- „Ich bin ein Ordnungskasper“
Zu Besuch bei Sibylle Lewitscharoff: Sie bastelt an Wortwahnsystemen und spricht über bulgarische Stalin-Bauten oder trotzkistisches Schwarz-Weiß – und Hans Blumenberg, den Helden ihres jüngsten Romans
Gleich links gebe es ein Aufzügle, empfiehlt die Schriftstellerin durch die Sprechanlage des Gründerzeitbaus, man müsse nur die Türen von innen zuhalten, damit es nicht steckenbleibt. Auf der vierten Etage wartet Sibylle Lewitscharoff. Am äußersten Ende eines weit verzweigten Literatur- und Kunstlabyrinths liegt ihr Arbeitszimmer. Der erste Eindruck: überbordende Aufgeräumtheit; eine Fülle von Prachtbänden und Papierobjekten mit winzigen Schriftverzierungen.
Literaturen: Frau Lewitscharoff, Sie sind eine literarische Extremtüftlerin mit starken schwäbischen und auch bulgarischen Wurzeln. In Ihrem Roman «Apostoloff» haben Sie den bulgarischen Part Ihrer Biografie in eine hochtourige Kampf-Litanei übersetzt. Eine Ich-Erzählerin wütet da gegen den bulgarischen Vater, der sich Mitte der sechziger Jahre umgebracht hat, während sie durch das heutige, postsozialistische Bulgarien fährt und alles, was ihr unter die Augen kommt, mit Hohn überzieht. Wie stark ist Bulgarien, auch jenseits von «Apostoloff», in Ihrem Schreiben und Leben?
Sibylle Lewitscharoff: In meiner Kindheit und Jugend hatte das natürlich enormen Einfluss. Mein Vater war rein äußerlich sichtbar ein Ausländer; als Akademiker mit einer gut gehenden Arztpraxis hatte er es zwar nicht schwer im Schwabenland, aber er fiel natürlich auf, schon allein durch eine andere Gebärdensprache. Das Schwierige für ihn daran war, dass er keinen realistischen Konnex zu seiner Heimat bewahren konnte, Bulgarien war das verbarrikadierte Land hinter dem Eisernen Vorhang, in das er nicht zurück durfte.
Da mein Vater nie Bulgarisch mit uns sprach – und ich dagegen sehr schwäbisch sozialisiert bin mit einer frommen Großmutter, die größten Einfluss auf mich hatte –, war es für mich als Kind immer bestürzend, wenn seine Landsleute zu Besuch kamen. Entsetzlich, ich erkannte den eigenen Vater nicht mehr! Das blieb ein exotischer Bulgarenverein: Plötzlich hocken da vier Schwarzhaarige auf dem Sofa und reden in einer wildfremden Sprache – sogar der Dackel stellt die Bürste und knurrt, weil er seinen Herrn nicht mehr erkennt. Das klingt lustig, hatte aber für ihn etwas Peinsames. Und das Bulgarien meiner Kindheit? Ich war als Kind zweimal dort; Freunden mitgegeben, die einreisen konnten. Der Großvater war mir sofort sympathisch; aber die Wohnsilos fand ich abscheulich. Das war so ein übler, halb abgewirtschafteter Stalinbau; und ich hatte als Kind ein Gefühl dafür, dass das irgendwie furchtbar ist.
Ende der Sechziger waren Sie Mitglied eines trotzkistischen Grüppchens. Sie haben als 15-Jährige Marx gelesen, und wenn Ihre Mutter beruflich unterwegs war, trafen sich bis zu zwanzig Trotzkisten in Ihrem Haus in Stuttgart-Degerloch. Wie haben Sie als Jugendliche den Ost-Komplex wahrgenommen, den Sie als Kind ja in der bulgarischen Ausformung gesehen hatten?
Weil Trotzki ein Opfer Stalins war, haben wir Trotzkisten uns eingebildet, mit Trotzki wäre der Kommunismus vollkommen anders geworden. Der Kommunismus östlicher Prägung war für uns immer ganz klar eine Diktatur, die nicht wirklich interessierte; man las die Franzosen und sah italienische Filme. Auch die DKP war für uns immer bloß ein kleinbürgerlicher Schnarchsackverein übelster Prägung.
Im Vordergrund stand für uns etwas anderes: Das Hühnchen, das wir rupfen wollten, war der Faschismus. Hier kommt auch die Herkunft meines Vaters wieder ins Spiel: Die idiotische Schwarzweißmalerei der Zeit kannte nur deutsche Faschisten und Nichtfaschisten, Mischformen gab es für uns nicht. In dieser hochgradig ideologischen Zeit war ich glücklich darüber, nicht zu den deutschen Faschisten zu zählen. Ich hatte einen fremden Namen, und mein Vater war auch wirklich kein Faschist gewesen. Insofern war ich auf das väterliche Erbe schon stolz.
Wie haben Sie Ihre trotzkistische Phase abgeschlossen? 1972 machten Sie Ihr Abitur und zogen bald darauf nach Berlin, dort studierten Sie Religionswissenschaften an der FU. Das hätte vermutlich nicht so gut in eine trotzkistische Vita gepasst.
Allmählich wuchs mein Widerstand gegen die rigiden Anforderungen, die solche skurrilen Gruppen stellten. Es war allen Ernstes geplant, dass ich Betriebswirtschaft in Mannheim studieren sollte! Allein Mannheim, eine grässliche Vorstellung. Selbst bei den Trotzkisten, von denen man vielleicht denkt, die seien anders gewesen, herrschte diktatorisches Kader-Denken. Gekippt ist mein Verhältnis zu der Gruppe indirekt auch durch meine literarischen Interessen. Ich habe schon mit dreizehn, vierzehn gern Thomas Mann gelesen. Ich war eine Lesebiene und bin mit Werken in Berührung gekommen, die von den Linken eher mit spitzen Fingerle angefasst wurden.
Zu den Religionswissenschaften kam ich eher zufällig, ich hatte mich für Kunstgeschichte und Geschichte eingeschrieben und fand beides enttäuschend. Dann bin ich in eine Vorlesung des Religionsphilosophen Klaus Heinrich geraten und war vollkommen perplex und begeistert. Religionswissenschaften! Das hatte ja nichts mit Theologie zu tun, und trotzdem war es durchaus ein Schritt, um wieder in diese Nähe zu geraten. Ich hatte nie ganz vergessen, dass ich ein sehr frommes Kind war, das spielt in meiner Sozialisation eine erhebliche Rolle. Das hatte ich zwar abgetan, ich bin aber nie aus der Kirche ausgetreten. Ich habe mich damals natürlich nicht als religiös verstanden, aber ich kann mir vorstellen, dass das meine Entscheidung für dieses Studium heimlich mit beeinflusst hat.
In den Achtzigern und Neunzigern haben Sie als Buchhalterin gearbeitet, Hörspiele veröffentlicht und Ausstellungen organisiert. Das war eine relativ lange Zeit, bis Sie 1998 mit einem Auszug aus Ihrem Debütroman «Pong» den Bachmann-Preis gewannen. Wie haben Sie diese Durststrecke durchgehalten?
Ich habe immer schon sehr viel geschrieben, aber das taugte alles nichts, das war mir vollkommen klar. Ich war durchaus traurig darüber, dass es nicht klappte. Allmählich schlich sich schon ein bitterer Zug ein, ich befürchtete, mich zu verzetteln. Um die Buchhaltung war ich allerdings gottfroh, weil das eine Arbeit ist, die einen überhaupt nicht belastet, kein Hexenwerk – ähnlich wie akkurates Blusenbügeln. Ich bin ein Ordnungskasper und freue mich darüber, wenn etwas fertig ist, und man nicht weiter darüber nachdenken muss. In dieser Zeit habe ich mir intensiv literarische Techniken beigebracht, ich habe zum Beispiel eine Erzählung von Franz Kafka grammatikalisch bis in die Satzzeichen hinein analysiert und einen eigenen Text haargenau in diesem Schema formuliert. Um mal die Grammatik eines unerreichten Meisters zu begreifen.
Zum Durchbruch mit «Pong» kam es unter anderem durch eine Lebenssituation, die das Schreiben radikal verändert oder verbessert hat. Ich hatte eine schwere Krankheit, und einige Tage geriet ich durch Schlafentzug in ein starkes Halluzinations-Abenteuer hinein. Ein schönes Wahnsystem. Nicht gefährlich lange, es flackerte, dann ging die Krankheit zurück. Aber ich war eine Zeit lang in einer bedrohlichen anderen Welt befangen – und wurde sofort wieder sehr fromm, wie mit vier oder fünf. Ein bisschen Bedrohung, und ich falte die Händchen und fliege nach oben. Durch die Krankheit hat sich vieles verändert, ich wurde liebenswürdiger, verträglicher und konnte besser schreiben. Diese Lebensschneise hat bewirkt, dass das Schreiben ein anderes Fundament bekam. Ein paar Monate später schon schrieb ich «Pong», das ist eigentlich der Roman, der am autobiografischsten ist.
Man könnte Sie eine Anti-Authentikerin nennen, Ihre Romane sind alle das Gegenteil von Betroffenheits- oder Befindlichkeitsprosa. «Pong» zum Beispiel ist das ästhetisierte Zwangssystem eines Verrückten. Haben alle Ihre Bücher gleichzeitig einen Enterhaken ins wahre Leben?
Das eigene Leben ist das Fleisch in der Suppe. Daran führt kein Weg vorbei, bei jedem Schriftsteller, wobei vollkommen wurscht ist, was er schreibt. Bei den Metaphern, die Sie benützen, müssen die seelischen Spannungen und Kräfte, die da wirken, noch fühlbar sein, sonst bleibt das ein ästhetisches l’art pour l’art. Der Mensch, der nichts von der existentiellen Erfahrung dahinter weiß, soll dennoch gepackt sein.
Was hat der Philosoph Hans Blumenberg existentiell mit Ihnen zu tun? In Ihrem gerade erschienenen Roman «Blumenberg» schicken Sie ihm einen Löwen – ein Wunder, eine Auszeichnung, von wem auch immer. Blumenberg fühlt sich geschmeichelt, aber er weiß nicht so recht, wie er das Wunder nehmen soll; das bleibt auch im Roman in der Schwebe.
Blumenberg habe ich früh gelesen und nicht verstanden, aber er hat mich mit den Jahrzehnten nicht losgelassen. An ihm ist so spannend, dass er sich nicht ganz entscheidet: Er schätzt die Errungenschaften der Moderne, bilanziert als Melancholiker aber auch ihre Verluste. In der modernen Welt mit ihrer Verpflichtung auf den Realitätssinn kommt das Wunder nicht mehr vor, und wo alle Illusionen fahren gelassen werden, beginnt die Frage der Trostunfähigkeit. Blumenberg war ein Agnostiker, wenn auch einer mit einem flirrenden Rand. Er war der einzige der modernen Philosophen, der sich rasend gut in der Theologie auskannte. Man kennt sich ja nicht einfach nur so gut aus – das bringt einen in die Nähe dessen, worin man sich auskennt. Das kann man nicht ganz kalt abwirtschaften.
Im Roman ist Blumenberg von vier Studenten umgeben, deren Lebensläufe zusammen so etwas wie eine bundesrepublikanische Mentalitätsgeschichte ergeben. Eine Exzentrikerin, ein guter Junge, ein Halbverrückter und ein Haderer. Letzterer reist durch Südamerika und verabschiedet sich allmählich vom moralischen Rigorismus seiner Generation. Und über Blumenberg heißt es, dass ihm die «Selbstgerechtigkeitswogen» vieler Studenten unerträglich waren. Auch eine existentielle Erfahrung, der Rückblick auf die harten Fronten der sechziger und siebziger Jahre?
Ich war ja selbst ein Schwarzweißmaler. Heute bin ich es nicht mehr so sehr, auch wenn der innere Manichäer durchaus noch existiert. Wenn ich das sogenannte Faschistoide rieche, verhärtet sich in mir alles, und ich werde zum Terrier. Durch Blumenberg – der eine wirkliche Leidensgeschichte im Dritten Reich hatte, der aber auch von dem einen oder anderen Deutschen Gutes erfuhr, von den Jesuiten etwa oder dem Fabrikanten Dräger in Lübeck – habe ich verstanden, dass die Geschichten so einfach nicht sind. Dass es komplizierter ist, als ich mir den Faschismus und die Diktatur vorgestellt habe. Blumenberg hat sich darüber geärgert, dass die Studenten ihre Urteile mit der Guillotine gefällt haben.
Aber es war doch nicht alles schlecht?
Selbstverständlich. Wenn die Achtundsechziger so blank angegriffen werden, bin ich sofort auf deren Seite. Ich war ja in ihrer Jugendtruppe und verdanke ihnen viel. Aber man darf sie nicht romantisieren. Bei Rolf-Dieter Brinkmanns «Rom, Blicke» geht mir zum Beispiel heute noch das Hütchen hoch. Wie er mit Wehrmachtsstiefeln durch Rom geht und die Leute beiseite- spritzen sollen, wie er die Italiener verachtet, alles entsetzlich. Da werden lauter SS-Mythologeme aufgerührt und nachgelebt.
Um auf Blumenberg und seinen Löwen zurückzukommen: Der ist ein «Zuversichtsgenerator» und Trostspender, der Blumenberg selbst auch milder macht. Im Roman tauchen noch mehr Tiere auf, Panther und sogar Rebhühner, die mit Fell und Federn das mentale Raster der Hauptfiguren durcheinanderbringen. Tiere haben eigentlich in allen Ihren Büchern wichtige Gaststar-Auftritte.
Ich empfinde eine geradezu kreatürliche Heiterkeit in der Nähe von Tieren; das hat auch damit zu tun, dass sie einen von sich selbst wegführen. Tiere erheitern mich zutiefst. Außer Wespen, das sind fliegende Nazis.
Das Interview führte Jutta Person
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