir uns einer neuen Schleusergruppe an. Sie organisierte für uns gefälschte russische Pässe. Wir lernten unseren neuen Namen und unsere neuen Geburtstage. Die Familie wurde gesplittet. So gelangten wir endlich nach Deutschland.

Um ins Auffanglager für Asylbewerber zu gelangen, mussten die Flüchtlinge ihr Anliegen an der Pforte vortragen. „Ich bitte um Asyl“ war der erste Satz, den ich in Deutschland aussprach. Diese heruntergekommene Enklave, umzäunt und bewacht, entsprach nicht meiner Vorstellung von Europa. Wir hatten ein erhebendes Gefühl – endlich offiziell in Deutschland zu sein.

Das Asylverfahren nahm viel Zeit in Anspruch. Zunächst wurden die Flüchtlinge in ein Übergangs­lager gebracht. Ob sie abgeschoben, geduldet oder anerkannt wurden, bestimmte die weitere Reise. Die meisten Flüchtlinge wurden abgelehnt. Auch bei uns sollte es Monate dauern. Zunächst sollten wir warten, bis wir aus der Transferliste, die jeden Morgen aktualisiert und aufgehängt wurde, unseren nächsten Aufenthaltsort entnehmen konnten. Wir blieben für fünf Tage in diesem Lager, das wir nicht verlassen durften. Am sechsten Tag fuhren wir nach Darmstadt. Ich konnte nicht abwarten, endlich Deutschland zu sehen. Unser Bus, der nicht nur uns, sondern auch zwanzig andere Passagiere beförderte, erreichte endlich einen etwas verlassenen Ort in Darmstadt. Ich sah wieder eine Pforte, eine Enklave, eingezäunt und bewacht, und ein Containerlager. Jede Familie bekam einen Schlüssel mit einer Nummer und Coupons fürs Essen. Ohne zu zögern liefen wir zu unserem Zimmer. Unser neues Zuhause war ein vierzehn Quadratmeter großer Container. In der Containersiedlung am Kavalleriesand waren dreihundert Bewohner aus zwanzig Nationen untergebracht. Wir Flüchtlinge fühlten uns wie Helden. Wir hatten es schließlich geschafft. Die Flucht lag hinter uns. Dachten wir.

Allmählich spürten wir, dass unsere Einschätzung nicht zutreffend war. Wir hatten es gewiss geschafft, zu einer Gruppe von Uniform tragenden Menschen zu gehören, ohne Namen, ohne Ausweis, ohne Arbeit oder Ansehen, die eingekerkert in einem abgeschotteten Getto ihr Dasein mit Nichtstun fristeten. Unsere vierköpfige Familie fand also einen neuen Lebensraum in diesem Container. Viele Monate lang saßen, aßen und schliefen wir hier. Für unseren Lebensunterhalt erhielten wir 81 DM im Monat. Das Lager durften wir nur mit Erlaubnis verlassen, und ab 20 Uhr war Aus­gehverbot. Wir gewöhnten uns ans Lagerleben. Und wir waren empört.

Von Integration keine Rede


Inzwischen wurde auch unser Asylantrag abgelehnt. Wir nahmen uns einen Anwalt und legten Widerspruch ein. Das ist der übliche Weg, den Flüchtlinge in Deutschland kennen. Mit dem Bescheid mussten wir das Containerlager verlassen. Für das kommende halbe Jahr wurden wir von einem Flüchtlings­heim zum nächsten durchgereicht. Immerhin befanden sich die neuen Heime in Mehrfamilienhäusern, die die Stadt dafür vorsah. Unser Auf­enthalt in Deutschland wurde nur für eine kurze Zeit verlängert. Somit war es uns weder möglich, eine private Wohnung zu mieten noch konnten meine Eltern eine Arbeitsstelle annehmen. Um eine Wohnung zu mieten, mussten wir eine Aufenthaltsgenehmigung für mehr als drei Monate vorweisen; dasselbe galt auch für die Arbeit. Die Aufenthaltsgenehmigung konnte aber nur verlängern, wer Arbeit hatte. Diesen Zirkelschluss hätte man mit Humor nehmen können, wenn er nicht unser Leben betroffen hätte: Das Arbeitsamt verwies auf das Sozialamt und vice versa.

Wir blieben also ohne Wohnung und ohne Arbeit. Das nennt man wohl „Duldung“. Unser Asylantrag wurde vor Gericht immer wieder abgelehnt, über mehrere Instanzen hinweg. Mit einem solchen Verfahren sind Unsummen an Anwaltskosten verbunden. Nicht jeder Flüchtling kann das Geld aufbringen – und bleibt so auf der Strecke. Von Integration durfte in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Mehr als sechs Jahre haben wir gekämpft. „Anerkennung“ war das Ergebnis, Anerkennung als Asylbewerber. Es vergingen noch Jahre, ehe wir eingebürgert werden durften.

Heute bin ich deutscher Staatsbürger. Wenn ich ein Gedicht von Rainer Maria Rilke lese oder meine Studenten mit meinem Hegel quäle, vergesse ich zuweilen, dass ich weder blonde Haare noch blaue Augen habe. Europa scheint nicht denkbar zu sein ohne seine Flüchtlinge.

„Duldung“, „Ablehnung“ und „Abschiebung“ sind Urteile, die Menschen betreffen. Menschenrechtskonforme Flüchtlingspolitik fordert hingegen eine solidarische und allen voran umfassende Politik. Legale Einwanderungsprogramme dürften dabei an der ersten Stelle stehen; denn Trojanische Pferde haben ihren Preis. Europa wird an seinem eigenen demokratischen Maßstab scheitern, wenn nicht die Asylpolitik grundlegend verändert wird. Wenn aber die europäische Flüchtlingspolitik darin besteht, alles dafür zu tun, dass keine Flüchtlinge zu uns gelangen, dann wirken Eingriffe wie etwa eine bessere Seenotrettung nicht fortschrittlich, sondern höhnisch. Der deutsche Philosoph Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor den Nazis 1940 das Leben nahm, sagte einmal: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“

 

Ahmad Milad Karimi (*1979 in Kabul) ist Islamwissenschaftler und Philosoph am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster. Er leitet den Kalam Verlag für islamische Theologie und Religionspädagogik. Zuletzt erschienen: „Osama bin Laden schläft bei den Fischen – Warum ich gerne Muslim bin und wieso Marlon Brando viel damit zu tun hat“ im Herder-Verlag. Freiburg, Oktober 2013, 200 Seiten, 17,99.

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